„Wir brauchen die UN mehr denn je“
Über Kritik und Konflikte, die Rolle der USA und Deutschlands Möglichkeiten – 75 Jahre nach Gründung der Vereinten Nationen.
IP: Mitten in der Coronavirus-Krise feiern die Vereinten Nationen 75. Geburtstag. Dabei scheitert die internationale Gemeinschaft gerade daran, die Pandemie durch weltweit abgestimmte Maßnahmen in den Griff zu bekommen. Haben sich die UN überlebt?
Heiko Maas: Im Gegenteil, wir brauchen die Vereinten Nationen heute mehr denn je. Gerade die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass wir globale Herausforderungen nicht auf nationaler oder regionaler Ebene bewältigen können. Staaten können ihre Grenzen schließen und den internationalen Reiseverkehr einschränken, um die Ausbreitung einer Pandemie zu verlangsamen. Aber um sie nachhaltig einzudämmen, brauchen wir multilaterale Zusammenarbeit, etwa beim weltweiten Datenaustausch oder bei solidarischen Mechanismen zur Verteilung von Impfstoffen. Die Weltgesundheitsorganisation ist der richtige Ort für internationale Koordination in diesen Fragen. Daher sollten wir die WHO stärken und ihre Verfahren zum Umgang mit Gesundheitskrisen stetig weiterentwickeln, um für künftige Herausforderungen noch besser gewappnet zu sein.
Der Sicherheitsrat der UN ist zudem das einzige Forum mit einem weltweiten Mandat, um auf die sicherheitspolitischen Folgen der Covid-19-Pandemie zu reagieren. Daher haben wir im Rahmen unserer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat auch den Zusammenhang von Pandemien und Sicherheit auf die Agenda gesetzt. Ich bin erleichtert, dass der Sicherheitsrat endlich seine Stimme gefunden und wie zuvor bereits UN-Generalsekretär Guterres einen weltweiten Waffenstillstand gefordert hat. Die quälend langen Verhandlungen auf dem Weg dahin zeigen aber auch, dass der Sicherheitsrat bei wichtigen Fragen zu oft blockiert ist oder nicht schnell genug reagiert. Das ist gerade bei so drängenden Entscheidungen nicht hinnehmbar.
Wenn Sie auf die Geschichte der UN zurückblicken: Worin, denken Sie, bestanden ihre bislang größten Erfolge, und an welchen Punkten sind sie gescheitert?
Für mich ist die Gründung der Vereinten Nationen 1945 eine beispiellose Errungenschaft. Wir haben uns vielleicht in den vergangenen 75 Jahren zu sehr daran gewöhnt, dass es eine solche Institution gibt, um diesen historischen Einschnitt angemessen zu würdigen. Immerhin haben sich die Staaten damals, nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, zum ersten Mal in der Geschichte den Regeln und Entscheidungen einer internationalen Instanz unterworfen.
Und von seinen Vollmachten zur „Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens“, wie es in der UN-Charta heißt, hat der Sicherheitsrat auch Gebrauch gemacht. Die Peacekeeping- und Beobachtermissionen der Vereinten Nationen etwa im Nahen Osten, in Mali oder im Sudan sichern nicht nur den Frieden, sondern sorgen auch für die Einhaltung der Menschenrechte und bessere Bedingungen für humanitäre Hilfe und begleiten demokratischen Wandel.
Verstehen Sie auch Kritik an den UN?
Ja, auch wenn die Vereinten Nationen viele Konflikte verhindert oder eingedämmt haben. Wenn aber etwa in Syrien nach fast zehn Jahren Krieg das Leiden der Bevölkerung immer noch weiter geht und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, müssen wir uns fragen, wo wir die Handlungsfähigkeit der UN erhöhen und ihre Institutionen stärken können. Hier sind aber in erster Linie die Staaten in der Pflicht. Denn es sind ja nicht die Vereinten Nationen, die den Konflikt am Leben halten und Verbrecher schützen. Was wir in Syrien erleben, ist ein Kampf um Macht und Einfluss in der Region ohne Rücksicht auf die Leiden der Menschen und ohne Respekt für internationales Recht oder die Friedensbemühungen der Vereinten Nationen. Das muss aufhören. Für den Syrien-Konflikt kann es nur eine politische Lösung geben. Dabei müssen wir die UN unterstützen, indem wir Verantwortliche benennen und Druck auf die Konfliktparteien ausüben.
Aber die Vereinten Nationen haben unsere Welt in den vergangenen 75 Jahren nicht nur sicherer und friedlicher, sondern auch gerechter und lebenswerter gemacht. Ich denke hier an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Agenda 2030 mit ihren Nachhaltigkeitszielen, die Fortentwicklung des Völkerrechts oder den globalen Schutz von Klima und Umwelt. Mit ihren Organen und Unterorganisationen sind die UN Tag für Tag überall in der Welt zur Stelle, um den Menschen ganz konkret zu helfen: seien es die WHO bei der Bekämpfung der Kinderlähmung in Pakistan, das Kinderhilfswerk UNICEF in Syrien, das Flüchtlingskommissariat UNHCR in Flüchtlingscamps im Kongo oder die UNESCO im Einsatz für unser gemeinsames Weltkulturerbe. Es gibt keine Alternative zu den Vereinten Nationen.
Die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, insbesondere China und Russland, legen immer öfter ihre Vetos ein, das Gremium ist blockiert und scheidet als „Weltregierung“ aus. Was können die UN heute noch erreichen?
Es stimmt, der Sicherheitsrat wird seiner Verantwortung als Bewahrer von Frieden und Sicherheit oft nicht gerecht. Am eklatantesten ist dieses Versagen derzeit wohl im Falle des Krieges in Syrien. Im Sicherheitsrat ist es zuletzt schon schwierig geworden, auch nur eine Einigung auf das menschliche Minimum wie die Offenhaltung von Versorgungskorridoren für die notleidende Bevölkerung zu erreichen. Nur mit äußersten Anstrengungen haben wir kürzlich eine Einigung auf einen einzigen verbleibenden Zugang über die Grenze für die nächsten zwölf Monate erzielt, weil Russland und China zuvor mehrfach Kompromissvorschläge mit ihrem Veto blockiert haben. Das ist natürlich zynisch.
Aber die Konsequenz aus dieser Blockade muss doch sein, die Vetomächte im Sicherheitsrat immer wieder an ihre Verantwortung zu erinnern und Koalitionen derjenigen Staaten zu bilden, die sich wie wir für starke und handlungsfähige Vereinte Nationen einsetzen wollen. Dafür haben wir im vergangenen Jahr die Allianz für den Multilateralismus ins Leben gerufen, und der Zuspruch zeigt: Die Solisten und Blockierer sind keineswegs in der Mehrheit. Diesen Schwung müssen wir auch wieder in die Vereinten Nationen selbst tragen, um dort Blockaden aufzulösen und die Weltorganisation für neue Herausforderungen fit zu machen.
Unter Präsident Trump haben sich die USA noch weiter von den UN entfernt; Trump hat das Pariser Klimaschutzabkommen aufgekündigt, auch die WHO wollen die Amerikaner verlassen. Wie erklären Sie sich die US-Gegnerschaft gegenüber den UN, die ja nicht erst seit Trump besteht?
Wir beobachten in der Geschichte der US-Außenpolitik einen Wechsel von starkem internationalen Engagement hin zu isolationistischen Tendenzen und wieder zurück. Und wir sollten nicht vergessen, dass die USA maßgeblich an der Gründung der Vereinten Nationen und der übrigen Institutionen beteiligt waren, die heute noch die Pfeiler unserer multilateralen Weltordnung bilden. Die Politik der aktuellen US-Regierung, sich aus internationalen Abkommen zurückzuziehen und die Finanzierung von UN-Organisationen wie der WHO infrage zu stellen, ist ja auch in den USA selbst nicht unumstritten. Wir müssen uns aber darauf einstellen, dass wir als Deutsche und Europäer in Zukunft mehr Verantwortung für den Erhalt der internationalen Strukturen übernehmen müssen, von denen wir in den vergangenen Jahrzehnten so sehr profitiert haben. Gegenüber den USA selbst müssen wir mehr, als wir es bisher gewohnt sind, dafür werben, dass auch für eine Großmacht Zusammenarbeit auf der Grundlage gemeinsamer Regeln langfristig vorteilhaft ist. Und wir müssen unsere Koalitionen mit denjenigen stärken, die diese Meinung weiterhin teilen, so wie wir das etwa beim Klimaschutz mit einzelnen Bundesstaaten, Kommunen oder der Zivilgesellschaft in den USA bereits tun.
Wie steht es Ihrer Meinung nach um die Glaubwürdigkeit der UN, wenn beispielsweise im UN-Menschenrechtsrat die größten Menschenrechtsverletzer sitzen?
Die Vereinten Nationen sind vor 75 Jahren als Organisation gegründet worden, in der möglichst alle Staaten der Welt Sitz und Stimme haben. Der stetige Dialog, auch mit Ländern und Regierungen, deren Politik wir ablehnen, ist die Bedingung dafür, dass so eine Organisation funktioniert. Die Alternative wäre doch, Ländern mit einer fragwürdigen Bilanz etwa im Bereich Menschenrechte den Platz am Tisch zu verweigern. Aber würde das diese Länder eher zu einem Umdenken bewegen? Ich habe da meine Zweifel. Diplomatie heißt, gerade auch mit den Regierungen dieser Welt zu sprechen, die unsere Werte nicht teilen, und die Gremien der Vereinten Nationen zu nutzen, um Missstände anzuprangern und Verantwortliche zu benennen. Unglaubwürdig würden die Vereinten Nationen, wenn sie am Ende nur ein Club von Gleichgesinnten wären und sich nicht mehr der mühseligen Arbeit stellten, jeden Tag um Verbesserungen für die Menschen in der Welt zu ringen.
Welche Prioritäten sehen Sie für die UN in den kommenden Jahren? Lassen sich die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 in einer Welt erreichen, die immer stärker von der Rivalität großer Mächte bestimmt wird und in der ein Nullsummendenken vorherrscht?
Höchste Priorität hat für die nächste Zeit die Eindämmung der Covid-19-Pandemie. Denn die Pandemie verschärft bestehende Ungleichheiten, belastet die ohnehin bereits marginalisierten Bevölkerungsgruppen und kann zum Brandbeschleuniger für Konflikte werden. Deshalb brauchen wir gerade jetzt mehr Engagement für das Ziel, eine gerechtere Welt und gleiche Entwicklungschancen für alle zu schaffen. Die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen sind und bleiben dabei die Richtschnur und der Maßstab unseres Handelns. Dabei stehen der Kampf gegen die Folgen der menschengemachten Erderwärmung und die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens neben der Covid-19-Bekämpfung ganz oben auf der Agenda.
Wie zuversichtlich sind Sie da?
Wir müssen uns verstärkt damit auseinandersetzen, dass nicht alle Länder unsere Bedenken und Lösungsansätze teilen. Umso wichtiger ist es, dass Europa hier mit gutem Beispiel vorangeht. Mit dem European Green Deal können wir zu einem Leuchtturm werden und zeigen, dass ökologische Nachhaltigkeit und wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit Hand in Hand gehen können. Ich bin überzeugt, andere Länder werden sich dann anschließen und mitmachen. Die Folgen des Klimawandels sind ja heute schon für viele Staaten spürbar und beeinträchtigen bereits die Stabilität ganzer Länder und Regionen. Wir müssen daher auch deutlich machen, dass Klimaschutz nicht nur eine ökologische und wirtschaftliche Frage ist, sondern auch die Sicherheitsinteressen aller Länder betrifft. Daher haben wir die Auswirkungen des Klimawandels für die internationale Sicherheit fest in der Agenda des UN-Sicherheitsrats verankert. Die Bedrohung durch Klimakonflikte muss zu einem selbstverständlichen Bestandteil des Begriffs von Sicherheit in den Vereinten Nationen werden, damit wir Gefahren frühzeitig erkennen und Konflikte entschärfen können.
Welche Rolle und Verantwortung kommt Deutschland in den UN zu?
Unser Engagement hat sich in den letzten Jahren fast exponentiell entwickelt. Bei der humanitären Hilfe sind wir nun zweitgrößter bilateraler Geber nach den USA. Wir engagieren uns an vorderster Front für die Lösung von Konflikten, etwa bei der Suche nach einer Friedenslösung für Libyen, und sind aktuell an sieben UN-Peacekeepingmissionen und zwei politischen Missionen beteiligt – oft mit dringend benötigten Fähigkeiten. Dass wir mit so großer, weltweiter Unterstützung in den Sicherheitsrat gewählt wurden, hat auch damit zu tun. Wir genießen bei vielen Ländern und in vielen Gremien und Organisationen der UN viel Vertrauen.
Dieses Kapital nutzen wir, um für eine Stärkung der UN und der multilateralen Ordnung insgesamt zu arbeiten. Dafür steht unsere aktuelle Mitgliedschaft im Sicherheitsrat. Wir übernehmen dort Verantwortung. Wir wollen dafür sorgen, dass die Vereinten Nationen das zentrale Forum bleiben, um gemeinsame Lösungen für die drängenden Fragen unserer Zeit zu entwickeln. Dies spiegelt sich auch in den Themen wider, die wir uns während unserer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat vorgenommen haben: Lösungen für Konflikte wie in Syrien und Libyen, aber auch in Afghanistan, im Sudan oder im Jemen, die Bedeutung von Frauen für Frieden und Sicherheit, Abrüstung und Nichtverbreitung, Menschenrechte, Klima und Sicherheit sowie die Stärkung des humanitären Völkerrechts.
Sehen Sie eine Perspektive für einen ständigen Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat? Wäre es nicht Zeit für einen gemeinsamen deutsch-französischen oder einen EU-Sitz?
Die Zusammensetzung des Sicherheitsrats spiegelt die politische Situation vor 75 Jahren. Als die UN gegründet wurden, hatten sie 51 Mitglieder, heute sind es fast vier Mal so viele. Ein großer Teil der heutigen Mitgliedstaaten war damals in kolonialer Abhängigkeit, es gab kein vereintes Europa, nur wenige sahen den wirtschaftlichen Aufschwung Asiens voraus. Diese und andere Veränderungen müssen in Verfahren und Strukturen der UN zeitgemäß abgebildet werden, um sie arbeitsfähig zu erhalten und ihre Legitimität zu bewahren. Das gilt letztlich auch für die Zusammensetzung des Sicherheitsrats. Daher fordert die weit überwiegende Mehrzahl der UN-Staaten seit Jahren, die Repräsentativität des Sicherheitsrats zu stärken, etwa über eine Erhöhung der Zahl sowohl der ständigen als auch der nichtständigen Mitglieder.
Bis wir eine umfassende Reform erreichen, ist es umso wichtiger, dass die EU in den UN geschlossen auftritt und ihr tatsächliches Gewicht in allen Gremien zur Geltung bringt. Dafür stimmen wir uns in New York bereits heute eng mit unseren europäischen Partnern ab. Zusammen mit Frankreich haben wir auch das Modell des gemeinsamen Vorsitzes im Sicherheitsrat eingeführt, eine Premiere, aber auch ein Beispiel dafür, wie wir mit Kreativität und Engagement die Arbeitsweisen der UN weiterentwickeln können.
Sie haben sich auch sehr persönlich immer wieder für den Multilateralismus eingesetzt. Was treibt Sie dabei an?
Das Bekenntnis zu multilateralen Regeln und Verfahren ist seit ihrer Gründung das außenpolitische Fundament der Bundesrepublik. Es fußt auf den Lehren, die wir als Verantwortliche für den Zweiten Weltkrieg und die unfassbaren Verbrechen, die damals von Deutschen begangen wurden, gezogen haben: Dass wir das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts ersetzen müssen, dass der Schutz der Menschenrechte eine Verantwortung der gesamten Weltgemeinschaft ist, dass Offenheit auf der Grundlage gemeinsamer Regeln – und nicht Abschottung und Egoismus – Wohlstand fördert und Konflikte verhindert.
Für mich, der ich im Saarland aufgewachsen bin, waren diese Einsichten niemals nur abstrakte Lehrsätze, sondern stets gelebte Realität. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, dass das Saarland bis 1956 eines der umstrittensten Gebiete in Europa war. Dieser Zustand ist erst dank der Annäherung und Aussöhnung mit Frankreich nach 1945 beendet worden, eine Entwicklung, die mich heute noch unendlich dankbar macht. Es ist daher kein Zufall, dass heute gerade Frankreich und Deutschland treibende Kräfte für den Erhalt der multilateralen Ordnung sind.
Die Fragen stellte die IP-Redaktion.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2020, S. 60-65