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01. Nov. 2012

Welt und Wahlkreis

Warum es uns an außenpolitischen Experten mangelt

Wer sich mit Außenpolitik beschäftigt, muss reisen. Eine Binsenweisheit mit Folgen. Denn wer viel unterwegs ist, ist wenig bei den Wählern vor Ort und mindert seine Wahlchancen. Wie kann es dennoch gelingen, außenpolitischen Nachwuchs zu gewinnen? Zunächst einmal, indem wir Außenpolitik eine höheren Stellenwert in der Tagespolitik verschaffen.

Wer das Fach „Politik“ mit dem Schwerpunkt „Internationale Beziehungen“ studiert, verfügt sicher über ausreichend Expertise, um als Berater in Sachen Außenpolitik zu reüssieren. Außenpolitiker wird man auf diese Weise aber nicht, weil man Politik nur durch Praxis lernen kann. Vor allem Außenpolitik. Dabei ist es selbstverständlich wichtig, so viel Wissen wie möglich über die Welt, andere Länder, andere Regionen, andere Völker zu sammeln.

Etwa 60 Prozent meiner Arbeit als Außenpolitiker besteht genau darin: Informationen zu sammeln, zu ordnen, zu bewerten. Dabei nutze ich alle verfügbaren Quellen, natürlich auch die Expertise von Think-Tanks, dazu Gespräche mit Mitgliedern der außen- und sicherheitspolitischen „Community“, vor allem aber mit erfahrenen Bundestagskollegen, die sich auskennen in der Welt und über praktische Expertise, d.h. Erfahrung, verfügen.

Allerdings: Die Zahl der erfahrenen Kolleginnen und Kollegen ist begrenzt. Und das hat auch zu tun mit der Art und Weise, wie Politiker oder Abgeordnete rekrutiert und ausgewählt werden. Das geschieht zuerst auf Landes- und lokaler Ebene. Bewerben kann sich jeder und jede. Die Entscheidung über Listenplätze und Wahlkreiskandidaten einer Partei fällt aber zuerst in Vorständen und Delegiertenversammlungen eben dieser Partei im Land und vor Ort. Es versteht sich, dass dabei Delegierte in aller Regel solche Bewerber bevorzugen, die sich vor Ort engagiert haben, von denen man deshalb auch erwarten kann, dass sie sich als Abgeordnete in besonderer Weise um den Wahlkreis und die Probleme vor Ort kümmern werden.

Genau hier liegt das Problem von Abgeordneten, die sich in besonderer Weise um Außen- und Sicherheitspolitik kümmern. Außenpolitiker müssen sich in der Welt auskennen. Sie müssen reisen, andere Länder sehen, mit den Menschen dort – Politikern und „normalen“ Menschen – sprechen, müssen versuchen, die Probleme und Konfliktpotenziale anderer Länder und Weltregionen zu begreifen. Kurz: Sie müssen lernen, die Welt, die Probleme der Welt, die eigenen eingeschlossen, mit den Augen der Anderen zu sehen.

Das kostet Zeit, viel Zeit. Ich selbst habe, seit ich mich in besonderer Weise um Außenpolitik bemühe, Jahr für Jahr zwischen 30 und 60 Tage im Ausland verbracht. Bei meinen Kollegen im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestags ist es ähnlich: Alle sind ständig unterwegs, wobei jeder Kollege und jede Kollegin sich auf bestimmte Länder, Regionen, Organisationen und Sachthemen konzentriert. So entsteht im Auswärtigen Ausschuss, was man mit heutigen Worten „Schwarmintelligenz“ nennen könnte; unverzichtbar für die praktisch-politische Arbeit. Der Außenpolitik, die auf ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit setzt, tut das gut, dem Ansehen des Abgeordneten im Wahlkreis eher selten. Er oder sie ist vor Ort nicht immer und sofort verfügbar.

Empfänge, Gespräche, Ehrungen

Damit nicht genug. So wie deutsche Abgeordnete in andere Länder reisen, um sich dort umzusehen und Gespräche zu führen, so kommen auch Kollegen aus anderen Ländern zu uns und wollen hier Gespräche führen, die ihnen helfen, in ihren jeweiligen Hauptstädten die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das erfordert ständige Präsenz in Berlin auch in so genannten sitzungsfreien Wochen, in denen das Plenum nicht tagt. Das sind dann aber genau die Wochen, in denen ein Wahlkreisabgeordneter zu Hause erwartet wird, wo er sich „zeigen“ muss, aber allzu oft nicht „zeigen“ kann, weil es für diese Abgeordneten sitzungsfreie Wochen nicht gibt.

Nehmen wir die vergleichsweise ruhige sitzungsfreie Woche vom 17. bis zum 21. September 2012. Auf meinem Terminkalender finden sich u.a. folgende Termine: Empfang in der Botschaft Österreichs; Gespräch mit Journalisten über transatlantische Beziehungen; Hintergrundgespräch mit einem Politikmagazin zu den Wahlen in den Vereinigten Staaten; Termin in der American Academy; Gespräch mit dem österreichischen Botschafter, Ehrung des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan (25. Jahrestag seiner berühmten „Tear down this wall“-Rede); Gespräch mit dem Außenminister von Vietnam; Empfang in der chinesischen Botschaft.

Nun könnte man meinen, dass ein Abgeordneter unterscheiden muss zwischen wichtigen und unwichtigen Terminen. Das ist theoretisch richtig, praktisch aber falsch. Natürlich muss ich nicht zu jedem Empfang gehen. Aber bei fast jedem Empfang treffe ich Menschen, mit denen ich mich austausche, von denen ich etwas erfahren und lernen kann, was ich bisher so noch nicht gewusst oder anders eingeschätzt habe. So geht das. Und so, wie ich es erlebt habe und erlebe, so sehen es – wie ich weiß – viele Kollegen, die in der Außen- und Sicherheitspolitik arbeiten. Sie müssen sich – um es zu wiederholen – in der Welt umsehen; sie müssen in Berlin fast immer präsent sein; die Zeit, die sie dem Wahlkreis widmen können, ist begrenzt.

Weil das so ist, sind viele Kolleginnen und Kollegen, wenn es um die Nominierung für eine weitere Legislaturperiode geht, gefährdet. Drei Mal in den vergangenen drei Legislaturperioden hat die sozialdemokratische Fraktion drei junge Außenpolitiker verloren, weil sie von ihrer lokalen Parteibasis nicht wieder nominiert oder auf der Liste schlecht platziert worden sind. Das Argument, dass sie sich nicht genügend um die Probleme vor Ort gekümmert haben, hat dabei – mehr oder weniger deutlich formuliert – eine Rolle gespielt.

Zukunftsthema europäische Selbstbehauptung

Macht es Sinn, darüber zu klagen? Nein. Besser wäre es, wenn es gelänge, der Außenpolitik einen höheren Stellenwert in der Tagespolitik zu verschaffen. Aber das gelingt nur selten, weil Wahlen kaum jemals mit außenpolitischen Themen bestritten und gewonnen werden (die bisher einzige Ausnahme war die Bundestagswahl 1972, als es um die Ost- und Entspannungspolitik ging). Dabei war und ist die Außenpolitik für die Bundesrepublik Deutschland immer von größter Wichtigkeit gewesen. Der Wiederaufstieg Deutschlands nach der Katastrophe von Nazi-Herrschaft und Weltkrieg und nicht zuletzt die Wiedervereinigung unseres Landes sind durch eine kluge Außen- und Sicherheitspolitik möglich und wirklich geworden.

Auch in heutiger Zeit, die beherrscht wird von der Euro-Krise, geht es nicht nur um finanzielle und ökonomische Probleme und nationale Egoismen, sondern vor allem darum, ob sich das europäische Modell von Freiheit und Gerechtigkeit in einer sich verändernden Welt behaupten kann und wird. Wie verändert sich die Welt? Wer sind die Aufsteiger? Wer die Absteiger? Welche Pläne verfolgen die einen und die anderen? Mit welchen Konsequenzen für Deutschland, für das europäische Projekt?

Das sind Fragen, die nicht nur die Politik beschäftigen. Sie berühren unser aller Lebenswirklichkeit, jetzt und in Zukunft. Es liegt auch und sogar in erster Linie an uns, den Außenpolitikern, das große Thema der europäischen Selbstbehauptung zum Thema des (innen-) politischen Diskurses zu machen und damit zur Willensbildung des Volkes beizutragen – wie es das Grundgesetz bescheiden, aber durchaus zutreffend fordert.

Hans-Ulrich Klose ist Stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/ Dezember 2012, S. 30-32

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