Wegweiser für eine komplexe Welt
Ist die internationale Ordnung am Ende, und wenn ja: Wie sähe eine neue aus? Antwort: Es ist kompliziert. Doch wie Deutschland künftig agieren sollte: Das lässt sich sagen.
Donald Trumps Umgang mit der internationalen Ordnung entspricht in etwa dem Benjamin Netanjahus mit dem Gazastreifen: Erst alles zertrümmern, dann sieht man weiter. Aber ist das Ergebnis von Trumps Abrisspolitik auch eine einzige Trümmerlandschaft?
Zwar ist derzeit viel die Rede vom Zusammenbruch der internationalen Ordnung, aber die Wirklichkeit ist komplizierter. Um das zu verstehen, müssen wir zunächst klären, was das eigentlich ist: die internationale Ordnung. Dabei gilt es, drei Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Das erste betrifft das Wesen der internationalen Ordnung: Sie beruht zwar auf den Machtbeziehungen zwischen den Mitgliedern dieser Ordnung, insbesondere den großen Mächten, aber ist damit nicht hinreichend beschrieben. Dazu braucht es die Feststellung, welche Prinzipien und Werte der Ordnung zugrunde liegen.
Das zweite Missverständnis betrifft die Natur der internationalen Ordnung. Diese Ordnung besteht in Wirklichkeit aus einer Vielzahl von Teilen. Sie ist die Summe dieser Teile und zugleich mehr: Sie ist Einheit und Vielheit. Sie ist universal, umfasst also die gesamte Staaten- und Gesellschaftswelt mit ihren rund acht Milliarden Menschen, einschließlich ihrer zwischenstaatlichen oder transnationalen Interaktionen. Hinzu kommt, dass diese Ordnung hochgradig ausdifferenziert ist: Sie umfasst eine Vielzahl von Teilordnungen mit jeweils spezifischen Beschränkungen ihrer Reichweite, seien diese geografischer oder funktionaler Natur – oder beides.
Das dritte Missverständnis besteht darin, die internationale Ordnung als eigenständig zu betrachten und ihre Bedingtheit zu vernachlässigen. Tatsächlich ist die Ordnung wesentlich geprägt durch ihre Verankerung in den innenpolitischen Ordnungen ihrer Mitglieder, insbesondere in denen der großen Mächte, die sie stützen.
Weltmacht auf dem Rückzug?
Die Machtbeziehungen zwischen den Staaten oder, allgemeiner gefasst, den Akteuren jeglicher Ordnung bilden zwar die Grundlage der internationalen Ordnung, sind aber nicht identisch mit ihr. Ob eine solche Ordnung uni-, bi-, multi- oder apolar ist, hat natürlich Bedeutung für ihre Ausprägungen. Aber Ordnungen umfassen nicht nur die ihnen zugrunde liegenden Machtbeziehungen, sondern auch die handlungsleitenden Prinzipien und Normen sowie die außenpolitischen Orientierungen der beteiligten Staaten.
Die internationale Ordnung des Kalten Krieges war bipolar und funktionierte nach den Prinzipien der Systemkonkurrenz, des Sicherheits- und Machtdilemmas und der durch das nukleare Gleichgewicht des Schreckens erzwungenen friedlichen Koexistenz der Supermächte und ihrer Blöcke. Die unipolare Weltordnung von 1990 bis 2022 war liberal, das europäische Mächtekonzert des 19. Jahrhunderts war multipolar, kolonialistisch, wirtschaftsliberal und autoritär. Dass sich die Mächtekonfiguration von einer bipolaren (Ost-West-Gegensatz) nach 1990 zu einer unipolaren entwickelte, ist Allgemeingut. Dagegen ist umstritten, wie sich diese Konfiguration seit etwa 2010 verändert und wohin diese Veränderungen tendieren.
Bis vor Kurzem sah es so aus, als würde die sich abzeichnende Ordnung bipolar sein. Es gab in dieser Konstellation nur zwei wirkliche Weltmächte, die USA und China. Perspektivisch könnte Indien in diese Liga aufsteigen, doch wird das selbst im günstigsten Fall noch einige Zeit dauern. Russland verfügt über eine zu einseitig militärisch ausgerichtete Machtbasis, es fehlen ihm die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Machtressourcen für eine Weltmachtrolle. Die EU dagegen hat zwar die Ressourcen, aber nicht den kollektiven politischen Willen, eine solche Rolle auszufüllen.
Europa hat die Ressourcen, aber nicht den kollektiven politischen Willen, eine Weltmachtrolle auszufüllen
Seit Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus steht Amerikas Zukunft als Weltmacht allerdings infrage. Zum einen verfolgen Trump und seine MAGA-Gefolgsleute widersprüchliche Zielsetzungen, soweit bei ihnen überhaupt so etwas wie eine strategische Perspektive auf die Weltpolitik zu erkennen ist. Der eine Teil steuert einen eher isolationistischen Kurs, demzufolge sich Amerika in eine Einflusszone in der westlichen Hemisphäre zurückziehen würde. Der andere ist fixiert auf die Rivalität mit China. Ein geradezu reflexhafter Anspruch auf den Status der führenden Weltmacht steht also im Widerspruch zu Rückzugstendenzen.
Schwerwiegender dürfte allerdings die massive Beschädigung der amerikanischen Machtgrundlagen durch eine Regierung sein, die eine toxische Mischung aus ideologischer Verbohrtheit, krasser Inkompetenz und dem Einfordern vasallenhafter Nibelungentreue verkörpert.
Auch die amerikanische Militärmacht bleibt nicht verschont: Die eklatante Unfähigkeit von Verteidigungsminister Pete Hegseth, die Streitkräfte zu führen, schadet der Reputation und der Moral des US-Militärs; die Personalentscheidungen der Trump-Regierung bei der Besetzung von Führungspositionen in den Streitkräften und der bizarre Feldzug gegen den dort vorgeblich herrschenden linksliberalen („woken“) Geist machen es nicht besser. Käme es unter dieser Regierung zur freiwilligen Abdankung oder, wahrscheinlicher, zu einer nachhaltigen Beschädigung der Machtgrundlagen Amerikas, bliebe China als einzige Weltmacht übrig.
Die heutige internationale Ordnung kennzeichnet ein historisch einmaliges Ausmaß an globalen Wirtschaftsverflechtungen, auch zwischen den Weltmächten Amerika und China. Die rasante Innovationsdynamik der Gegenwart schafft ein hohes Maß an Volatilität und Ungewissheit.
Eine Rückabwicklung der Globalisierung ist unvorstellbar, wenngleich sich ihre Ausprägungen verändern dürften. Die Dynamik der technologischen Innovation könnte sich aufgrund zweier systemischer Wettbewerbe – zwischen amerikanischen und chinesischen Tech-Konzernen und zwischen den militärisch-technologisch-wirtschaftlichen Komplexen der beiden Staaten – weiter beschleunigen.
Die Grundzüge einer internationalen Ordnung ergeben sich allerdings nicht nur aus der ihr zugrunde liegenden Machtkonfiguration, sondern auch aus den in dieser Ordnung handlungsleitend wirkenden Prinzipien, Normen und Verhaltensregeln. Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen kodifizierten Prinzipien und Normen, die breite Anerkennung finden und somit Legitimität stiften und Gefolgschaft mobilisieren können, und den Prinzipien und Normen, denen die Beteiligten tatsächlich folgen. Letztere können, müssen aber nicht mit ersteren übereinstimmen. Wird die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu groß, entstehen für diejenigen, die sich nicht an die vereinbarten Prinzipien, Normen und Regeln halten, Legitimationsprobleme.
Gleichviel, ob sich die Weltpolitik auf eine eher bi- oder eine eher unipolare Weltordnung zubewegt: Es wird eine Ordnung mit wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Abhängigkeiten sein. Das schließt allerdings nicht aus, dass ausgeprägt einseitige Abhängigkeiten zurückgefahren werden und sicherheits- und machtpolitische Erwägungen beim Management von Interdependenz eine größere Rolle spielen.
Erhalten bleiben dürften auch grundlegende Konflikte zwischen nuklear bewaffneten Staaten und Großmächten und damit die Gefahr eines womöglich zivilisationszerstörenden Atomkriegs. Der Einsatz von Kern- und anderen Massenvernichtungswaffen wird prinzipiell ein Tabu bleiben; das könnte allerdings an Bindewirkung verlieren, je weiter wir uns zeitlich von den Zerstörungen Hiroshimas und Nagasakis entfernen.
Auch andere zentrale Prinzipien, Normen, Verfahrensweisen und Institutionen der gegenwärtigen internationalen Ordnung dürften erhalten bleiben. Denn es gibt derzeit nur unterschiedliche Interpretationen der UN-basierten Ordnung, aber keine echten Gegenentwürfe.
Die Volksrepublik China, die ihren Aufstieg zu großen Teilen der liberalen internationalen Ordnung seit 1990 verdankt, hat erkennbar großes Interesse daran, diese Ordnung fortzuschreiben und umzudeuten, anstatt sie abzuschaffen, wie das der Trump-Regierung vorzuschweben scheint. So hat sich Peking als Wortführer einer globalisierten Weltordnung positioniert, die es ihm ermöglicht hat, Hunderte Millionen Chinesen aus der Armut zu befreien und gewaltige Exportüberschüsse zu erzielen. Die Elemente der Ordnung, die China stören, wie Demokratie und Menschenrechte, versucht Peking in seinem Sinne umzudeuten und auszuhebeln.
Chinas Interpretation betont den Vorrang der nationalstaatlichen Souveränität und der Nichteinmischung in innere Belange anderer Staaten. Dass die Volksrepublik das nicht so eng sieht, wenn es in ihrem Interesse liegt, lässt sich an den illegalen chinesischen Polizeistationen in mehr als 50 Ländern weltweit ablesen. Dem gegenüber steht die liberaldemokratische Interpretation dieser Ordnung, die bislang von den USA mit ihren westlichen Verbündeten verfochten wurde; Trump hat Amerika nun aus der Führungsrolle dieser Koalition herausgezogen und damit die Frage aufgeworfen, wer sie in Zukunft einnehmen wird. Die Europäische Union hat ihren Anspruch bereits angemeldet.
Lauter Teilordnungen
Die internationale Ordnung ist die umfassendste universale Ordnung. In ihr ist die Gesamtheit der grenzüberschreitenden Interaktionen staatlicher und nichtstaatlicher Akteure eingebettet. Sie ist politisch verfasst in der Charta und den Institutionen der UN; diese verfügen über legislative, exekutive und judikative Organe, die allerdings von der Ermächtigung durch die Mitgliedstaaten abhängig sind und nur in beschränktem Maße über das verfügen, was man in der Politikwissenschaft als Akteursqualitäten bezeichnet.
Schon eine oberflächliche Betrachtung der UN-Institutionenfamilie zeigt allerdings, dass unter ihrem Dach eine Vielzahl von spezifischen Aufgaben bearbeitet werden. Lediglich die Generalversammlung und der Sicherheitsrat (mit legislativen Aufgaben), der Generalsekretär nebst Sekretariat (die „Exekutive“) und der Internationale Gerichtshof (die „Judikative“) haben breite allgemeine Zuständigkeiten. Andere, wie Weltbank, IWF oder WTO, verfügen über Zuständigkeiten in spezifischen funktionalen Teilbereichen.
Unterhalb der UN, auf der Ebene der großen Regionen, lassen sich funktional spezialisierte Teilordnungen von solchen unterscheiden, die breite Zuständigkeiten haben, wie etwa die EU oder die Afrikanische Union. Die dritte, unterste Ebene bilden die nationalstaatlichen Ordnungen, auf denen die beiden anderen Ebenen aufbauen. Dabei ist es das Prinzip der nationalstaatlichen Souveränität, das die drei Ebenen verbindet: Die Staaten üben ihre Souveränität sowohl in regionalen oder funktionalen Teilordnungen als auch in „der“ internationalen Ordnung aus. So gestalten die Staaten die Interaktionen im Rahmen dieser Ordnungen wie auch die Ordnungen selbst. Das gilt auch dann, wenn sie bestimmte Aspekte ihrer Souveränitätsrechte an supranationale Organisationen wie die EU übertragen.
Zu erwarten ist ein Interregnum mit Inseln relativer Ordnung in Meeren von relativem Chaos und wachsender Unsicherheit
Selbst Umwälzungen in der internationalen Ordnung werden vor diesem Hintergrund stets Wandel und Kontinuitäten gleichermaßen aufweisen. Während sich einige Teilordnungen zuletzt rasch verändert haben, blieben andere von Umwälzungen weitgehend verschont. Diese Vielschichtig- und Gleichzeitigkeit ist einer der Gründe dafür, warum die Bewertung der Veränderungen der internationalen Ordnung komplizierter ist als oft behauptet.
Einige Beispiele. Während die europäische Sicherheitsordnung spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 durch eine fundamental andere, gewaltbasierte Ordnung abgelöst wurde, funktionieren andere regionale Sicherheitsordnungen – etwa in Lateinamerika oder Zentralasien – im Kern weiter wie zuvor. Die Sicherheitsordnung in Ostasien ist fragiler geworden, hält aber Stand. Die funktionalen Ordnungen des Welthandels oder die globale Nuklearordnung erleben seit Längerem einen grundlegenden Wandel, während die internationale Währungsordnung bis vor Kurzem recht reibungslos zu funktionieren schien.
Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser vielschichtigen internationalen Ordnung sind Wechselwirkungen zwischen ihren Teilelementen. Diese transportieren stabilisierende wie destabilisierende Einflüsse über vielfältige Transmissionsriemen horizontal und vertikal in andere Teile der internationalen Ordnung hinein.
Was bedeutet das für die aktuelle Weltpolitik? Sie sieht sich konfrontiert mit den Bestrebungen dreier großer Mächte, die internationale Ordnung fundamental neu auszurichten. Die US-Regierung von Donald Trump und das Russland Wladimir Putins zielen auf die Zerstörung der Ordnung und möglichst viele ihrer Teilordnungen ab, um ihre eigene Position aufzuwerten und den persönlichen Machtanspruch ihrer Präsidenten zu befriedigen. Plausible längerfristige Ordnungsentwürfe für die Weltpolitik sind dabei nicht erkennbar.
China dagegen verfolgt nicht die Zerstörung, sondern den Umbau der liberalen internationalen Ordnung im Sinne seiner eigenen langfristigen Zielsetzungen; Peking ist daher vorsichtiger und eher geneigt, innerhalb der bestehenden Teilordnungen zu agieren. Strategisches Ziel ist eine internationale Ordnung, die den Machterhalt der Kommunistischen Partei außenpolitisch absichert. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ziele teilen alle drei Regime das Interesse an der Demontage der liberalen internationalen Ordnung; Bündnisse oder taktische Allianzen wie zwischen Russland und China werden daher auch weiterhin eine Rolle spielen.
Widerstand erfahren die Großmächte dabei durch andere Mächte, die entweder die liberale internationale Ordnung in ihrem Kern bewahren oder sie in andere Richtungen verändern wollen als die drei Großmächte. Die erste Gruppe besteht aus liberalen Demokratien in Europa und dem ostasiatisch-pazifischen Raum, die zweite aus Staaten des Globalen Südens. Diese fordern eine grundlegende Reform der Ordnung im Sinne eines Ausgleichs zwischen armen und reichen Staaten, bei dem die Großmächte keinen dominierenden Einfluss mehr haben sollten. China posiert als Wortführer des Südens, seine Solidarität hält sich allerdings in engen Grenzen. Faktisch agiert die Volksrepublik wie eine traditionelle Großmacht, die ihren weltpolitischen Einfluss optimieren will. Ein wichtiges Prinzip ist das der exklusiven Einflusszonen, die Peking, Moskau und Washington für sich beanspruchen.
Probleme erwachsen für die revisionistischen Großmächte nicht nur aus den Beharrungstendenzen innerhalb der Teilordnungen, sondern auch aus den Wechselwirkungen zwischen diesen Tendenzen und den unbeabsichtigten Nebeneffekten der Politiken der Großmächte. So bemüht sich China seit Jahren, die internationale Währungsordnung zugunsten der eigenen Währung, dem Renminbi, zu verändern und die dominierende Rolle des US-Dollars zurückzudrängen. Diese Bemühungen waren bislang wenig erfolgreich. Allerdings könnte Donald Trump mit seiner erratischen Zollpolitik die Position des Dollars und die Stabilität der internationalen Finanz- und Währungsordnung gefährden.
Es gibt noch zwei weitere Charakteristika der internationalen Ordnung, die dazu beitragen, die Handlungsmöglichkeiten der Großmächte einzuschränken: Machtdiffusion und die Asymmetrien zwischen konstruktiver und destruktiver Machtanwendung. Die Machtdiffusion hat dazu geführt, dass sich die Zahl der relevanten Akteure exponentiell vervielfacht hat – bis hin zu Einzelpersonen, die erheblichen Einfluss nehmen, im Guten (George Soros) wie im Schlechten (Osama Bin Laden). All das erschwert die Durchsetzung politischer Entscheidungen und die Steuerung globalgesellschaftlicher Prozesse im Sinne gemeinsamer Ziele. Die amerikanischen Erfahrungen im Irak und in Afghanistan, die russischen in Afghanistan und der Ukraine und die chinesischen gegenüber Taiwan haben, so unterschiedlich sie sind, eines gemeinsam: Sie unterstreichen den Befund, dass es heute wesentlich leichter ist, gewaltige Zerstörungen zu verursachen, als Entwicklungen konstruktiv zu gestalten. Und das hat viel mit der Dynamik der technologischen Entwicklung zu tun.
Kurz: In absehbarer Zeit dürfte keine neue, anders geartete Ordnung entstehen. Zu erwarten ist vielmehr, dass die Prinzipien und Normen von Ordnungsstrukturen generell an Bindewirkung einbüßen, allerdings in je nach Teilordnung unterschiedlichem Ausmaß. Unerwartete Entwicklungen und Krisen werden sich häufen und sich miteinander verschränken.
Die zugrunde liegende Machtkonfiguration spielt dabei keine wesentliche Rolle. Gleichviel, ob bipolare, multipolare oder unipolare Machtverteilung: Für die hier formulierten Schlussfolgerungen dürfte das aufgrund der Gestaltungsschwierigkeiten der Großmächte kaum Bedeutung haben. Zu erwarten ist ein Flickenteppich unterschiedlicher Ordnungszustände in unterschiedlichen Regionen und Bereichen, ein Interregnum mit Inseln relativer Ordnung in Meeren von relativem Chaos und wachsender Unsicherheit.
Deutschlands neuer Multilateralismus
Was folgt daraus für die deutsche Außenpolitik? Muss sie ihre multilateralistische Ausrichtung grundlegend revidieren? Tatsächlich ist Deutschlands prinzipieller Multilateralismus alternativlos: Als exportorientierte Mittelmacht ist es auf einen internationalen Kontext angewiesen, der Gewalt einhegt und überlegene Machtpotenziale durch Regelwerke und internationale Organisationen zähmt.
Allerdings ergibt sich aus der Vielgliedrigkeit der internationalen Ordnung, dass es eine Vielzahl von multilateralen Handlungsmöglichkeiten geben wird oder zumindest geben könnte, auch da, wo sie zurzeit nicht mehr bestehen. Es geht für Berlin nicht darum, seinen Multilateralismus aufzugeben, sondern darum, ihn neu und effektiver auszugestalten.
Der Multilateralismus der deutschen Außenpolitik agiert in vielen konzentrischen oder sich überschneidenden Handlungsfeldern. Der innerste Kern bleibt Europa. Allerdings ist dieses Europa nicht von vornherein identisch mit der EU; es muss neu konfiguriert werden, um so wichtige europäische Staaten wie Großbritannien oder Norwegen einzubeziehen und gleichzeitig Regime wie das Ungarn Viktor Orbáns oder die Slowakei von Robert Fico zugunsten eines effektiven Multilateralismus zu marginalisieren.
Grundlegend für die Mitwirkung an diesem „europäischen Kern“ oder „Kerneuropa“ ist eine funktionierende demokratische Ordnung im Inneren sowie nach außen die Bereitschaft, europäische Solidarität zu praktizieren. Dieses demokratische Kerneuropa könnte durch Ad-hoc-Koalitionen der Willigen agieren oder, besser, durch einen eigenen Vertrag institutionalisiert werden und so die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU ergänzen oder ersetzen.
Dagegen gehört das transatlantische Bündnis der NATO nicht mehr zum innersten Kern der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, solange die amerikanische Demokratie demontiert wird: Die oft beschworene Wertegemeinschaft wird dadurch mindestens infrage gestellt. Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit im transatlantischen Bündnis mag derzeit unersetzlich sein, sollte aber perspektivisch möglichst rasch durch eine europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion abgelöst werden. Denn die USA von Donald Trumps Republikanern können nicht mehr als demokratischer Anker des Multilateralismus fungieren. Hingegen kann die Europäische Union als supranationale Staatengemeinschaft nur liberaldemokratisch und rechtsstaatlich existieren.
Der Multilateralismus dient nicht nur zur Problemlösung, er ist auch eine Form der Machtpolitik. Denn seine Logik besteht darin, Ressourcen möglichst vieler Staaten zu bündeln. So entstehen Machtpotenziale, die den Vorzug haben, durch das Zusammenwirken von Staaten an Legitimität zu gewinnen, und Legitimität ist eine nicht zu unterschätzende „weiche“ Form von Macht.
Die Soft Power dieses prinzipiellen Multilateralismus lässt sich als Teil einer überfälligen Aufwertung der Machtgrundlagen deutscher Außenpolitik verstehen. Dazu zählen die Sanierung der Bundeswehr ebenso wie Strukturreformen in Wirtschaft und Gesellschaft mit dem Ziel, neues Wachstum zu generieren und demokratische Resilienz zu fördern.
Eine traditionelle Stärke der deutschen Außenpolitik war ihre Fähigkeit, Staaten zusammenzuführen und Koalitionen zu schmieden – auch dies eine Form der (sanften) Machtpolitik. Sie bedarf ebenfalls der Runderneuerung, besonders im Umgang mit kleineren EU-Staaten und demokratischen Partnern jenseits Europas.
Die Konsolidierung und Erweiterung der Machtgrundlagen deutscher und europäischer Außen- und Sicherheitspolitik sollte die oberste Priorität der deutschen Außenpolitik sein. Die Unterstützung der Ukraine in ihrem Selbstbehauptungskampf bleibt bis auf Weiteres die zweite umfassende außenpolitische Herausforderung für Deutschland in Europa: Gelänge es Russland, die Ukraine zu unterwerfen, würde das die europäische Sicherheitsordnung aller Voraussicht nach fundamental verändern und Deutschlands Sicherheit von außen wie von innen in völlig neuer Weise gefährden.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2025, S. 58-64
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