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01. Nov. 2016

Wer bewegt Südkoreas Wirtschaft?

Ein Tycoon, ein K-Pop-Mastermind und ein CEO, der das eigene Make-up testet

Südkorea hat im vorigen Jahrhundert den wohl rasantesten Wirtschaftsaufschwung des 20. Jahrhunderts hingelegt. Vom bitterarmen Agrarstaat avancierte das Land zur mittlerweile zwölftgrößten Volkswirtschaft der Welt. Wer machte das Wunder möglich? Und welche Persönlichkeiten treiben die südkoreanische Wirtschaft heute an?

Chung Ju-yung

Gründer des Hyundai-Konzerns

Jede Gesellschaft kennt ihre überlebensgroßen Heldenfiguren, deren Biografien auf geradezu mythische Weise mit der Geschichte ihres Heimatlands verknüpft sind. Der 1915 geborene Hyundai-Gründer Chung Ju-yung ist so eine. Wie kein zweiter verkörpert er das „Wunder vom Han-Fluss“, dem rasantesten Aufstieg eines Entwicklungslands im 20. Jahrhundert. Seine Lebensgeschichte spiegelt zugleich die turbulente Vergangenheit Südkoreas wider. Ihren Anfang nimmt sie in bitterer Armut.

1915 als Sohn einer Reisbauerfamilie unter japanischer Kolonialbesatzung geboren, scheint Chungs Schicksal schon früh besiegelt: Nach der Grundschule ruft bereits die Pflicht auf dem Feld, an höhere Bildung – der einzigen sozialen Aufstiegsmöglichkeit in der streng konfuzianischen Gesellschaft – ist nicht zu denken. Abfinden will sich der 15-Jährige mit einem Leben in der Provinz dennoch nicht. Zu verheißungsvoll scheinen die Zeitungsberichte vom geschäftigen Treiben in der Stadt. Seine Chance ergreift er mit einer allzu unmoralischen Entscheidung: Er stiehlt seinem Vater einen Ochsen und verkauft ihn; mit dem Geld kauft er ein Zugticket nach Seoul.

Dort schuftet er als Tagelöhner auf dem Bau, in Fabriken und später als Reislieferant. Der ungeheure Arbeitseifer imponiert seinem Chef derart, dass er nach kaum einem halben Jahr seinem Lehrling das Geschäft überlässt und sich selbst zur Ruhe setzt. Mit den auf diese Weise erwirtschafteten Ersparnissen gründet Chung Ju-yung wiederum eine Autowerkstatt – und tauft sie „Hyundai“, was im Deutschen so viel wie „modern“ bedeutet. Da sein Bruder Englisch spricht – damals eine Seltenheit –, reparieren die beiden später regelmäßig Fahrzeuge der seit dem Korea-Krieg (1950–1953) in Seoul stationierten amerikanischen Soldaten.

Erst nach dem Putsch des Brigadegenerals Park Chung-hee, Vater der heutigen Präsidentin Park Geun-hye, tritt Hyundai in den siebziger Jahren dann seinen Siegeszug an. In Fünfjahresplänen und mit eiserner Hand modernisiert Diktator Park die marode Wirtschaft Südkoreas, wobei er die lukrativsten Aufträge an eine Handvoll regimetreuer Unternehmer delegiert. Unter der schützenden Hand des Staates preschen diese auf risikoreichen Märkten vor und erobern dort schon bald die Marktführerschaft. Es schlägt die Geburtsstunde von Samsung, LG, Daewoo und eben Hyundai – den südkoreanischen Chaebols, wie die familiengeführten Mischkonzerne genannt werden. Und wenngleich ihre Dominanz heute das Gedeihen mittelständischer Unternehmen behindert: Damals sind sie Motoren für den Wirtschaftsaufstieg des Landes.

Chung Ju-yungs Firma errichtet die Infrastruktur Südkoreas von Grund auf: Flussdämme, Kraftwerke und das erste Autobahnnetz werden von Hyundai gebaut. 1975 folgt die weltweit größte Schiffswerft – in einem Land, das zuvor nur kleine Fischerboote zimmerte. Hyundai exportiert Autos, ist im Ölgeschäft tätig, baut Industrie- und Wohnanlagen. In den frühen neunziger Jahren unterstehen dem Unternehmer rund 150 000 Arbeiter.

Chungs Erfolgsrezept ist eine streng hierarchische Unternehmenskultur: militärischer Drill, gepaart mit ungeheurer Arbeitswut. „Es gibt Schwierigkeiten, aber kein Versagen“, propagiert er als Firmenphilosophie. Gewerkschafter lässt er brutal niederprügeln, Untergebene bewirft er schon mal mit Aschenbechern. Im Herzen sei der Bauernsohn immer ein Arbeiter geblieben, sagt er. Im Jetset der internationalen Führungskräfte fühlt er sich zeit­lebens nie wirklich wohl.

Als im Zuge der Asien-Krise die südkoreanischen Finanzmärkte im Sommer 1997 zusammenbrechen, muss sich das hochverschuldete Hyundai-­Unternehmen neu erfinden. Gründer Chung schmiedet jedoch bereits an einem Kindheitstraum, um sein Lebenswerk zu krönen: Einmal noch möchte er sein Heimatdorf besuchen, das seit Jahrzehnten hinter der am stärksten hochgerüsteten Grenze der Welt liegt. Medienwirksam lässt der Unternehmer 1001 Rinder in das ausgehungerte Nordkorea bringen – und begleicht damit auch seine Jugendsünde: den von seinem längst verstorbenen Vater geklauten Ochsen. Mit dieser symbolgeladenen Geste leitet Chung Ju-yung nicht zuletzt eine historische Annäherung zwischen Süd- und Nordkorea ein, die so genannte „Sonnenscheinpolitik“. Der Unternehmer plant in deren Folge ein Ferienressort und mehrere Hyundai-Fabriken auf nordkoreanischem Boden.

Die dunkle Seite der Sonnenscheinpolitik kommt erst nach dem Tod Chung Ju-yungs ans Licht und beschädigt postum seinen Ruf: 2003 wird bekannt, dass Hyundai heimlich 100 Millionen Dollar Firmengelder an Pjöngjang gezahlt hat, um Kim Jong-il an den Verhandlungstisch zu locken.

Lee Soo-man

Gründer von SM-Entertainment

Niemand hat Südkoreas internationales Image derart geprägt wie Lee Soo-man. Er ist einer der führenden Köpfe hinter der „koreanischen Welle“, die seit bald 20 Jahren große Teile Asiens überflutet. Dass südkoreanische Girlgroups Fußballstadien von Peking bis nach Bangkok füllen, ist vor allem sein Verdienst. Als Mastermind hinter dem K-Pop hat er das Land, dem das Image ameisenfleißiger, austauschbarer Samsung-Angestellter anhaftet, zum Königreich der Coolness gemacht – und den Grundstein für eine Milliardenbranche gelegt.

Seine eigene Musikkarriere plante Lee in den repressiven achtziger Jahren. Doch das Militärregime setzt seinem Traum von der ersten Heavy-Metal-Band Südkoreas ein jähes Ende. Resigniert zieht Lee nach Kalifornien und stürzt sich in sein Ingenieurstudium. Als sich sein Heimatland in den neunziger Jahren demokratische Wahlen erkämpft, kehrt er zurück. Ein zweites Mal möchte er es in der Musikbranche probieren, diesmal als Geschäftsmann.

Als Lee Soo-man sein Label S.M. Entertainment gründet, steckt das Land mitten in der Asien-Krise, die Wirtschaft ist erschüttert. Damals sucht Süd­korea, das keine natürlichen Ressourcen besitzt, händeringend nach neuen Geschäftsfeldern. Lee formt seine waghalsige Vision vom Kulturexport nach Vorbild des amerikanischen Showgeschäfts. Mit seinem Label möchte er Künstler internationalen Formats aufbauen. Nur: Wer sollte sich im Ausland für südkoreanische Popkultur interessieren? Viele Ausländer können das kleine Land, eingeengt zwischen den Riesen China und Japan, kaum auf der Karte verorten. Einige verwechseln es gar mit dem diktatorischen Norden.

Überhaupt scheint Südkorea damals für Popmusik gänzlich ungeeignet. Niemand schiebt längere Arbeits- und Bürozeiten als die Südkoreaner, die Sechs-Tage-Woche wird erst allmählich abgeschafft. Mit dem Konzept von Freizeit macht das Land erst allmählich Bekanntschaft. Dass sich Jugendliche in einem solchen Klima in Bandprojekten austoben würden, ist undenkbar. Keine südkoreanische Mutter hätte ihrem Kind eine Musiklaufbahn erlaubt.

Doch genau jenen Arbeitsdrill macht sich Lee Soo-man zunutze. Statt etablierte Musiker unter Vertrag zu nehmen, baut er sie selber auf: in einem eigenen Bootcamp. Bis zu sieben Jahre lang werden seine Sänger im 2500 Quadratmeter großen Trainingszentrum des Labels S.M. in Seoul ausgebildet. Zwölf-Stunden-Schichten sind das Minimum, freie Sonntage die Ausnahme. Gesang steht auf dem Programm, Tanz- und Modelunterricht, aber auch Fremdsprachenkurse, Interviewtrainings und Schönheitsoperationen. Über 300 000 Heranwachsende aus neun Ländern bewerben sich jedes Jahr. Bands entstehen hier wie am Fließband. Das Rezept geht schon bald auf. Der Schlüssel zum Siegeszug von K-Pop liegt keinesfalls am Koreanischen in der Musik, sondern – ganz im Gegenteil – darin, dass sie überhaupt nicht mehr zu verorten ist. Songwriter werden aus Schweden engagiert, Beats von australischen Produzenten geschickt, und die Sänger sprechen je nach anvisierter Zielgruppe japanisch, chinesisch oder englisch.

Kurz nach der Jahrtausendwende lässt sich zuerst die chinesische Jugend vom K-Pop-Virus infizieren, wenig später folgen die Länder Südostasiens. Sie können sich nur allzu gut mit der Erfolgsgeschichte Südkoreas identifizieren: ein Land, das sich nach der Erfahrung bitterster Armut den Wohlstand hart erkämpft hat. Vor allem aber sind Südkoreas Boy- und Girlgroups die am besten gestylten des ganzen Kontinents, ihre Videos die kreativsten und das ausgeklügelte Saubermann-Image mit Werbeverträgen jeglicher Art kompatibel. Die Musik spielt oftmals nur eine Nebenrolle.

Im Jahr 2012 knackte die südkoreanische Musikindustrie erstmals die Gewinnmarke von über fünf Milliarden Dollar, vorrangig auf ausländischen Märkten. Lee Soo-man gilt mittlerweile als reichster Südkoreaner in der Unterhaltungsbranche. Von seinen Errungenschaften profitiert jedoch die gesamte Wirtschaft. In einer Umfrage der südkoreanischen Handelskammer von 2013 gaben mehr als die Hälfte aller 300 befragten Unternehmen an, dass die koreanische Welle erheblich zum Anstieg ihres Exportgeschäfts beigetragen hat. Und so erzählt K-Pop mit jeder Note auch die Geschichte vom südkoreanischen Wirtschaftsboom: wie sich ein Land auf seine eigenen Stärken besinnt, seine begrenzten Ressourcen effizient einsetzt und dank eiserner Disziplin an der ausländischen Konkurrenz vorbeizieht.

 

Suh Kyung-bae

Vorstand von Amore Pacific

Suh Kyung-bae gehört der dritten Chaebol-Generation an. Wie die meisten Mitglieder der wohlhabenden Elite hat auch er sein Vermögen geerbt. Unter den Südkoreanern genießen die Enkel und Neffen der Konzerngründergeneration einen katastrophalen Ruf: Sie sind für ihre Arroganz, cholerischen Wutausbrüche und Allmachtsfantasien berüchtigt. Auf den 53-jährigen Suh Kyung-bae trifft allerdings keine dieser Eigenschaften zu. Ganz im Gegenteil: Suh hat die strengen Hierarchien in seinem Unternehmen über Bord geworfen, nimmt sich regelmäßig Zeit für Gespräche mit einfachen Angestellten – und ist sich auch nicht zu schade, das von der eigenen Firma hergestellte Make-up zu testen.

Der studierte Betriebswissenschaftler führt das Kosmetikunternehmen Amore Pacific, den sechstgrößten Konzern Südkoreas. Die Anfänge lassen sich bis in die Küche von Suhs Großmutter zurückverfolgen. Sie verbrachte einst die Nachmittage damit, Haaröl aus Kamelienblüten zu extrahieren, das die Familie an schönheitsbewusste Südkoreanerinnen verkaufte.

Während der Nachkriegsjahre revolutioniert der Suh-Clan die Branche mit einem damals überaus innovativen Geschäftsmodell: Das Unternehmen beschäftigt weibliche Angestellte, die so genannten „Amore ­Girls“, die von Haus zu Haus ihre Waren feil bieten und die Kosmetikprodukte direkt zu den Konsumentinnen bringen. Damit eröffneten sie unzähligen alleinstehenden Südkoreanerinnen, deren Männer während des Korea-­Krieges gefallen waren, eine wirtschaftliche Perspektive.

Als Suh Kyung-bae Amore Pacific 1997 von seinem Vater übernimmt, ist er der einzige unter seinen Geschwistern, der Interesse am Familienunternehmen zeigt. Die Geschäftsaussichten sind damals trübe: Nach der Öffnung des Kosmetikmarkts Anfang der Neunziger wird dieser vor allem von europäischen Importprodukten dominiert. Suh bringt jedoch eine neue Firmenphilosophie mit, die er in Anlehnung an sein großes Manageridol, den Nike-Firmengründer Phil Knight, formuliert hat: „Schieb die Schuld niemals auf die anderen. Es gibt weder wachsende noch schrumpfende Branchen, sondern nur wachsende und schrumpfende Firmen. Und wie es deiner Firma geht, ist allein deine Verantwortung.“ So bringt er es im Gespräch mit Forbes auf den Punkt.

Suh erkennt früh das Potenzial der wachsenden asiatischen Mittelschicht. Während westliche Kosmetikunternehmen ihre Produkte vornehmlich für weiße Frauen konzipieren, besinnt sich Amore Pacific auf seine koreanischen Wurzeln. Suh entwickelt Cremes und Make-up, die gezielt auf die Hauttypen ostasiatischer Frauen abgestimmt sind. Mit dem aufstrebenden China liegt schließlich der dynamischste Absatzmarkt direkt vor der Haustür. Zudem setzt er als einer der ersten der Branche im großen Stil auf natürliche, traditionell hergestellte koreanische Produkte – wie Ginsengwurzeln, Lotusblüten oder grünen Tee. Auf der Insel Jeju betreibt Amore Pacific gar eine eigene Teeplantage. Ebenfalls reinvestiert das Unternehmen fast 3 Prozent der jährlichen Gewinne in die Forschung. Über 500 Chemiker hat Amore Pacific rund um den Globus angestellt.

Äußerliche Schönheit genießt in Südkorea einen außerordentlich hohen Stellenwert. Das hat auch mit dem jahrtausendealten schamanistischen Volksglauben zu tun, der den Gesichtern der Menschen gewisse Charaktereigenschaften zuordnet. Gerade für Südkoreanerinnen, die in der patriarchalen Gesellschaft stets benachteiligt waren, ist ein makelloses Äußeres sehr wichtig: Es erhöht die Chancen auf dem Arbeitsmarkt und das soziale Ansehen. Nicht zuletzt deshalb hat der südkoreanische Kosmetikmarkt die wohl anspruchsvollsten Kunden – und gleichzeitig die kaufwilligsten.

Der endgültige Durchbruch gelingt Suh Kyung-bae 2008 mit einem Puder, das Sonnenschutz, Feuchtigkeitscreme und Hautgrundierung in einem ist. Seitdem explodieren nicht nur die Unternehmensgewinne, sondern auch Suhs Privatvermögen. 2011 wird er erstmals Dollar-Milliardär. Heute ist der 53-Jährige mit einem Vermögen von 8,6 Milliarden der zweitreichste Südkoreaner überhaupt. 2015 kürt ihn Forbes zu Asiens „Unternehmer des Jahres“.

Mit jährlichen Wachstumsraten von 40 Prozent ist China längst zum wichtigsten Auslandsmarkt für Amore Pacific geworden. Zwei Fünftel aller Exporte gehen an den chinesischen Nachbarn – eine Abhängigkeit, die auch eine gewisse Fallhöhe mit sich bringt. Suh Kyung-baes Ziele sind dennoch überaus ambitioniert: Bis 2020 möchte er die Umsätze seines Konzerns verdreifachen. Noch dieses Jahr expandiert er mit Amore Pacific in den Nahen Osten; Lateinamerika wird als nächstes anvisiert.

Fabian Kretschmer berichtet als freier Journalist aus Seoul.

Bibliografische Angaben

IP Länderporträt 3, Oktober 2016 - Februar 2017, S. 54-58

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