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24. Sep 2012

Wider die Abschaffung unserer Verfassung

Nicht der Bundestag gefährdet Recht und Freiheit

Andreas Schockenhoff und Roderich Kiesewetter haben ihre in den Deutschen Bundestag eingebrachte Initiative zur Europäischen Verteidigungspolitik nun auch einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Sie steht in eklatantem Widerspruch zu geltendem Verfassungsrecht, geübter Verfassungspraxis und ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Eine Replik.

Mit ihren Anregungen zur Europäischen Verteidigungspolitik in einem Beitrag für die IP machen sich Andreas Schockenhoff und Roderich Kiesewetter eine nicht erst seit dem vergangenen NATO-Gipfel bekannte Anliegen von Alliierten zu eigen. Im Kern geht es dabei um die Entmündigung des Deutschen Bundestags.

Dabei hat der Parlamentsvorbehalt hat bislang in keinem Fall zeitgerechtes und zweckmäßiges Handeln Deutschlands be- oder verhindert. Ganz im Gegenteil besteht Einigkeit, dass die sorgfältige und überzeugende Prüfung von Legitimität, Legalität, Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit von Krieg und Kriegführung eine wesentliche Voraussetzung für sinnvolles Handeln der eingesetzten Soldaten und den notwendigen Rückhalt in der Bürgerschaft ist. Damit sind nur zwei, jedoch wesentliche Dimensionen herausgegriffen. Hier kann der Beweggrund für die Initiative also nicht liegen. Er kann auch nicht in der sicherheitspolitischen Lagebeurteilung liegen, denn der apokalyptische Ton vermag nicht über die mangelnde Stringenz der Folgerungen hinwegtäuschen. Sind europäische Streitkräfte das Mittel der Wahl, um mit Brasilien, Russland, Indien und der Volksrepublik China politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich mithalten zu können?

Die Abschaffung des Parlamentsvorbehalts ist für die Initiative denn auch nur der erste Schritt. Deutschland solle sich künftig darauf beschränken, Truppen für voll integrierte europäische Streitkräfte bereitzustellen, wird gefordert. Über den Einsatz sollten EU- oder NATO-Rat entscheiden. „Deutsche Soldaten könnten damit in einen EU-Einsatz gehen, den die deutsche Regierung und der Deutsche Bundestag allein aus eigener Initiative nicht beschlossen hätten.“ Erst in diesem Kontext wird erkennbar, wie eigentümlich weltfremd das dem Parlament angebotene „Rückholrecht“ ist. Dass das Parlament während eines laufenden Krieges anordnet, einzelne deutsche Soldaten und Truppenteile aus voll integrierten Strukturen herauszuholen, damit Soldaten verbündeter Armeen unmittelbar gefährdet und letztlich den Verbündeten die Fortsetzung des Krieges unmöglich macht, hätte so gravierende Auswirkungen, dass der Deutsche Bundestag unter keinen denkbaren Umständen dazu bereit sein könnte.

Bei näherem Hinsehen geht es den Initianten also um nichts weniger als um die Abschaffung der deutschen Verfassung, die unsere Souveränität – also das Recht, über unser Schicksal selbst zu bestimmen – zugleich kodifiziert und überhaupt erst konkret macht. Bevor das geschieht, sollten wir uns genau anschauen, was wir da aufgeben sollen.

Friedensgebot, Verbot des Angriffskriegs, Gebot der Verteidigung und Möglichkeit zur Mitwirkung in internationalen Organisationen – das sind die vier Bestimmungsgrößen, die die deutschen Verfassungsorgane – Bundesregierung, Bundestag und Bundesverfassungsgericht – in dieser Frage binden. Deutschland ist damit nicht das Recht verwehrt, Krieg zu führen. Die Entscheidung der verantwortlichen Verfassungsorgane ist aber an strenge Voraussetzungen gebunden.

Die Initianten rekurrieren lediglich auf die Erlaubnis unserer Verfassung, in internationalen Organisationen mitzuwirken. Indem sie diese als einzige Bestimmungsgröße erwähnen, begründen sie scheinbar die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit ihrer Forderungen und legitimieren vordergründig deren verfassungspolitische Notwendigkeit. Das jedoch ist nicht redlich. Friedensgebot, Verbot des Angriffskriegs und Gebot der Verteidigung sind nicht fakultativ, sondern zwingend.

"Soldaten für den Frieden"

In diesem Rahmen balanciert der Parlamentsvorbehalt vier weitere Bestimmungsgrößen erfolgreicher Führung von Kriegen aus. Vier wechselseitig aufeinander einwirkende Verhältnisse sind auszugleichen: das Verhältnis zwischen politischer Führung und Bürgerschaft, das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und internationalen Organisationen, das Verhältnis zwischen Parlament und Exekutive und viertens das Verhältnis zwischen staatlichem Gewaltmonopol und privatisierter Gewalt.

Die Verfassung konkretisiert politisch-moralische Grundentscheidungen für bestimmte Werte. Der Parlamentsvorbehalt treibt die Konkretisierung des politisch-moralischen Bezugsrahmens hinsichtlich des Einsatzes der Bundeswehr in bewaffneten Konflikten einen Schritt weiter. Daran schließt sich die Konzeption Innere Führung als nächste Stufe an. Die vom Deutschen Bundestag erst jüngst erneut als verbindlich bestätigte Konzeption Innere Führung übersetzt die Verfassung in Grundsätze für die Führung der und in der Bundeswehr. „Soldat für den Frieden“ fasst den Anspruch an die Führung der Bundeswehr griffig zusammen. Die Führung in der Bundeswehr steht unter der Überschrift „Staatsbürger in Uniform“. Die schrittweise Konkretisierung holt Werte aus der Sphäre des Rhetorischen in den politischen und letztlich militärischen Alltag, in dem konfligierende Interessen im Rahmen gemeinsamer Überzeugungen und nach für alle verbindlichen Regeln ausgeglichen werden müssen.

Damit sind fundamentale Unterschiede zu den sicherheitspolitischen Kulturen Frankreichs, Großbritanniens und der USA umrissen. Dort wird wie im 19. Jahrhundert noch heute schlicht über Krieg und Frieden entschieden. Die souveräne Machtvollkommenheit des französischen Staatspräsidenten illustriert nichts besser als Sarkozys einsame Entscheidung, Frankreich auf das Telefonat mit einem Philosophen hin in einen Krieg zu führen. Das Spektakuläre mag berauschen – der Blick auf die Kosten wird rasch ernüchtern.

Verfassung, Parlamentsvorbehalt und Konzeption Innere Führung bieten einen guten Rahmen, um vernünftig diskutieren zu können, ob ein bestimmter Krieg nach unseren Maßstäben notwendig ist, um ihn dann ggf. zweckmäßig – also: mit Blick auf die angestrebte Friedensordnung – zu führen. Diesen Rahmen haben nicht wir geschaffen. Es waren unsere Eltern und Großeltern, die politische Erfahrung in Recht umgesetzt haben. Sie haben dabei jene Balance jenseits von dezisionistischer Willkür und präskriptiver Kontrollwut gefunden, die Recht wahrt, Freiheit ermöglicht und Verantwortung überträgt. Das ist kein Grund zu Hochmut gegenüber Anderen. Es ist jedoch auch kein Grund, sein Eigen-Sein und Anders-Sein gering zu schätzen.

Oberst i.G. Dr. THOMAS WILL ist Deputy Political Advisor beim Allied Joint Force Headquarters in Neapel. Der Verfasser gibt seine persönliche Auffassung wieder.

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