Gegen den Strich

26. Aug. 2016

Wertepolitik

Vier Thesen auf dem Prüfstand

„Rechtsstaatsdialog“, „Modernisierungspartnerschaft“: Diese Worte können nur in Europa ersonnen worden sein. Doch es ist das Vermögen, schönen Worten auch Taten folgen zu lassen, das Verantwortungsethik von Gesinnungsethik unterscheidet. Das gilt für die Außenpolitik der gesamten EU, besonders aber für die des moralischen Weltmeisters.

Die Außenpolitik der Europäer ist nicht so ­zynisch wie die amerikanische

Dafür erreicht sie meist auch weniger. Wenigstens bis zum Brexit, nach dem auch den größten Europa-Enthusiasten eine Prise Bescheidenheit angeraten erscheint, demonstrierte Europa immer wieder ein erstaunliches Sendungsbewusstsein. Die eigene Außenpolitik war nach Ansicht vieler Akteure mindestens in Kontinentaleuropa moralischer als die Politik der USA, die in den Irak-Krieg und andere neoimperiale Abenteuer zogen. Die Deutschen glauben ohnehin an ihre moralische Mission; die Franzosen auch, wenngleich mit einem Schuss Realismus; und die Schweizer fühlen sich wie üblich nicht zugehörig, halten ihre Neutralität aber allem anderen gleichsam automatisch für überlegen.

Worte wie Rechtsstaatsdialog (mit China) und Modernisierungspartnerschaft (mit Russland) können nur in Europa ersonnen worden sein. Aus ihnen spricht die Überzeugung, universell gültige Werte zu besitzen, die einen erstrebenswerten Endpunkt auch für jene Länder darstellen, die sie heute noch nicht teilen. Die ist ja auch richtig, wer wollte dies ernsthaft bestreiten. (Dass der französische Front National, die Alternative für Deutschland und andere vergleichbare Parteien den Universalismus in Zweifel ziehen und ihm „Werte“ à la Putin entgegensetzen, ist ein anderes, trauriges Kapitel.) Der in Europa – noch – vorherrschende Glaube an die Überlegenheit der Aufklärung steht allerdings in scharfem Kontrast zum Unvermögen und zum Unwillen, diese Werte jenseits der eigenen Grenzen zu verbreiten. Europa will sehr viel und erreicht meist sehr wenig.

Es fällt leicht, die Irrtümer der amerikanischen Nahost-Politik anzuprangern. Dem Irak-Krieg hätte mindestens eine entschiedene Anstrengung zum Aufbau des Landes folgen müssen und nicht jene Gleichgültigkeit, welche Milizen und Terrorgruppen erst den Freiraum gab, der sich bis heute in der Hydra des so genannten Islamischen Staates manifestiert.

In Syrien handelte Präsident Barack Obama widersprüchlich, indem er rote Linien zog, zu keinem Zeitpunkt aber deren Einhaltung erzwang. Die Unterstützung Saudi-Arabiens ist angesichts der Menschenrechtsbilanz des Landes eine fragwürdige Politik. Fehler und Unzulänglichkeiten also, wohin man blickt. Doch die Europäer haben zu keinem Zeitpunkt eine plausible Alternative präsentiert und, vor allem: umgesetzt. Der Irak war ja bereits vor der US-Invasion zum Failing State geworden, der die ganze Region zu kontaminieren drohte. In Syrien vermochten sich Deutschland, Frankreich und Großbritannien nie auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen. Man gab sich damit zufrieden, die Probleme zu ignorieren, bis diese dann Beine bekamen und an österreichischen und deutschen Grenzübergängen auftauchten.

Die EU ist der erfolgreichste Werte-Exporteur der Welt

Werte sind wichtig, aber nicht das einzige Fundament der Außenpolitik. Die EU hält sich zugute, dass sie durch die unzähligen von ihr abgeschlossenen Abkommen die Normensetzung in großen Teilen der Welt beeinflusst. Alle diese Verträge sind in dieser Lesart eine Form von Werte-Export. Natürlich ist es fraglich, ob Handelsabkommen wirklich andere Kulturen verändern und etwa Korruption und Nepotismus wirksam bekämpfen. Aber selbst, wenn man ­diesen Einwand außer Acht lässt, schrumpfen derzeit die europäischen Möglichkeiten eines solchen Exporthandels. Ohne Großbritannien, ohne dessen militärische Fähigkeiten und ohne dessen strategische Ambition, ist die europäische Außen- und Sicherheitspolitik nur noch die Hälfte wert. Der Kontinent gibt derzeit ein jämmerliches Bild ab, er ist dank Euro-Krise und Brexit ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Dies beeinträchtigt die Fähigkeit, die Macht der eigenen Werte zu projizieren, ganz erheblich.

Der Bezug auf die eigenen Werte ist nicht naiv und er ist schon gar nicht, um ein schreckliches Wort zu gebrauchen, „Gutmenschentum“. Er ist ein Kompass und ein notwendiges Korrektiv, damit die eigene Politik nicht zum Opportunismus degeneriert. Im Detail muss jede Politik flexibel sein, aber sie braucht zugleich Leitplanken und eine langfristige Strategie. Und zu dieser findet man nicht, wenn man kein Wertegerüst besitzt. Aber in der Türkei-Politik sind die Werte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz ja gerade kein Fundament und kein Kompass, sonst hätte man kaum einen Deal mit Erdogan geschlossen und sich stattdessen gesagt, dass sich eine Lösung der Flüchtlingskrise auch ohne Antichambrieren am Hofe des Sultans erreichen lässt. Tatsächlich werden die eigenen Werte je nach tagespolitischer Opportunität bemüht oder eben ignoriert. Sie sind damit nicht mehr wert als jedes andere Argument, das benutzt wird, um die Irrungen und Wirrungen des eigenen Handelns zu rechtfertigen. Vermutlich gehört es jedoch zum Erbe des deutschen Idealismus, dass Moral als Argument mehr zählt als strategische oder wirtschaftliche Interessen.

Der instrumentelle Charakter des Moraldiskurses trat während der gesamten Flüchtlingskrise deutlich hervor. Die Bundesregierung und die Öffentlichkeit reklamierten für sich stets eine moralisch überlegene Position. Man kritisierte die EU-Partner, als sich bei ihnen nicht dieselbe Begeisterung für die „Willkommenskultur“ regte wie in Deutschland selbst. Dabei ging die abrupte Grenzöffnung auf einen einsamen Entschluss Berlins zurück und war zuvor nie durch die Europäische Union und insbesondere durch die Schengen-Staaten gutgeheißen worden. Warum also sollten sich die Nachbarn an der Verteilung der Flüchtlinge beteiligen, zumal die von Deutschland so lange verteidigte Asylpolitik der EU solche Quoten explizit ausschließt? Die Anrufung der Moral diente ausschließlich dazu, einen juristisch und politisch unhaltbaren Anspruch Berlins zu kaschieren.

Nicht viel anders verhielt es sich im weiteren Verlauf der Krise, als die südöstlichen Nachbarn ihre Verantwortung wahrnahmen und durch den Schutz ihrer Grenzen den Menschenstrom einzudämmen versuchten. In Deutschland wurde dies als herzlos und unmenschlich verurteilt. Da sie fürchten musste, von dem sich allmählich anstauenden Volkszorn irgendwann hinweggefegt zu werden, sah sich allerdings auch Bundeskanzlerin Angela Merkel schließlich genötigt, den Zustrom zu regulieren. Weil sie glaubte, hierzu in eigener Verantwortung keinen Beitrag leisten zu können, musste sie die Türkei dazu bewegen. Wer jemand anderem die Aufgabe der Grenzschließung aufbürdet, die er für sich als unmenschlich ablehnt, handelt nicht sehr moralisch. Die Emphase, mit der sich Berlin über Grenzzäune und die inhumane Unterbringung von Flüchtlingen und Migranten empörte, diente also auch hier dem Zweck, von der überaus angreifbaren Position der Bundesregierung abzulenken.

Jede Wertepolitik erfordert den Willen zur Durchsetzung, und das heißt, dass man über die entsprechenden Mittel verfügen muss. Diese können militärischer und wirtschaftlicher Natur sein, dazu gehört aber eben auch die Bereitschaft, selbst politische Verantwortung zu übernehmen. Das Vermögen, schönen Worten auch Taten folgen zu lassen, unterscheidet Verantwortungsethik von Gesinnungsethik. Das gilt für die Außenpolitik der gesamten EU, besonders aber für den moralischen Weltmeister.

Gerade nach dem Putsch muss man die Türkei an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie erinnern

Das ist richtig. Aber es geht nicht nur um Normen, sondern auch um Resultate. Jeder politische Anspruch, dem die Perspektive der Realisierung fehlt, ist letztlich apolitisch. Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür ist die ­Türkei-Politik der EU. Seit Jahrzehnten wird diese von der Grundannahme durchzogen, man müsse dafür sorgen, dass sich das Land, immerhin ein ­NATO-Partner, politisch und wirtschaftlich entwickeln kann. Die einfachste Möglichkeit hierfür wäre eine realistische Beitrittsperspektive gewesen, welche „carrots and sticks“, die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft und die Auflagen der Kopenhagener Kriterien, kombiniert. Doch dazu mochten sich besonders Frankreich und Deutschland aus innenpolitischen Gründen nie durchringen. Die Widerstände gegen einen ungehinderten Zuzug von Türken waren stets so gravierend, dass keine Regierung sich getraute, sie zu ignorieren.

Man möchte selbstverständlich, dass sich die Türkei zur Gleichberechtigung der Frauen oder zu den Rechten der kurdischen Minderheit bekennt. Und doch hat man nach einer längeren Phase der Unentschlossenheit das einzige Mittel aus der Hand gegeben, um Ankara zu deren Beachtung zu motivieren: die Beitrittsperspektive. So schwanken die Beziehungen seit 20 Jahren zwischen Anziehung und Abstoßung, zwischen der Forderung nach einer Anerkennung von Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit einerseits und Anfällen von Realpolitik andererseits.

Präsident Erdogan hat daraus die einzige rationale Schlussfolgerung ge­zogen: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Die Probe aufs ­Exempel konnte er in der Flüchtlingskrise machen, als er trotz seines Abgleitens in einen Neo-Osmanismus plötzlich wieder zum gefragten Partner avancierte. All die Kritik an seinem Gebaren (und der ganz unabhängig von Erdogan seit jeher bescheidenen Menschenrechtsbilanz) war wie weggewischt, als die Türkei tun sollte, was für deutsche Bundespolizisten offenbar ein Ding der Unmöglichkeit darstellt – die eigenen Grenzen zu schützen und den Strom der Migranten und Flüchtlinge einzudämmen.

Der Preis, den Erdogan in diesem Tauschgeschäft ganz selbstverständlich verlangt, ist neben Geld die Visumsfreiheit für seine Landsleute. Diese wäre weit mehr als eine bürokratische Erleichterung auf dem Weg westwärts, sie wäre die Anerkennung einer Partnerschaft auf Augenhöhe. Doch genau diese Anerkennung wird Erdogan unter Hinweis auf die wenig rechtsstaatlichen Bestimmungen der türkischen Antiterror-Gesetzgebung wieder verwehrt. Statt in einer offenkundigen Notlage den Tatsachen den Vorzug vor dem Wünschbaren zu geben, dominiert plötzlich wieder das Unbehagen, mit einem so zwielichtigen Partner auf dem Basar erwischt zu werden.

Auch die Affäre Böhmermann ist ein schöner Anwendungsfall, der zeigt, was passiert, wenn sich Empörung und moralisches Überlegenheitsgefühl in der bloßen Geste erschöpfen. Statt die nur notdürftig ins Gewand der Satire gehüllte Fäkalbeschimpfung Erdogans unmissverständlich als Geschmacklosigkeit zu verurteilen und die salomonische Anwendung eines antiquierten Paragrafen einem Gericht zu überlassen, erging sich die deutsche Politik in langatmigen Betrachtungen über Kunstfreiheit unter besonderer Berücksichtigung ausgefallener Sexualpraktiken. Ein bisschen Realpolitik, sehr viel Moralismus, alles geschüttelt und gerührt. Heraus kommt dabei ein ungenießbares Gebräu. Die deutsch-türkischen Beziehungen sind so schlecht wie schon lange nicht mehr. Die eine Seite zieht ihren Lustgewinn daraus, deutschen Politikern den Besuch von Bundeswehrsoldaten zu verwehren, die andere Seite findet ihren Triumph darin, doch noch das Militärkontingent auf türkischem Boden aufgesucht zu haben. Kleinkarierter geht es kaum.

Kungeln mit Erdogan schützt Europa nicht vor Anschläge

Aber eine Partnerschaft mit der Türkei hält die Krisen etwas auf Distanz. Vor allem gerät dabei das in Vergessenheit, was das langfristige Ziel einer europäischen Türkei-Politik sein müsste. Der Nahe Osten befindet sich in einem Dreißigjährigen Krieg, der alle Ingredienzien der großen Auseinandersetzung von vor 400 Jahren enthält: den Zerfall der regionalen Ordnung, den Kampf um die Vorherrschaft zwischen Staaten und die religiöse Komponente, die alle pragmatischen Lösungsversuche erschwert oder gar unmöglich macht. Der NATO-Partner Türkei bildet dabei das Bollwerk, das Europa gegenüber dem Krisenbogen abschirmt. Solange die Türkei ein halbwegs funktionierender Staat ist, findet der Krieg nicht direkt an der europäischen Außengrenze, sondern einige hundert Kilometer südöstlich statt. An diesen geopolitischen Fakten vermögen auch der Putsch und die harten Gegenmaßnahmen des Regimes nichts zu ändern.

Natürlich gelangen Gewalt und Hass mittels terroristischer Anschläge auch so nach Europa. Aber es macht doch einen Unterschied, ob die Kämpfe direkt vor der eigenen Haustür oder in etwas weiterer Entfernung stattfinden. Damit dies so bleibt, haben die Europäer ein eminentes Interesse daran, die Türkei zu stützen. Natürlich lässt sich mit gutem Recht einwenden, ohne klares Wertefundament ende jede Realpolitik in Willkür. Doch der Halb-und-halb-Knödel namens europäische Türkei-Politik – halb Realpolitik, halb Moralismus – erreicht weder das eine noch das andere. Die Türkei wird nicht demokratischer, die Rechte der kurdischen Minderheit werden nicht besser geschützt, und zugleich wird der IS so nicht effizienter bekämpft. Der staatlich organisierte Export von Werten vermag nur dort zu gelingen, wo der Exporteur die entsprechenden Mittel zur Durchsetzung seiner Normen besitzt. Und selbst dann, wenn Truppenkontingente und Entwicklungshilfe den Export absichern wie in Afghanistan, kann dieser scheitern.

Europa sollte daher ein Partner sein, auf den man sich verlassen kann, der nicht beständig seine Politik ändert und der der Türkei konkrete Fortschritte in Aussicht stellt. Ein Beitritt zur EU ist, zumal angesichts der innenpolitischen Verhältnisse, illusorisch. Aber eine privilegierte Partnerschaft, die mehr ist als eine Floskel, wäre ein Anfang. Dazu gehörte auch, das Sicherheitsbedürfnis der Türkei ernst zu nehmen. Ein sich entlang der gesamten türkischen Südgrenze erstreckender Kurdenstaat ruft in Ankara nicht ohne Grund Besorgnis hervor. Diese Ängste lassen sich nicht einfach beiseite wischen, nur weil sich Berlin nach langem Zögern doch noch entschlossen hat, die Peschmerga militärisch zu unterstützen.

Für eine Anerkennung der neuen Realitäten zu werben, auf die stabilisierende Wirkung einer kurdischen Selbstverwaltung hinzuweisen und die Türkei auf eine gemeinsame Politik gegenüber dem IS zu verpflichten, wäre daher allemal sinnvoller, als eine reichlich akademische Auseinandersetzung um die Kunstfreiheit zu beginnen. Wäre die Kritik an der amerikanischen Nahost-­Politik mehr als nur oberlehrerhafte Attitüde, hätte die EU ernsthaft versucht, in ihrem Verhältnis zur Türkei zu zeigen, wie eine bessere Politik für den Raum des ehemaligen Osmanischen Reiches aussieht. Diesen Test hat die Europäische Union nicht bestanden. Die meuternden Generäle haben Europa überdies in Erinnerung gerufen, dass es sehr viele Abstufungen zweifelhafter Regime gibt. Und eine Militärjunta wäre noch um einiges weniger wünschbar gewesen als die immerhin durch Wahlen legitimierte AKP-Regierung.

Wer seinem Gegenüber tatsächlich auf Augenhöhe begegnen will, nimmt dessen Perzeption der Sicherheitslage ernst. Berlin akzeptiert ja selbst nach Annexion der Krim und Krieg im Donbass das russische Sicherheitsbedürfnis, weshalb man einen NATO-Beitritt der Ukraine oder Georgiens ausschließt und Sympathie für eine ausgesprochene oder stillschweigende Finnlandisierung der von Russland als Einflusssphäre beanspruchten Gebiete hegt.

So viel Rücksichtnahme hat auch das NATO-Land Türkei verdient. Doch selbst in einer Zeit, in der in türkischen Städten regelmäßig Bomben explodieren, findet das Land nicht die Solidarität seiner NATO-Partner, die nach den Anschlägen in Paris als Selbstverständlichkeit galten. Vom Gefühl der eigenen moralischen Suprematie zur Selbstgefälligkeit ist es nur ein kurzer Weg.

Eric Gujer ist Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2016, S. 72-77

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