Buchkritik

01. Sep 2019

Das Leid des Leaders

Berlin soll und will Führungsverantwortung übernehmen. Aber wie? Und vor allem: Mit wem? Fünf Autoren suchen nach Antworten

Es ist gut sechs Jahre her, dass die zweite Große Koalition unter Angela Merkel eine Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik ankündigte. „Neue Macht, neue Verantwortung“ lautete nicht nur der Titel einer seinerzeit publizierten, einflussreichen Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik, sondern auch die Überschrift der neuen Strategie. Was ist daraus geworden? Drei deutsche Autoren, zwei Wissenschaftler und ein Diplomat, legen ihre Antworten vor und präsentieren ihre Vorstellungen dazu, wie es weitergehen könnte und sollte. Daneben blicken zwei britische Deutschlandexperten auf Berlins Europapolitik. Der zentrale Begriff lautet dabei stets: Führung.

Weitgehend einig

Über die Ausgangslage zumindest herrscht Einigkeit: Deutschlands Außenpolitik muss seit 2013 in einem neuen, sich ständig wandelnden internationalen Umfeld bestehen. Was das im Einzelnen an Herausforderungen bedeutet, beschreiben alle Autoren ziemlich ähnlich: innere und zwischenstaatliche Gewaltexzesse in Nah- und Mittelost; neue sicherheitspolitische und wirtschaftliche Herausforderungen durch Russland und China; eine auseinanderstrebende Europäische Union; ein wiedererstarkender Nationalpopulismus zuhause und ein inkompetenter und zugleich unberechenbarer Präsident in den USA.

Dazu kommen noch die Themen der europäischen und globalen Wirtschaft sowie die erstaunlicherweise in den hier besprochenen Bänden weitgehend fehlenden Herausforderungen Klimawandel, Proliferation von Massenvernichtungswaffen oder Migration. Führen soll und muss Deutschland angesichts dieser Probleme, in Europa und vielleicht sogar in der Welt – auch darin besteht Einigkeit.

Fast diametral entgegengesetzt fallen dagegen die Bewertungen der gegenwärtigen deutschen Außenpolitik aus: Ist sie nun „ratlos“ (so der Diplomat Volker Stanzel) oder im Aufbruch zu neuen Horizonten begriffen, wie es der Erlanger Politikwissenschaftler Stefan Fröhlich suggeriert? All das wirft Fragen auf: Führen – was heißt das? Wie könnte, wie sollte Deutschland seine Führungsrolle spielen? Und wie entschlossen, wie erfolgreich tut man das bislang?

Allenfalls gut gemeint

Beginnen wir mit einem Blick von außen auf die deutsche Europapolitik. Simon Bulmer und William E. Paterson, die beiden Altmeister der britischen Deutschlandforschung, analysieren in ihrer profunden Studie die deutsche Europapolitik so souverän und umfassend, dass ihr Buch auf absehbare Zeit ein Standardwerk bleiben dürfte. Gleichzeitig ist es ein gewichtiger Beitrag zur politischen Diskussion.

Denn die Debatte über die Frage, ob Deutschland in Europa als „Hegemon“ agiere, ist –, anders als Stefan Fröhlich es suggeriert – keineswegs überflüssig. Der außerhalb Deutschlands primär in der angelsächsischen Welt, aber auch in Frankreich und Italien geführte Diskurs könnte uns helfen, Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume der deutschen Europapolitik besser zu verstehen.

Tatsächlich gelangen die Autoren in ihrer Bestandsaufnahme dieser Politik seit Beginn der Eurokrise zu einem differenzierten Befund: In der Eurozone waren die Voraussetzungen für deutsche Hegemonie gegeben – Deutschland konnte seine Vorstellungen weitgehend durchsetzen. Allerdings übernahm Berlin die Führung im Krisenmanagement nur zögerlich und orientierte sich dann vor allem an den eigenen Vorstellungen und Interessen, weniger am Gemeinwohl der Eurozone. Damit sei es den Anforderungen an die Führungsqualitäten, die man von einem wohlwollenden Hegemon erwarte, nicht gerecht geworden. Bei der Gemeinsamen Europäischen Außenpolitik oder im Kontext der Migrationskrise wiederum mangele es Deutschland ohnehin an den notwendigen strukturellen Voraussetzungen – und der Glaubwürdigkeit –, um erfolgreich führen zu können.

Das kann man natürlich auch anders sehen. Stefan Fröhlich tut das. Seiner Ansicht nach war die deutsche Politik keineswegs nur eigensüchtig motiviert. Man habe sie durchaus im Sinne des europäischen Gemeinwohls formuliert und umgesetzt.

Das mag wohl richtig sein; aber wird diese Politik dadurch auch schon tatsächlich gut – nicht nur für Deutschland, sondern auch für Griechenland, Italien oder Portugal? Und wer hat die Deutungshoheit darüber, was für die anderen „gut“ ist – der deutsche Finanzminister? „Gut gemeint“ ist eben im Zweifel doch nicht dasselbe wie „gut“; das zeigen Bulmer und Paterson deutlich auf.

Bergab oder auf gutem Wege?

Nicht nur in Sachen Eurozonen-Krisenpolitik gehen die Bewertungen der deutschen Außenpolitik sehr grundsätzlich auseinander. Für die vorherrschende Lesart steht Volker Stanzels Befund: In seinem ausführlichen Rückblick entwirft der Diplomat das Bild einer lange höchst erfolgreichen Politik, die dann aber in den vergangenen zehn Jahren immer schlechter geworden ist, ja geradezu versagt hat.

Als Querdenker gibt sich dagegen Stefan Fröhlich: Ihm zufolge befreit sich die deutsche Außenpolitik seit einigen Jahren wirksam aus ihrer „Selbstfesselung“ und ist nun auf dem besten Weg, eine erfolgreiche Führungsmacht zu werden. Die Voraussetzungen hierfür, so Fröhlich, seien die Hinwendung Berlins zu „Realismus“ und „Pragmatismus“ – Attribute, die er offensichtlich an der deutschen Außenpolitik der Vergangenheit vermisst. Worauf sich die angebliche „Selbstfesselung“ allerdings bezieht, was früher nicht „pragmatisch“, nicht „realistisch“ war, bleibt ziemlich nebulös – gerade, wenn man die Erfolgsgeschichte dieser Außenpolitik bis mindestens zur Jahrtausendwende betrachtet.

Bulmer und Paterson kommen für ihren Untersuchungsgegenstand, die deutsche Europapolitik, überzeugend zu dem Schluss, dass die EU unter Angela Merkels Führung – und teilweise auch wegen ihrer Politik – eher auseinandergetrieben als zusammengewachsen sei. Und Stanzel meint, der Aufbruch zu mehr Verantwortung, den die Regierung Merkel im Februar 2014 ankündigte und mit der Review 2014, einer umfassenden Überprüfung der deutschen Außenpolitik unter Federführung des Auswärtigen Amtes, vorantreiben wollte, habe nur bescheidene Ergebnisse erbracht; der Elan sei rasch versickert. Gerade in der Europapolitik, für die im Koalitionsvertrag der amtierenden Regierung „ein neuer Aufbruch“ angekündigt wurde, kämen aus Berlin keine Impulse mehr.

Folgt man den Beobachtern, die meinen, dass die deutsche Außenpolitik ihren Kompass verloren und an Gestaltungsfähigkeit eingebüßt habe – und sie haben die besseren Argumente –, dann stellt sich die Frage: Warum ist das so gekommen?

Einig sind sich alle Autoren, dass dies auch und vor allem mit den neuen Konstellationen in den internationalen Beziehungen zusammenhänge, die das Geschäft der deutschen Außenpolitik spätestens seit Mitte der 2000er Jahre drastisch erschwert und die Anforderungen an sie erhöht hätten.

Verunsicherte Gesellschaft

Doch auch die Berliner Außenpolitikmacher selbst haben zu den Rückschlägen kräftig beigetragen. So kritisiert Volker Stanzel die Neigung zu Selbstüberschätzung und Arroganz im Gefolge des Ruhms der Vergangenheit und die so verpassten Gelegenheiten zu Neuansätzen. Vor allem aber zieht er die richtigen Schlussfolgerungen aus der Einsicht, dass Innen- und Außenpolitik heute untrennbar miteinander verwoben sind. In seiner Deutung liegen die eigentlichen Ursachen der außenpolitischen Defizite Deutschlands in einer verunsicherten deutschen Gesellschaft. Damit dringt sein Beitrag als einziger zum Kern der Probleme der deutschen Außenpolitik vor: der inneren Verfassung von Politik und Gesellschaft.

In vielen Ereignissen, die Deutschlands gesellschaftliche Entwicklung in diesen Jahren der Verunsicherung widergespiegelt haben – von Pegida bis zu den Hamburger G20-Krawallen, von Pulse of Europe bis zu Fridays for Future – zeigen sich für Stanzel gesellschaftliche Forderungen nach außenpolitischer Partizipation, mal offen, mal verdeckt. Nur über eine konsequente Öffnung der Außenpolitik für neue Formen der Teilhabe ließe sich, so der Autor, ein „gesellschaftlicher Kulturwandel“ erreichen, um zu einem „neuen Konsens“ über außenpolitische Fragen zu gelangen.

Keine Frage, das ist so klug wie provozierend. Doch es wirft gleichzeitig die Frage auf, ob die Forderungen aus der Gesellschaft nach Teilhabe auch mit der Bereitschaft verbunden sind, Verantwortung für das Gemeinwesen und seine Außenpolitik zu übernehmen. Dieses Verantwortungsbewusstsein würde etwa gebraucht, wenn Deutschland in Zukunft mehr für die eigene und für Europas kollektive Sicherheit aufwenden soll. Auch 2 Prozent des Sozialprodukts für Verteidigungsausgaben erscheinen in diesem Zusammenhang grundsätzlich angemessen. Zudem bestünde ja – worauf Stefan Fröhlich verweist – die Möglichkeit, die Verteidigungsanstrengungen anderer EU-Mitgliedstaaten finanziell zu unterstützen, etwa die französischen Nuklearstreitkräfte.

Auf Partnersuche

Damit sind wir auch schon bei den Lösungsansätzen. Zu einer Führungsrolle gehört Gefolgschaft: Deutschland müsste also Wege finden, um seine Partner zu gemeinsamem oder doch zumindest zu abgestimmtem außenpolitischen Handeln zu bewegen. Stefan Fröhlich und insbesondere der Kölner Politikwissenschaftler Thomas Jäger setzen dabei entschieden auf die transatlantische Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten. Jägers Essay ist ein flammendes Plädoyer dafür, in einer Welt voller neuer Herausforderungen und Herausforderer gemeinsam mit den USA die Vorherrschaft des Westens und damit unsere freiheitlich-demokratische Ordnung im Inneren zu bewahren.

Aber wie soll das gehen, mit diesem Amerika? Einem Land, dessen derzeitiger Präsident, mit tatkräftiger Unterstützung der Republikanischen Partei, beinahe täglich die Axt an die Prinzipien und Institutionen der amerikanischen Republik legt?

Die Präsidentschaft von Donald Trump ist ja, wie Jäger selbst überzeugend darlegt, keineswegs nur ein Betriebsunfall, sondern das Ergebnis einer tiefen Krise der amerikanischen Republik, gegen die sich die Verunsicherung der deutschen Gesellschaft vergleichsweise harmlos ausnimmt. Aufzuräumen und den innen- wie außenpolitischen Schaden zu beseitigen, den Donald Trump schon nach vier Jahren hinterlassen hat (ganz zu schweigen von acht Jahren), dürfte die USA im günstigsten Falle auf Jahre ­hinaus beschäftigen. Erst danach könnte eine erneuerte amerikanische Demokratie wieder erfolgreich als liberale weltpolitische Führungs- und Ordnungsmacht auftreten.

Ähnliches gilt für eine Führungsrolle Deutschlands in Europa. Verunsicherte Gesellschaften und verunsicherte Identitäten gibt es ja nicht nur hierzulande. Mit dem Tauziehen um den Brexit drohen auch in Großbritannien eine Verfassungskrise und der Zerfall des Staates; in Italien dürfte Matteo Salvini als Ministerpräsident wohl kaum noch aufzuhalten sein.

Einzig Frankreich unter Emmanuel Macron kommt derzeit als Partner für eine deutsche Führung infrage. Doch dass der Präsident gleichzeitig wohl Frankreichs letzte Chance für eine Wende zum Besseren ist, scheint im offiziellen Berlin kaum jemanden ernsthaft zu bekümmern. Bezeichnend für die gegenwärtige Vernachlässigung des einstigen Erfolgstandems in Deutschland ist die Tatsache, dass das deutsch-französische Verhältnis bei allen drei deutschen Autoren eher kursorisch und damit unangemessen knapp abgehandelt wird.

Auch in Europa ist es also schlecht bestellt um die innenpolitischen Voraussetzungen einer Zusammenarbeit unter deutscher Führung. Die Krise der westlichen Demokratien ist die entscheidende Ursache für die mangelnde außenpolitische Gestaltungsfähigkeit des Westens.

„Prinzipienfester Pragmatismus“ und „Realismus“, wie sie Stefan Fröhlich anmahnt, sind als Kompass für die deutsche Außenpolitik gewiss nicht falsch, aber viel zu vage. Auch Thomas Jägers und Stefan Fröhlichs resolutes Eintreten für eine – Jägers Auffassung nach alternativlose – „transatlantische Gestaltungsmacht“ kann nicht überzeugen, weil die gemeinsamen Werte­grundlagen, die Voraussetzung für diese Gestaltungsmacht wären, zwischen den Regierungen, womöglich gar zwischen den Gesellschaften, nicht mehr vorhanden sind.

Heimat Europa

Einzig Volker Stanzel buchstabiert im Einzelnen aus, wie Deutschlands Außenpolitik aus ihren Problemen herausfinden könnte. Zunächst einmal gehe es darum, die EU-Kommission zu stärken und damit die supranationale Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zu verbessern; auch eine bessere Abstimmung mit allen, auch den kleineren und kleinsten Mitgliedstaaten der Union sei nötig. Innerhalb Deutschlands müsse die Diskussion über Außenpolitik für weitere Teile der Gesellschaft geöffnet werden, und ganz grundsätzlich empfiehlt Stanzel, an einer neuen emotionalen Perspektive auf Europa zu arbeiten, weil sich die Nationen „vielleicht überlebt“ hätten – „Heimat Europa“.

Auch hier ließe sich freilich fragen: Gibt es für ein solches Europa denn in den Mitgliedstaaten und Gesellschaften die inneren Voraussetzungen? Gibt es sie in Deutschland?

Am Ende der Lektüre dieser – allesamt anregenden, gut geschriebenen und pointierten – Versuche, Deutschlands neue Außenpolitik zu vermessen und daraus Empfehlungen abzuleiten, ist klar: Einfach wird es nicht, ein „Weiter so“ kann nicht genügen. Dies erkennt am klarsten Volker Stanzel; auch fällt seine Analyse überzeugender aus als die der Politikwissenschaftler Fröhlich und Jäger, die sich im Dickicht der Zusammenhänge zwischen Innen- und Außenpolitik verheddern.

Hat Volker Stanzel die bislang beste, weil klarsichtigste Einordnung der neuen deutschen Außenpolitik vorgelegt, so sind Bulmer und Paterson für alle eine Pflichtlektüre, die Deutschlands Europapolitik besser verstehen möchten. Und wer die Zusammenarbeit mit Amerika bereits abgeschrieben hat, dem seien die beiden Essays von Fröhlich und Jäger dann doch oder sogar: besonders ans Herz gelegt, um sich an ihren Argumenten zu reiben. Ob und wie die deutsche Außenpolitik den Elan finden soll, die anstehenden Herkulesaufgaben zu lösen, ist in keinem dieser Bücher erkennbar; es bleibt mit Hölderlin die Hoffnung: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“

 

Prof. Dr. Hanns W. Maull ist Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und Senior Policy Fellow beim Mercator Institute for China Studies (Merics).

Simon Bulmer und William E. Paterson: Germany and the European Union: Europe’s Reluctant Hegemon? London: Red Globe Press 2019. 280 Seiten, 98,43 Euro

Stefan Fröhlich: Das Ende der Selbstfesselung. Deutsche Außenpolitik in einer Welt ohne Führung. Wiesbaden: Springer 2019. 166 Seiten, 19,43 Euro

Thomas Jäger: Das Ende des amerikanischen Zeitalters. Deutschland und die neue Weltordnung. Zürich: Orell Füssli 2019. 192 Seiten, 12,00 Euro

Volker Stanzel: Die ratlose Außenpolitik. Und warum sie den Rückhalt der Gesellschaft braucht. Bonn: Dietz 2019. 256 S., 26,00 Euro

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2019, S. 138-142

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