Weltspiegel

30. Okt. 2023

Welche Zukunft für Taiwan?

Zwei große Parteien, eine gespaltene Gesellschaft und die Übermacht aus Peking: Bei den Wahlen im Januar steht viel auf dem Spiel – auch für das globale Machtgefüge.

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Bild: DPP-Spitzenkandidat Lai Ching-te
Chinas Kommunisten schlagen eine wirtschaftliche Verflechtung mit der Taiwan gegenüberliegenden Küstenprovinz Fujian vor – für DPP-Spitzenkandidat Lai Ching-te (Mitte) ist das kein gangbarer Weg.
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In Taiwan werden zu Jahresbeginn der Staatspräsident und das Parlament neu gewählt. Auf die Doppelwahl am 13. Januar fällt der Schlagschatten einer Bedrohung, wie sie die um den Fortbestand ihrer autonomen Eigenständigkeit kämpfende Inselrepublik in den 74 Jahren ihrer Geschichte so noch nicht erlebt hat.

Und das mit der nicht bloß spekulativen Aussicht, dass Historiker später einmal diesen Wahtag, unabhängig von seinem Ausgang, als das Datum nennen könnten, an dem das Endspiel um die Zukunft Taiwans mit potenziell umwälzenden Folgen für das regionale Sicherheitsgefüge und die globalen Macht- und Ordnungsverhältnisse begonnen hat.

„The most dangerous place on earth“, titelte der Economist Anfang Mai 2021 zu der Krise um Taiwan. Der Schock, den der russische Angriff auf die Ukraine ein dreiviertel Jahr später auslöste, hat diese schrille Schlagzeile überlagert, aber nicht entkräftet. Das gilt auch für den Vergleich der akuten mit den drei Vorläuferkrisen, die auf die 1949 mit der Gründung der kommunistischen Volksrepublik China und der von den Bürgerkriegsverlierern unter Führung von Chiang Kai-shek nach Taiwan verpflanzten Republik China vollzogene Spaltung folgten. Über die aktive Rolle, die die USA in dem bis heute ungelösten Territorial- und Souveränitätsstreit als Konfliktpartei spielten, hatten sie von Anfang an eine transpazifische Dimen­sion mitsamt der Gefahr, eine direkte Konfrontation zwischen China und Amerika heraufzubeschwören.

Als die Volksbefreiungsarmee (VBA) 1954 und dann wieder 1958 auf Befehl von Mao Tse-tung die dem Festland vorgelagerte Insel Kinmen (Quemoy) angriff und sich monatelange Gefechte mit den Truppen der exilierten Kuomintang-Regierung lieferte, hatten die USA im Gefolge des Korea-Krieges bereits damit begonnen, den Inselstaat als Teil des gegen das kommunistische China gerichteten Bollwerks zum „unsinkable aircraft carrier“ (General MacArthur) aufzurüsten. Die Grundlage dafür war der Ende 1954 zwischen Washington und Taipeh geschlossene Verteidigungspakt. Mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu ­Jahresbeginn 1979, der auf den Kursschwenk der amerikanischen China-Politik und die bereits 1971 von der UN-Vollversammlung beschlossene Aufnahme der Volksrepublik China anstelle der bis dahin auch im Sicherheitsrat vertretenen Republik China folgte, erlosch offiziell auch das Sicherheitsbündnis, nicht aber das strategische Interesse der USA an der Insel.

So kam es zu dem 1979 vom US-Kongress verabschiedeten Taiwan Relations Act (TRA), in dem sich die USA dazu verpflichteten, Taiwan die zur Selbstverteidigung notwendigen Waffen zu liefern, es aber offenließen, ob sie der Inselrepu­blik im Falle eines chinesischen Angriffs darüber hinaus militärisch beistehen würden (strategische Ambivalenz).

Zum ersten Test für das bedingte Schutzversprechen wurde die dritte Taiwan-Krise vor der Wahl von Li Teng-hui zum Staatspräsidenten 1996, mit der bei der ersten demokratischen Wahl eines Staatoberhaupts ebenfalls erstmals ein taiwanstämmiger Kandidat an die Macht kam. Die Abschreckungsmaßnahme, mit der die USA auf die chinesischen Raketentests in der Taiwan-Straße reagierten, erzielte die erwünschte Wirkung, hatte aber eine so nicht vorausgesehene Folge. Denn die von Präsident Bill Clinton angeordnete Entsendung von zwei amerikanischen Flugzeugträgerverbänden in die Taiwan-Straße war als Übermachtdemonstration demütigend genug, um die von China fortan forciert betriebene Aufrüstung in Gang zu setzen, mit der sich die militärischen Kräfteverhältnisse im Pazifik innerhalb von zwei Jahrzehnten in Richtung eines Gleichgewichts des Schreckens verschoben haben.



Die Interessen der Anderen

In der aktuellen vierten Krise, die 2020 mit der überlegenen, dem chinesischen Vorgehen gegen die Protestbewegung in Hongkong geschuldeten Wiederwahl der nun scheidenden Präsidentin Tsai Ing-wen begann (von Peking als Separatistin gebrandmarkt) und seit dem Taiwan-Besuch der damaligen Sprecherin im US-Repräsentantenhaus Nancy Pelosi Anfang August 2022 eskaliert, ist die sogenannte Taiwan-Frage über die transpazifische Dimension hinaus der explosive Knoten, in dem sich die globalen Konfliktlinien kreuzen. Und weil es in der Schlüsselregion, die immer stärker ins Zentrum des Weltgeschehens rückt, um die Zukunftsfähigkeit einer regelbasierten, Sicherheit und Frieden garantierenden Weltordnung und das Recht auf Selbstbestimmung geht, kommen auch die Europäer im eigenen, auch wirtschaftlichen Interesse an dem bedeutenden Hightech-Standort Taiwan nicht darum herum, sich in dem Konflikt eindeutig zu positionieren – und das nicht nur rhetorisch.

 

Die Taiwan-Frage ist der explosive Knoten, in dem sich die globalen Konflikt­linien kreuzen

 

Als der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping die strategische Geduld aufkündigte, die unter seinen beiden Amtsvorgängern Jiang Zemin und Hu Jintao den Umgang mit Taiwan noch weitgehend bestimmt hatte, hatte er zwei miteinander verbundene Kernanliegen des von ihm propagierten „Chinesischen Traums“ im Visier: den als „Wiedervereinigung“ reklamierten Anschluss Taiwans, der nicht länger von einer Generation zur nächsten vertagt werden dürfe, und den spätestens bis zum 100. Gründungsjubiläum der Volksrepublik zu verwirklichenden Aufstieg Chinas zu einer aufgrund seiner wirtschaftlichen und militärischen Stärke führenden Weltmacht. Zumindest kartografisch ist die von Peking angestrebte „Pax Sinica“ im regionalen Umfeld bereits Realität. Die im August von der Regierung veröffentlichte neue „standardisierte nationale Karte“ weist über das zu rund 80 Prozent beanspruchte Südchinesische Meer erstmals auch die im Westpazifik zwischen Japan und den Philippinen strategisch exponierte Insel Taiwan als chinesisches Hoheitsgebiet aus.

Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, ist in der im August 2022 unmittelbar nach dem Taiwan-Besuch von Nancy Pelosi veröffentlichten Neuauf­lage des Weißbuchs „The Taiwan Question and China’s Reunification in the New Era“ zusammengefasst. Es erklärt die Vereinigung mit Taiwan zur „unabdingbaren“ Voraussetzung für die – nicht demografisch gemeinte – „nationale Verjüngung“ Chinas, verbunden mit der Kampfansage an die USA, die es unter dem „Rauchschleier des Schutzes von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und der internationalen Ordnung“ darauf abgesehen hätten, mit Taiwans Sezessionisten als Partnern „China einzudämmen und seine nationale Verjüngung zu blockieren“.

Ebenso kühn konstruiert wie die den historischen Fakten widersprechende Begründung, wonach die Insel, abgesehen von den 50 Jahren japanischer Kolonialherrschaft (1895–1945), seit dem 17. Jahrhundert fest im chinesischen Reich verankert gewesen sei, ist die Inanspruchnahme der Vereinten Nationen für die völkerrechtliche Verbindlichkeit des Ein-China-Prinzips. Tatsächlich haben die UN mit der im Oktober 1971 verabschiedeten Resolution 2758 zwar der Regierung in Peking den Alleinvertretungsanspruch für China zuerkannt, zu dem Territorial- und Souveränitätsstreit aber mit keinem Wort Stellung bezogen. Aber selbst wenn das anders gewesen wäre, bliebe die von China als äußerstes Mittel angedrohte Annexion Taiwans in jedem Fall ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht.



Militärische Machtdemonstration

„Heute Hongkong, morgen Taiwan“. Die Lunte begann im Sommer 2020 zu brennen, als Peking nach dem gewaltsamen Ende der monatelangen Massenproteste Hongkong das heftig umkämpfte nationale Sicherheitsgesetz aufzwang und damit die Freiheitsrechte aushebelte, die Peking den Hongkongern unter dem auch heute noch Taiwan zugedachten Konzept „Ein Land, zwei Systeme“ vertraglich zugesichert hatte.

 

Bis zu über 100 chinesische Jets dringen täglich in taiwanischen Luftraum ein und riskieren damit un­beabsichtigte Zwischenfälle, die unvorhersehbare

Folgen haben können

 

In der Beinahe-Kriegssituation vor der Januar-Wahl gehört der Brandgeruch für die knapp 24 Millionen Taiwaner nun zum alltäglichen Leben. Aus den Großmanövern der VBA rund um die Insel, die auf den Pelosi-Besuch folgten, ist das offensichtlich auf Permanenz angelegte Furioso militärischer Machtdemonstration von Marine und Luftwaffe geworden. Mit den bis zu über 100 chinesischen Jets, die täglich in die taiwanische Luftraumüberwachungszone (Air Defense Identification Zone) eindringen beziehungsweise die vor der Krise auch von China als inoffizielle Grenze beachtete Mittellinie in der Taiwan-Straße überfliegen, hat sich auch das Risiko von unbeabsichtigten ­Zwischenfällen mit unvorhersehbaren Folgen vervielfacht.

Auch wenn angesichts der veränderten militärischen Kräfteverhältnisse von Taiwan als „unsinkbarem Flugzeugträger“ nicht mehr die Rede sein kann, ist der assoziative Rückgriff auf die Metapher aus den 1950er Jahren in den USA aussagekräftig und bezeichnend für den verhängnisvollen Rückfall in die konfrontative Militanz gegenüber China, die in den USA bei Demokraten wie Republikanern inzwischen den Ton bestimmt. Dazu passt, wie Präsident Joe Biden wiederholt und öffentlich mit der Möglichkeit einer direkten militärischen Intervention an der Seite Taiwans spielt und damit, wie in Peking geargwöhnt wird, von einer zentralen, Vertrauen stiftenden Zusage abrückt. Das Schutzversprechen im TRA hatte der Kongress nämlich an die für Taipeh und Peking bestimmte Bedingung geknüpft, dass die Insel nicht von sich aus einseitig Fakten schafft und sich für unabhängig erklärt.

Die Suche nach Antworten auf die Frage, wie sich die permanente Bedrohung Taiwans in Abwehr- und notfalls Kampfbereitschaft übersetzt, führt zu zum Teil irritierend widersprüchlichen Befunden. Bemerkenswert ist zunächst die disziplinierte Normalität, die weiterhin das Alltagsleben auf der Insel prägt und kaum Anflüge von gesteigerter Nervosität, geschweige denn Kriegshysterie erkennen lässt. Diese Resilienz, die sich die Taiwaner in ihrer immer wieder von Krisen geschüttelten jüngeren Geschichte angeeignet haben, ist aber nicht mit Sorglosigkeit zu verwechseln. Wie die Meinungsumfragen zeigen, hat nicht erst der Krieg in der Ukraine eine deutliche Mehrheit in der Bevölkerung dazu gebracht, einen chinesischen Angriff für eine reale, wenn auch nicht – und das gilt selbst heute noch – für eine unmittelbar drohende Gefahr zu halten.



Eine gespaltene Gesellschaft

In dieser extrem angespannten Lage gibt die politische Klasse Taiwans in ihrer Zerstrittenheit allerdings ein fatales Bild ab. Statt gemeinsam nach innen und außen ein starkes Signal der Geschlossenheit gegenüber der chinesischen Bedrohung auszusenden, setzen die beiden führenden Großparteien auch in diesem Wahlkampf ihre chinapolitischen Grabenkämpfe fort und erleichtern damit den von Peking zur Spaltung der Gesellschaft betriebenen Einfluss- und Desinformationskampagnen noch das Geschäft.

 

Zwei Parteien ­beherrschen die Wahlen mit „Krieg oder Frieden“ und ­„Demokratie oder Autoritarismus“

 

Taiwan stehe vor der „Wahl zwischen Krieg und Frieden“, heißt es bei der nationalchinesischen Kuomintang (KMT). Das ist die auf dem chinesischen Festland geborene Partei, die sich am Ende des Bürgerkriegs nach Taiwan rettete und die Insel vier Jahrzehnte lang mittels Kriegsrecht regierte. Für die regierende Demokratische Fortschrittspartei (DPP), die ihre Wurzeln in der Demokratie- und Unabhängigkeitsbewegung der Taiwaner hat, stehen die Wähler vor der Alternative, sich für „Demokratie oder Autoritarismus“ zu entscheiden. Das sind die programmatischen Linien, mit denen sich beide Parteien seit jeher im politischen Konkurrenzkampf zu diskreditieren versuchen: die KMT die DPP – durchaus im Sinne Pekings – als Provokateur, der die Insel ins Verderben stürzt, und die DPP umgekehrt die KMT als Verfechter eines Anpassungskurses, der zur Selbstaufgabe Taiwans führe.

Die politischen Pendelschwünge – im Jahr 2000 erstmals zur DPP, 2008 zurück zur KMT bis zum abermaligen Machtwechsel von 2016 – erklären sich aus den beiden Polen, an denen sich das Wählerverhalten bis heute orientiert. Auf der einen Seite das neue Selbstverständnis der Taiwaner, das sich innerhalb von 30 Jahren beschleunigt zu einer postethnischen, auf der eigenen Geschichte, Kultur und der liberal demokratischen Gesellschaftsordnung gegründeten Identität verfestigt hat. Weitgehend übereinstimmenden Umfragen zufolge (Stand Sommer 2022) definieren sich etwa zwei Drittel der Bevölkerung als „taiwanisch“ (1992 nur 17 Prozent), von den unter 30-Jährigen sogar über 80 Prozent. Im gleichen Verhältnis ist der Anteil derer geschrumpft, die sich als Taiwaner und Chinesen (ca. ein Drittel) beziehungsweise als Chinesen (unter 10 Prozent) bezeichnen.

Ebenso ausgeprägt ist auf der anderen Seite die Präferenz für eine China-Politik, die den Risiken einer Konfrontation mit Peking möglichst aus dem Weg geht. Dem entspricht, dass im Vergleich zu den rund 75 Prozent, die sich für die Wahrung des Status quo aussprechen, die Befürworter einer Unabhängigkeitserklärung mit ­weniger als 10 Prozent eine ebenso ­marginale Größe darstellen wie diejenigen, die einer baldigen Vereinigung mit China das Wort reden.

Aus dieser Mischung von grundsätzlichem Selbstbehauptungswillen und Risiken vermeidender Vorsicht haben die beiden führenden Parteien bei Wahlen politisches Kapital geschlagen und der Bevölkerung Versprechungen gemacht, die sich als nicht einhaltbar erwiesen haben. Nachdem Ma Ying-jeou, der KMT-Vorgänger (2008–2016) der amtierenden Präsidentin, auf Verständigungskurs einschwenkte und mit Peking das Economic Framework Agreement (ECFA) abgeschlossen hatte, sah er ein „goldenes Jahrzehnt“ für Taiwan heraufziehen. Den Preis, den er dafür zahlte, war die Einigung auf die Kompromissformel, die sich Emissäre der KMT und der KP ­Chinas schon viel früher ausgedacht hatten. Darin bekennen sich beide Seiten grundsätzlich zur Einheit der chinesischen Nation, geben aber gleichzeitig zu Protokoll, in der Frage, wann und unter welchen Bedingungen sie zu erreichen sei, unterschiedliche Auffassungen zu haben. Der Anlauf in Richtung eines Status quo minus war gescheitert, als die jungen Aktivisten der „Sonnenblumen-Bewegung“ 2014 in Taipeh aus Sorge vor einem wirtschaftlichen Ausverkauf der Insel das Heft in die Hand nahmen und per Parlamentsblockade die Ratifizierung eines ECFA-Nachfolgeabkommens vereitelten.

Bei den Feierlichkeiten von 2017 zum 30. Jahrestag der Aufhebung des Kriegsrechts – die Geburtsstunde der Demokratie in Taiwan – war es Mas Nachfolgerin Tsai Ing-wen, die versprach, alles dafür zu tun, dass sich in den nächsten 30 Jahren niemand mehr Sorgen um die Zukunft der selbstbestimmten Eigenstaatlichkeit der Insel machen müsse. Das war die Politik in Richtung eines Status quo plus – ver­standen als eine Wanderdüne mit dem Ziel, Taiwan über ein dicht geknüpftes Netz informeller Beziehungen (die Inselrepublik wird heute nur noch von 13 kleinen Staaten diplomatisch anerkannt) zu mehr Geltung und Mitwirkung auf der internationalen Bühne zu verhelfen und die De-facto-­Unabhängigkeit unumkehrbar zu machen. Das war eine Rechnung ohne den Faktor Xi Jinping. Nach Tsais Abkehr vom Bekenntnis zur Einheit der Nation kappte Peking die offiziellen Kommunikationskanäle mit Taipeh und setzte fortan auf Isolierung und Einschüchterung.



Mit Provokation und Abschreckung

Das Ultimatum, das die Pekinger Führung den 19 Millionen taiwanischen Wählern und den Kandidaten für Parlament und Präsidentenamt für den 13. Januar gestellt hat, lautet kurzgefasst: Es gibt für Taiwan keine Zukunft ohne China, die Zeit läuft ab, und der einzige Weg zu einer Verständigung ist das unkonditionierte Bekenntnis zur Einheit der Nation. Welche Szenarien ergeben sich daraus und was folgt daraus für die Rolle und das politische Handeln Europas in dem Konflikt?

Die Gefahr eines Krieges um Taiwan ist und bleibt real. Sie ist umso größer, je länger die Diplomatie versagt und sich zwischen China und den USA die auf das Militärische fixierte Eskalationsspirale von Provokation und Abschreckung weiterdreht. Dazu tragen auch die Spekulationen von führenden amerikanischen Militärs bei, in denen es nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wann eines Kriegsausbruchs geht. Tatsächlich aber gibt es keine belastbaren Erkenntnisse darüber, dass Peking ein in seinem Ausgang und seinen Folgen so unkalkulierbares Abenteuer, wie es die Invasion der Insel sein würde, bereits im Terminkalender hat.

Als gesichert kann jedoch gelten, dass Xi Jinping von dem massiven Druck auf Taiwan nicht ablassen, sondern ihn je nach Ausgang der Wahl noch verstärken wird. Der Spitzenkandidat der KMT für das Präsidentenamt, Hou Yu-ih, bisher nur als eine kommunalpolitische Größe bekannt, sieht sich in der Tradition der Verständigungspolitik von Ma Ying-jeou. Sollte er entgegen dem Umfragetrend wenige Monate vor der Wahl tatsächlich das Rennen machen, würde sich die chinesische Führung kaum mit dem Rückgriff auf die alte Verständigungsformel zufriedengeben, sondern auf einem Fahrplan für den Einigungsprozess bestehen. Nicht von ungefähr haben der Staatsrat und das Zentralkomitee der KP im September dazu ein Angebot vorgelegt, das die Taiwan gegenüberliegende Küstenprovinz Fujian zum Experimentierfeld für die integrierte wirtschaftliche Entwicklung machen soll.

Für die DPP und ihren in den gleichen Umfragen vorn platzierten Spitzenkandidaten, den amtierenden Vizepräsidenten Lai Ching-te, ist das um ihrer Glaubwürdigkeit willen kein gangbarer Weg. Das muss nicht im Krieg enden. Zu erwarten ist aber, dass Peking alle sonst zur Verfügung stehenden Mittel ausschöpfen wird – etwa die Teilblockade von Handels- und Versorgungswegen, Zugangs­beschränkungen zu dem für Taiwan immer noch wichtigsten chinesischen Markt bis hin zum Cyberkrieg –, um die Insel in die Knie zu zwingen.



Lücke zwischen Rhetorik und Handeln

Die im Sommer verabschiedete China-

Strategie der Bundesregierung macht drei Aussagen zu Taiwan. Zunächst zur unverändert geltenden Verpflichtung auf die Ein-China-Politik, wonach die Regierung in Peking die alleinige rechtmäßige Vertretung Chinas ist. Gleichwohl bekräftigt die Bundesregierung die Absicht, die „in vielen Bereichen bestehenden engen und guten Beziehungen“ zu Taiwan weiter auszubauen – das bezieht sich auf die mit der Insel gepflegte Wertepartnerschaft ebenso wie auf die wirtschaftliche Bedeutung, die Taiwan vor allem als führender Halbleiterhersteller spielt. Mit der dritten, auf das Völkerrecht gestützten Aussage, dass „eine Veränderung des Status quo in der Straße von Taiwan nur friedlich und im gegenseitigen Einvernehmen erfolgen darf“, stellt sich Deutschland ausdrücklich gegen das von Peking einseitig reklamierte Ein-China-Prinzip, das die Taiwan-Frage und den Weg zu ihrer Lösung zu einer rein innerchinesischen Angelegenheit erklärt.

 

Die EU hat keine gemein­same Position zum Taiwan-Konflikt. Im Ernstfall könnte er zu einem trans­atlantischen Problem werden, wenn die USA echte Solidarität einfordern

 

In der Einschätzung der gravierenden sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Folgen eines Krieges um Taiwan herrscht zwar Einmütigkeit. Das setzt sich aber nicht in eine entschiedene gemeinsame europäische Position im Umgang mit diesem Konflikt um. Entsprechend groß ist die Lücke zwischen Rhetorik und praktischem Handeln, das im Zweifelsfall von Opportunitätserwägungen in Richtung Peking geleitet wird. Wie das eine über das Symbolische hinausgehende sub­stanzielle Unterstützung Taiwans behindert, zeigt die von der EU-Kommission vor einigen Jahren ins Spiel gebrachte, nun aber wieder zurückgezogene Initiative für ein europäisch-taiwanisches Investitionsschutzabkommen. Da die Inselrepublik seit 2002 mit chinesischer Zustimmung nicht unter ihrem offiziellen Staatsnamen, sondern als unabhängiges Zollgebiet der Welthandels­organisation angehört, wäre ein solches Abkommen unter Verwendung der gleichen Bezeichnung kein Verstoß ­gegen die Ein-China-Politik.

Ebenso bleiben die aus Europa an Peking gerichteten Warnungen vor dem Einsatz militärischer Gewalt gegen Taiwan zahnlos, solange sich das auf die unbestimmte Ankündigung beschränkt, dass ein Angriff nicht unbeantwortet bleiben würde. Ein transatlantisches Problem könnte daraus werden, wenn die USA im Ernstfall von der EU ein vergleichbares Maß an Solidarität einfordern, wie es Amerika im Ukraine-Krieg zeigt – nicht militärisch, aber mit harten Sanktionen.

Worauf es ankommt, hat die amerikanische Politikwissenschaftlerin und Taiwan-Expertin Bonnie Glaser in einem Interview pointiert zum Ausdruck gebracht: „Wir haben unseren Job gut gemacht, wenn Xi jeden Morgen beim Aufwachen denkt: Heute ist nicht der richtige Tag, Taiwan anzugreifen.“ Von einem Schulterschluss mit dieser Wirkung sind die EU und die USA weit entfernt.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2023, S. 103-110

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Jürgen Kahl ist Journalist. Als Korrespondent hat er zwölf Jahre lang aus und über Ostasien berichtet und gehört zum Autorenteam der Neuen

Zürcher Zeitung.

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