Start-up-Staat
Seoul gilt als perfektes Versuchslabor für junge Unternehmen. Doch anders als in Berlin oder Tel Aviv wird der Markt vor allem von der Regierung gesteuert, die viel in die dynamische Branche investiert. Schließlich braucht Südkorea kreative Ideen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Nur: Die großen Erfolgsgeschichten sind bislang noch rar gesät.
Wenn Ethan Lee beim alljährlichen Klassentreffen auf alte Schulfreunde trifft, sitzt er meist neben frischgebackenen Ärzten, Anwälten und Samsung-Managern. Oft muss sich der 30-Jährige dann rechtfertigen, warum ausgerechnet er, der brillanteste Student von allen, den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt hat – zumal aus freien Stücken. Start-up-Gründer, das klingt im konservativen Südkorea vor allem nach Risiko, Prekariat, Notfallplan. Wegen Leuten wie Lee wird sich das jedoch bald ändern.
An diesem schwülen Juli-Nachmittag sitzt der Jungunternehmer im frisch bezogenen Büro-Loft im Seouler Nobelviertel Gangnam, trägt ein blaues Shirt zur schwarzen Rahmenbrille und spricht über die Pläne, mit seinem 13-köpfigen Team nach Europa zu expandieren. MyMusicTaste nennt sich das soziale Netzwerk des Südkoreaners, und es soll nichts weniger als die Konzertindustrie revolutionieren: eine Plattform für Fans, die per App ihre Lieblingskünstler mit Crowdfunding in ihre Stadt holen können, ohne von der Gunst eines Konzertveranstalters abhängig zu sein.
„Mein Anfangsgedanke war: Wenn ich nur ein Team aus guten Leuten zusammenbringe, wird schon etwas Erfolgreiches dabei herauskommen“, sagt Lee. Samsung muss das ähnlich gesehen haben, denn das südkoreanische Konglomerat investierte jüngst umgerechnet drei Millionen Euro in MyMusicTaste.
Was Silicon Valley von Seoul lernen kann
Dutzende solcher Ideen florieren derzeit in Seouls aufkeimender Techbranche. Kaum eine Stadt der Welt genießt momentan einen größeren Hype als Start-up-Magnet: Im vergangenen Mai eröffnete Google hier seinen ersten Campus in Asien, das Magazin der New York Times titelte „Was Silicon Valley von Seoul lernen kann“, und wenn europäische Zeitungsverleger in die Zukunft mobiler Internetnutzung blicken wollen, buchen sie meist eine Bildungsreise in den ostasiatischen Tigerstaat.
All das ist nicht zuletzt das Ergebnis konsequenter, staatlicher Investitionen: Bereits 1995 erarbeitete die südkoreanische Regierung einen Zehn-Jahres-Plan zum Ausbau der Breitbandverbindungen. Heute verfügt das Land über die schnellsten Internetleitungen der Welt, flächendeckendes Wifi in urbanen Räumen und eine überaus technikaffine Bevölkerung. Nun kündigte das Wissenschaftsministerium an, mit einem 1,5 Milliarden Euro schweren Investitionspaket die mobile Infrastruktur weiter auszubauen. Bis 2020 soll diese tausendmal schneller sein als bisher. Oder anders ausgedrückt: Spielfilme könnten dann in gerade mal einer Sekunde heruntergeladen werden.
Die Strategie der Regierung ist auch ein Eingeständnis an einen sich verändernden globalen Markt: Das System der Chaebols, der koreanischen Konglomerate, die den Motor für das rasante Wirtschaftswachstum der vergangenen 40 Jahre bildeten, steckt seit Jahren in einer Sackgasse. Samsung etwa hat jahrzehntelang sein Geschäftsmodell darauf aufgebaut, existierende Produkte abzukupfern, zu perfektionieren und für einen günstigeren Preis zu verkaufen. All dies basierte auf einer rigiden Arbeitskultur mit strikten Hierarchien, blindem Gehorsam und geradezu militärischer Kameradschaft.
Gegengewicht zu den Chaebols
Längst ist die Dominanz der Chaebols zur Belastung geworden: Während Samsung und LG von massiven Steuervergünstigungen profitieren, geben sie zu wenig an die Gesellschaft zurück. Die fünf größten Unternehmen erwirtschaften mehr als 60 Prozent des Bruttonationalprodukts, stellen aber nur 8,5 Prozent der Arbeitskräfte ein. Zudem verhindern sie systematisch das Gedeihen einer produktiven Unternehmenslandschaft mit kleinen und mittelständischen Betrieben. Sobald ein erfolgreiches Unternehmen eine gewisse Marktgröße erreicht, wird es von den Riesen der Branche aufgekauft.
Ausgerechnet im Nobelviertel Gangnam soll nun ein Gegengewicht zu den großen Konglomeraten entstehen. Hunderte Start-ups haben sich hier angesiedelt, Co-Working Spaces werden trotz der horrenden Mieten gegründet, und auch Googles kürzlich eröffneter Campus befindet sich hier. Mehr als 1,5 Milliarden Euro hat die südkoreanische Regierung in rund hundert Jungunternehmen investiert.
Die erhofften Erfolgsgeschichten lassen aber noch auf sich warten, müssen die Start-ups doch erst mal ein generationenübergreifendes Erbe abschütteln. „Es gibt in Südkorea eine tiefe Angst vorm Scheitern. Wir wollen die Unternehmenskultur von Grund auf ändern“, sagt Jungwook Lim, Leiter der Start-up Alliance, der führenden koreanischen Plattform für Jungunternehmer. „Wandel ist uns Koreanern in der DNA verankert.“
Auf der Suche nach kreativen Ideen
Der Status quo der koreanischen Wirtschaft gibt schließlich Grund zur Sorge. Das Land droht in eine ernste Krise zu schlittern: Rund die Hälfte des Bruttonationalprodukts wird durch Exporte generiert, doch diese sind zuletzt 20 Monate in Folge gefallen. Das liegt vor allem am schwächelnden Nachbarn China, dem mit Abstand wichtigsten Handelspartner Südkoreas. Die Regierung braucht kreative Ideen, um weiter konkurrenzfähig zu bleiben. Diese lassen sich jedoch nicht durch 70-Stunden-Wochen erzwingen. Oft findet man sie einfach auf der Straße.
Nehmen wir das Beispiel von Joon Ho: Als der gebürtige Amerikaner nach Südkorea zog, ins Land seiner Eltern, fielen ihm sofort die unzähligen Restaurants auf, die an jeder Straßenecke wie Pilze aus dem Boden schossen. Doch deren kulinarische Vielfalt war meist überschaubar, die Qualität schwankte, und wer sich im Internet nach alternativen Restaurantempfehlungen umschaute, stieß meist auf getarnte Werbeeinträge oder auf die Einträge von Konkurrenten, die die Mitbewerber madig machen wollten. Also startete Ho seine eigene Liste mit Gourmetgeheimtipps, damals noch als Excel-Datei, die bald auf über 2000 Einträge heranwuchs. Als immer mehr begeisterte Arbeitskollegen eine Kopie davon haben wollten, dachte sich Joon Ho: Das könnte sicher auch eine Nummer größer funktionieren. Drei Jahre später ist seine App „Mango Plate“ Südkoreas beliebtestes Restaurantbewertungstool.
„Seoul ist schlicht das ideale Versuchslabor für internationale Start-ups“, sagt der Enddreißiger, „die Bevölkerungsdichte, das Bildungsniveau der Leute, die Konnektivität – all das ist hier überaus erstaunlich.“ Auf seinem Weg in die Selbstständigkeit entpuppten sich jedoch keinesfalls bürokratische Hürden als größtes Hindernis, auch nicht die finanziellen Risiken. Nein, zuallererst galt es, die eigenen Eltern davon zu überzeugen, seine gut bezahlte und hochangesehene Stelle als Samsung-Angestellter aufzugeben. Ein Problem, mit dem sich Joon Ho nun wiederum als Arbeitgeber konfrontiert sieht: „Es ist definitiv schwierig, die talentiertesten Uniabsolventen für Start-ups zu begeistern. Oftmals werden in Korea Entscheidungen wie die Berufswahl noch immer von den Eltern getroffen.“
Auch deshalb sind die Investitionen der Regierung ein wichtiges Signal: um den Eltern des Landes zu zeigen, dass ihre Söhne und Töchter in einer Branche arbeiten, die zwar wenig Sicherheit bietet, aber durchaus Hand und Fuß hat. In Seoul stellt die Stadtregierung öffentliche Büroräume zur Verfügung und schreibt Stipendien aus.
Gleichzeitig bergen die staatlichen Geldzuschüsse aber auch eine Gefahr: Investiert die Regierung zu lange in die Branche, wird sie den kreativen Humus durch Überregulierungen austrocknen. Steigt sie jedoch zu früh aus, könnte die Start-up-Szene noch vor der ersten Blüte im Keim ersticken. Und überhaupt: Vom Staat diktierte Kreativität, kann das funktionieren?
Die Last der Tradition abschütteln
„Jeder in Südkoreas Start-up-Szene hat in irgendeiner Weise von Regierungsgeldern profitiert“, sagt Richard Min. „Natürlich stehen die Beamten aber auch unter Erklärungsnot, warum sie das Geld der Steuerzahler bei uns investiert haben. Wir brauchen daher mehr Erfolgsgeschichten.“ Min gilt als einer der wenigen, der diese produzieren kann: Als Pionier der Branche betreut er seit über 15 Jahren Start-ups als Coach und Mentor. Er kennt die Regeln wie kein Zweiter, um auf dem südkoreanischen Markt bestehen zu können. Als gebürtiger Amerikaner gehört Richard Min auch zu jenen Rückkehrern, die die Techszene vor allem in ihren Anfängen maßgeblich beeinflusst haben. Natürlich ist dies kein Zufall, kommt ihnen doch die frische Perspektive auf das Heimatland ihrer Eltern zugute.
Um sich von der Last der Tradition zu befreien, geben sich daher die meisten Mitarbeiter in koreanischen Start-ups westliche Vornamen, kommen auch mal in Shorts zur Arbeit und sprechen möglichst informell miteinander. Vor allem aber scheuen sie auch nicht davor zurück, von einer besseren Welt zu träumen – denn das ist letztlich das Versprechen der Start-up-Welt an die südkoreanische Jugend: Dem Broterwerb eine erfüllende Bedeutung verleihen. Dessen ist sich auch Ethan Lee von MyMusicTaste bewusst. Noch erntet er von seinen einstigen Klassenkameraden trotz seines frühen Erfolgs meist Skepsis und fragende Blicke. „Spätestens in fünf Jahren werden sie mich beneiden“, sagt Lee, „nämlich dann, wenn sie endgültig realisieren, dass ihr Job nichts bewirkt, außer großen Firmen Geld zu bringen.“
Fabian Kretschmer berichtet als freier Journalist aus Seoul, u.a. für die taz, Wiener Zeitung und Standard.
IP Länderporträt 3, Oktober 2016 - Februar 2017, S. 18-21