IP

01. Juli 2012

Sicherheit in neuem Rahmen

Nicht das Militär, sondern die Diplomatie wird wieder im Zentrum stehen

Die Befreiung Kuwaits 1991 und der für 2014 vorgesehene Rückzug aus Afghanistan markieren Anfangs- und Endpunkt westlicher Weltordnungspolitik. Der „unipolare Moment“ ist Vergangenheit; die Staaten kehren in ihre zentrale Rolle zurück – in einer grundlegend veränderten Staatenwelt. Die deutsche Sicherheitspolitik muss neu bestimmt werden.

Seit bald zehn Jahren zeichnen sich grundlegende Veränderungen des internationalen Systems ab. Die USA sind nicht mehr die „indispensable nation“ des unipolaren Moments, sondern finden sich in einer geschwächten Position wieder. Die Schulden-, Finanz- und Wirtschaftskrise der USA und vieler EU-Staaten, die im Kern eine politische Krise ist, hat diesen Umbruch nicht verursacht. Sie hat Gewichtsverschiebungen und neue Abhängigkeiten nur offengelegt.

Dass eine grundlegende Lageänderung eine neue Beurteilung der Lage erfordert, ist für Soldaten selbstverständlich. Mehrere westliche Streitkräfte haben sich denn auch mit den sich verändernden sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen auseinandergesetzt. Neben der deutschen MidTerm Study 2025: Rahmenbedingungen zukünftiger streitkräftegemeinsamer Operationen (MidTerm Study/MTS 2025) vom September 2009 sind besonders die entsprechenden niederländischen, amerikanischen und britischen Untersuchungen zu erwähnen.1 Auffällig sind deren Gemeinsamkeiten. Unabhängig von Zweck und methodischem Ansatz wird beispielsweise die Offenheit künftiger Entwicklungen herausgestellt. Es gibt nur noch Zukünfte – statt einer Zukunft. Folglich kommt es darauf an, sich sicherheitspolitisch für einen Optionenraum aufzustellen; Spezialisierung für eine Nische ist nicht erfolgversprechend.

Bei technologischen Entwicklungen neigen wir dazu, die kurzfristigen Auswirkungen von Neuerungen zu über-, die langfristigen aber zu unterschätzen. Ähnliches gilt bei politischen Entwicklungen. Weder war 1989/91 das „Ende der Geschichte“ erreicht, noch hat sich die Soft Power von World Wide Web als unwiderstehliche politische Kraft erwiesen. Ein Blick auf die Realitäten zeigt, was schon Alexis de Tocqueville bei der Betrachtung der Französischen Revolution auffiel: Neben einigem, was tatsächlich neu war, stand viel Altes in neuem Gewand, manches blieb von der Revolution sogar faktisch unberührt.

Der Staat bleibt zentral

Eine wesentliche Kontinuität ist die zentrale sicherheitspolitische Rolle der Staaten. Die (scheinbaren) Gewissheiten der Jahre zwischen 1995 und 2005 boten Raum, mit politischen und gesellschaftlichen Alternativen zu experimentieren. Die wachsende Komplexität, Dynamik und Volatilität politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen befördern aber Ungewissheit, die vielfach als Unsicherheit perzipiert wird. So wird der Staat nun wieder stärker als Garant von Sicherheit und Identität betrachtet. Er dürfte zentraler Akteur im internationalen System bleiben.

In allen denkbaren Zukünften wird darüber hinaus die Proliferation von Wissen und Können für nicht vorhersehbare Überraschungen sorgen. Staatliche, sub- und nichtstaatliche Akteure, die die politisch-militärische Überlegenheit westlicher Staaten als Bedrohung wahrnehmen, lernen zugleich rascher und denken langfristiger als die meisten westlichen politisch-militärischen Führungen. Sie haben die Abhängigkeiten, die aus der technologischen Lösung politisch-militärischer Herausforderungen resultieren, als Schwäche erkannt.

Ihre Vertrautheit mit westlichen Strukturen, Verfahren und Denkweisen ist wesentlich größer als umgekehrt. Jahrzehntelange Investition in eine doppelte, westlich wie traditionell orientierte Ausbildung zahlt sich nun aus. Von der Volksrepublik China ist dies seit langem bekannt, wenn auch in den möglichen Konsequenzen noch nicht ausreichend durchdacht. Noch weniger reflektiert ist die ebenfalls seit langem bekannte Tatsache, dass islamistische Gruppen vorzugsweise Naturwissenschaftler, Ingenieure, Ärzte und Lehrer rekrutieren, nicht Religionsgelehrte. Sich auf die Rekrutierung von Konvertiten zu konzentrieren, ist der folgerichtige nächste Schritt. Sie verfügen über die Fähigkeit, in zwei Welten leben zu können, deren eine westlichen Institutionen weitgehend verschlossen ist. Noch wichtiger ist, dass eine hybride, Außenstehenden insgesamt verschlossene Welt entsteht.

Die politisch-militärische Überlegenheit westlicher Staaten in Verbindung mit dem unverhohlenen Anspruch, die eigenen kulturellen Maßstäbe und Vorstellungen weltweit verbindlich zu machen, wird von sehr unterschiedlichen Gruppen als Bedrohung empfunden. Das legitimiert per se mindestens Opposition, wenn nicht gar Widerstand. Auch wenn die an­gewandten Mittel und angestrebten Ziele auf Kritik stoßen, wird das Anliegen selbst als legitim bewertet.

Weil islamistische Gruppen sich in drei Welten – der westlichen, der traditionellen und der neu entstehenden hybriden – bewegen, ist die Bandbreite der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel und Möglichkeiten wesentlich größer. Das gezielte Nutzen eigener technologischer Überlegenheit in bestimmten Nischen, das Ausweichen auf traditionelle Verhaltensweisen bei technologischer Unterlegenheit und das ingeniöse Verschmelzen aus westlicher wie traditioneller Sicht unvereinbarer Lösungsansätze zu etwas Neuartigem, zuvor Undenkbarem, ist eine entscheidende Stärke. Asymmetrie ist weder eine materielle noch organisatorische, es ist eine mentale und kognitive Herausforderung.

Schwarze Schwäne und Wildcards

Das macht das Auftreten „Schwarzer Schwäne“ wahrscheinlicher. Manche Überraschungen fallen (mindestens rückblickend) in die Kategorie der „known knowns“, die man bei zutreffender Prioritätensetzung hätte vermeiden können. Andere Überraschungen – die „known un­knowns“ – lassen sich zumindest ihrer Art nach eingrenzen. Worauf wir nach den (scheinbaren) Gewissheiten von bi- und unipolarer Welt jedoch weder mental noch institutionell vorbereitet sind, ist das Auftreten von „Schwarzen Schwänen“2 oder Wildcards. Anders gesagt: Es geht nicht mehr darum, Überraschungen vorherzusehen, sondern sich auf das Überrascht-Werden vorzubereiten.
Dabei sind es die substaatlichen Akteure,3 die über das größte Potenzial für Wildcards verfügen. Die Mischung von finanziellem Potenzial, Verfügungsgewalt über Rohstoffe von der Förderung bis zur Verteilung, politischem Einfluss, weitgehender Unabhängigkeit und militärischen Möglichkeiten können unter bestimmten, nicht mehr auszuschließenden sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen Fragen aufwerfen, die über den engeren militärischen Bereich hinausgehen.

Die in vielen OECD-Staaten voranschreitende Übertragung von wesentlichen Teilen des staatlichen Gewaltmonopols in den Bereichen Militär, Polizei, Strafvollzug und Nachrichtendienste ist die eine Seite. Die andere Seite ist das Entstehen politisch und territorial nicht gebundener multinationaler Konzerne, die über wesentliche Attribute staatlicher Macht verfügen. Letztlich geht es hier nicht um die Frage von Rechtsetzung, sondern Rechtdurchsetzung. Man kann darüber diskutieren, ob es angemessen ist, in bestimmten Regionen außerhalb des euro-atlantischen Kulturkreises „Staat“ vorauszusetzen und folglich von fragiler Staatlichkeit zu sprechen. Keiner Diskussion bedarf, dass die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols innerhalb des euro-­atlantischen Kulturkreises schwerwiegende und unabsehbare Konsequenzen für Politik und Gesellschaft hätte.

Wichtiger aber ist, dass staatliche Akteure ihre Handlungsmöglichkeiten erweitert haben. Nicht nur also, dass der unipolare Moment Vergangenheit ist. Er wurde auch von vielen, nicht zuletzt staatlichen Akteuren zum Lernen genutzt. Dass gerade China, Russland und (ressourcenreiche) islamische Staaten ihre Handlungsmöglichkeiten durch die Einrichtung substaatlicher Einrichtungen erweitert haben, ist kein Zufall. Es sind die Staaten, die zugleich die größten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Reserven haben und sich kulturell am ehesten bedroht fühlen. Es ist müßig, über die (aus westlicher Sicht) „objektive“ Begründbarkeit der Bedrohungswahrnehmung zu rechten. Angesichts der veränderten Machtverhältnisse ist für deutsche Sicherheitspolitik die subjektive Perzeption der wesentliche Punkt.

Deutsche Sicherheitspolitik muss also auf der Voraussetzung beruhen, dass mehrere Zukünfte möglich und überraschende, nicht vorhersehbare Entwicklungen unvermeidlich sind. Nicht nur „1989“ und „9/11“ sind Beispiele dafür, dass die Festlegung auf eine Zukunft unfähig macht, zweckmäßig mit Entwicklungen (und natürlich Überraschungen) umzugehen.

Gefährliche „Ten Year Rules“

1929 beschloss die britische Regierung, ihrer Verteidigungsplanung die „Ten Year Rule“ zugrundezulegen. Sie besagte, dass ein großer, zwischenstaatlicher Krieg in Europa innerhalb der nächsten zehn Jahre unmöglich sei. Die Lagebeurteilung war überzeugend, die Prioritäten stringent abgeleitet. Doch 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen. Ein entscheidender Punkt dabei war, dass der britischen Diplomatie das politische Instrument Abschreckung in den Jahren vor 1939 nicht zur Verfügung stand, weil das militärische Instrument für diese Aufgabe nicht taugte. Nicht nur Großbritannien zahlte politisch wie militärisch einen hohen Preis für die Verengung des Raums möglicher Zukünfte auf die eine, gewünschte Zukunft.

Unter den Bedingungen der unipolaren Welt hat Deutschland einen ähnlichen Weg eingeschlagen. Die Annahme, ein zwischenstaatlicher Krieg sei unwahrscheinlich, Deutschland müsse sich daher nicht auf diese Möglichkeit vorbereiten und könne folglich Landes- und Bündnisverteidigung vernachlässigen, beruht auf drei Prämissen: erstens, dass Zukunft im Singular auftritt und vorhersagbar ist; zweitens darauf, dass die Zukunft, die eintreten wird, mehrere Jahre vorher erkannt werden kann, mithin ein entsprechendes Frühwarnsystem existiert, arbeitet und funktionstüchtig ist; drittens, dass die politische und militärische Führung rechtzeitig handeln kann und wird. Aber: Die ersten beiden Prämissen sind falsch. Die dritte steht, sofern die Lage konsequentes Handeln erfordert, in offenem Widerspruch zu deutschen Sicherheitsinteressen. Ihr Eintreten kann mithin nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden.

Tatsächlich rücken also staatliche Akteure wieder in den Fokus deutscher Sicherheits- und folglich Militärpolitik: Staaten allerdings, die ihre Handlungsmöglichkeiten um sub-staatliche Unternehmen und die Einsatzmöglichkeiten nichtstaatlicher Akteure erweitert haben. Nur sie verfügen über die ganze Bandbreite politisch-militärischer Handlungsoptionen und können damit eine existenzielle Bedrohung darstellen.

Gesamtverteidigung erforderlich

Die bis 1989/91 für deutsche Sicherheitspolitik prägende Gesamtverteidigung wird damit unter grundsätzlich veränderten Bedingungen aufs Neue erforderlich. Das schließt Abschreckung ein. Den eigenen politischen Willen durchzusetzen, ohne dafür Krieg führen zu müssen, indem das Verhalten Anderer durch eine Mischung von Drohen und Locken im gewünschten Sinne beeinflusst wird, erhält neues Gewicht. Das erfordert eine subtile Handhabung des politischen Instrumentariums, einschließlich der Bundeswehr.

Vor diesem Hintergrund ist die Frage nicht, ob Kleine Kriege eine unter mehreren möglichen Zukünften sind;4 sondern vielmehr, was westliche Interventionen in der sich abzeichnenden neuen Weltordnung, in der die machtpolitischen Voraussetzungen des „liberal imperialism“ weggebrochen sind, bewirken können. Dabei zählt nur, ob die tatsächlichen Konsequenzen – beabsichtigte wie unbeabsichtigte – im deutschen Interesse sind. Den Frieden in der Welt zu fördern, ist gewiss im deutschen Interesse. Das steht jedoch wie Bündnissolidarität in Konkurrenz zu anderen Zielen, Interessen und Absichten deutscher Sicherheitspolitik. Diese sind abzuwägen und es ist stets zu prüfen, ob Krieg das in der Gesamtabwägung zweckmäßigste Mittel ist. Der Afghanistan-Krieg ist ein aktuelles Beispiel dafür, dass weder die Absicht, den Frieden in der Welt zu fördern und die Menschenrechte zu verbreiten, noch Bündnissolidarität eine hinreichende Begründung für Krieg sind. Geschweige denn gewährleisten sie, dass der Krieg politisch klug und strategisch zweckmäßig geführt wird.

Entscheidende Fragen

Die entscheidenden Fragen für deutsche Sicherheitspolitik sind: Welche Zukünfte können wir heute schon, wenn auch sicher nur in Umrissen, erkennen? Welche Voraussetzungen müssen wir schaffen, um in allen Zukünften brauchbar bestehen, mindestens jedoch unsere Existenz bewahren zu können? Welche Interessen können und welche wollen wir bei nüchterner Betrachtung unserer Mittel und Möglichkeiten in die neue Weltordnung einbringen?

Krieg ist von der Politik her zu denken. Und von der Politik her gedacht ist Krieg – gleich ob „klein“ oder „groß“ – in der sich abzeichnenden neuen Weltordnung nur unter sehr begrenzten Umständen im deutschen Interesse.

John le Carré hat Wesentliches treffend auf den Punkt gebracht: „Once, Europe happened to the world. Now, the world happens to us.“ „Der Friede“ ist wieder außerhalb unserer Reichweite. Es geht wieder nur um friedlichere Verhältnisse in einer Welt, die keinem Akteur (und keiner Gruppe von Akteuren) mehr Weltordnungspolitik erlaubt. In dieser Welt ist eine nüchterne und kompromissbereite Politik gefragt, die zielstrebig, aber subtil, geduldig und diplomatisch vorgeht. Das schließt den Gebrauch militärischer Mittel nicht aus. Der neue Rahmen für deutsche Sicherheitspolitik verlangt jedoch einen anderen politischen Zweck, damit veränderte strategische Ziele. Taktik und Organisation (nicht nur der Bundeswehr) werden gezwungen sein, dem zu folgen.
Politik und Gesellschaft – und daran anschließend Streitkräfte – werden sich daran gewöhnen müssen, von der Realität multipler Modernen auszugehen. Die Ko-Existenz und Ko-Evolution multipler Modernen zu akzeptieren, wird das eigene Selbstverständnis grundlegend in Frage stellen. Über alle Umbrüche hinweg bleibt mithin eine wesentliche Kontinuität deutscher Sicherheitspolitik, dass auch künftig die Kultur der Zurückhaltung die „Kultur der Verantwortung“ ist.

Oberst i.G. Dr. THOMAS WILL ist Deputy Political Advisor beim Allied Joint Force Command HQ Naples. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
 

  • 1Future Policy Survey: A new foundation for the Netherlands’ Armed Forces (NLD MOD), 8.4.2010, http://www.defensie.nl/organisatie/defensie/verkenningen/publicaties. Die niederländische Studie steht methodisch wie inhaltlich der MTS 2025 besonders nahe. Erwähnenswert sind aber auch die Studien Joint Operating Environment 2010 (USJFCOM), 15.3.2010, http://www.jfcom.mil/newslink/storyarchive/2010/JOE_2010_o.pdf und Strategic Trends Programme: Global Strategic Trends – Out to 2040 (GBR MOD), 9.2.2010, http://www.mod.uk/DefenceInter net/MicroSite/DCDC/OurPublications/StrategicTrends+Programme/TheDcdcGlobalStrategicTrendsProgramme.htm.
  • 2Nassim Nicholas Taleb: Der Schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, München 2008.
  • 3Substaatliche Akteure verfügen über Kennzeichen sowohl staatlicher als auch nichtstaatlicher Akteure. Dabei kann es sich um multinationale Konzerne handeln, die über gravierenden politischen Einfluss, finanzielle und wirtschaftliche Potenz und gegebenenfalls sogar über militärische, nachrichtendienstliche oder ähnliche Mittel verfügen. Als Beispiele können Gazprom und einige Private Military Companies wie Blackwater (nach mehreren Namensänderungen derzeit als Aca-demi bekannt) dienen. Zu substaatlichen Akteuren gehören auch Organisationen wie die Hamas und Hisbollah, die über wesentliche Attribute staatlicher Macht verfügen. Als dritte Gruppe sub- staatlicher Akteure können solche Regionen gelten, deren Autonomiebestrebungen so erfolgreich sind, dass sie in der politischen Betrachtung als selbständig handelnde Akteure erscheinen.
  • 4So z.B. Christian Freuding: Wie Goliath gewinnen kann. Westliche Demokratien und ihr Einsatz in Kleinen Kriegen, IP, November/Dezember 2011, S. 18–25.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/ August 2012, S. 112-117

Teilen

Themen und Regionen

Mehr von den Autoren