Was ist der Globale Süden?
Niemand mag den Begriff so richtig – alle verwenden ihn. Was taugt er? Was beschreibt er? Gibt es Alternativen? Ordnungsversuche in einer komplizierten Welt.
Der Begriff Globaler Süden ist zurzeit in aller Munde, kaum eine Diskussion über Machtverschiebungen und Neuordnungen des internationalen Systems kommt ohne ihn aus. Kommentatoren deutscher und europäischer Außenpolitik, wie beispielsweise jüngst Jörg Lau in dieser Zeitschrift, führen diese gestiegene Aufmerksamkeit vor allem auf die für viele überraschende Verweigerung der Mehrzahl der als Globaler Süden bezeichneten Staaten zurück, sich bedingungslos der Verurteilung und Sanktionierung Russlands anzuschließen.
Dabei ist die Idee des Globalen Südens jedoch keinesfalls neu; in Politik, Medien und Wissenschaft hat die Verwendung des Konzepts seit den 1990ern gleichermaßen stetig zugenommen. Ganz gleich, wie es angewandt wird, das Konzept des Globalen Südens hat dabei stets eine Ordnungsfunktion in einer komplizierten Welt. Deutsche Politikerinnen und Politiker verwenden es als legitimierenden Sammelbegriff für die Entwicklungszusammenarbeit, die Vereinten Nationen strukturieren Statistiken nach der Unterscheidung zwischen Nord und Süd; Wissenschaftler schreiben Bücher über politische Prozesse, Gesundheit oder Jugendbewegungen im Globalen Süden. All dies impliziert, dass – wie auch immer definierte – Gemeinsamkeiten dieser Gruppe von Staaten bedeutsam für das Verständnis globaler Prozesse sind.
Aber inwieweit ist das Konzept des Globalen Südens noch sinnvoll und angemessen? Oder führt es vielmehr, wie Jörg Lau schreibt, „in die Irre … (und) suggeriert gemeinsame Interessen und Werte, wo es darauf ankäme, endlich die feinen Unterschiede wahrzunehmen“? Immerhin besteht weder Einigkeit darüber, wer eigentlich dieser Globale Süden ist, noch ganz grundsätzlich darüber, ob es den Globalen Süden überhaupt gibt angesichts der großen Heterogenität und der Dynamik der Akteure, die typischerweise damit zusammengefasst werden.
Um einer Antwort näher zu kommen, sollte man sich zunächst einmal die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs verdeutlichen. Uns muss dabei bewusst sein, dass Worte und Kategorisierungen wirkungsstark sind; das wiederum bedarf einer Reflexion über die Bedeutung der Kategorisierung von Staaten in der Politik.
Wie vielfältig dieser Begriff verstanden werden kann, spiegelt sich bereits in seiner Geschichte wider. Einige führen ihn bis in die 1980er Jahre hinein im Wesentlichen auf den Bericht der sogenannten Brandt-Kommission und der darin aufgezeichneten „Brandt-Linie“ zwischen Nord und Süd, etwa entlang des 30. Längengrads zurück. Andere, eher theoretisch geleitete Beobachter, verorten grundlegende Ideen einer „zweigeteilten Welt“ in Schriften von Antonio Gramsci und später Immanuel Wallerstein, welche die Unterdrückung eines Teiles der Welt auf die kapitalistische Ausbeutung durch den anderen thematisieren (im Falle von Gramsci geht es um die Ausbeutung Süditaliens durch norditalienische Akteure). Postkoloniale Studien greifen dieses Verständnis auf und begreifen die Idee des Globalen Südens in Zusammenhang mit dem Neoliberalismus und der damit verbundenen neuen Produktionsgeografie, also der räumlichen Verteilung von Produktion, Konsum und dem Verlauf globaler Lieferketten.
In der heutigen Form wird das Konzept insbesondere seit Ende des Kalten Krieges und in Bezug auf eine sich beschleunigende Globalisierung verwendet. Beide Prozesse forderten die Aufteilung in „drei Welten“ auf unterschiedliche Weise grundsätzlich heraus und stellen dabei auch die Nord-Süd-Unterscheidung infrage – sowohl realpolitisch als auch moralisch. Wenn wir die häufig gerechtfertigte Kritik am Konzept zunächst ausklammern, finden sich sowohl in der Wissenschaft als auch in der politischen und medialen Behandlung des Begriffs mindestens drei unterschiedliche Auffassungen. Die erste dominiert in den hiesigen Medien, die beiden anderen eher in der Wissenschaft, aber auch bei bestimmten gesellschaftlichen Akteuren im Globalen Süden selbst.
Dreierlei Definitionen
Die erste Auffassung definiert den Begriff in der wörtlichen Bedeutung, geografisch-technisch, und wirkt dabei als Metapher für Unterentwicklung und als Ersatz für den Begriff der „Dritten Welt“. Die meisten dieser Anwendungen reflektieren dabei das gemeinsame postkoloniale Erbe und die damit einhergehende Last, welche die geografischen Widersprüche (Australien, Indien, etc.) einhegt.
Der Globale Süden hat in dieser Verwendung seit Ende des Kalten Krieges und insbesondere in den vergangenen zehn Jahren einen Boom erfahren; er ersetzt hier gemeinsam mit dem Gegenstück eines Globalen Nordens mehr und mehr das Begriffspaar „Entwicklungs- versus Industrieland“. Die Bezeichnung wird also deskriptiv angewandt und dient als Sammelbegriff für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen (nach Klassifikation der Weltbank) in Afrika, Asien, Ozeanien, Lateinamerika und der Karibik. Dies ist ganz offensichtlich problematisch, stellt aber die häufigste Verwendungsweise dar, vor allem in Medien und Politik. Die Grenzen zwischen Nord und Süd bleiben dabei diffus. Eine Begriffsbegründung erschwert das sehr, wenn wir allein an Indien und China denken und eine damit einhergehende Diversifizierung im Globalen Süden dieser Lesart.
Die zweite Auffassung stützt sich auf staatsbasierte gemeinsame Identitäten, die sich in internationalen Institutionen verfestigt haben, insbesondere der Gruppe der 77 (G77). Hier steht die politische Identität als Globaler Süden im Vordergrund. Begriffsgeschichtlich reicht diese Verwendung bis zur asiatisch-afrikanischen Konferenz im indonesischen Bandung im Jahr 1955 zurück; verfestigt wurde sie durch die blockfreien Staaten und heute durch die G77 plus China. Mittlerweile gehören 134 Länder der G77 an.
Es geht also vor allem um die Betonung der historisch bedingten Gemeinsamkeiten als Gruppe von Staaten, sozusagen als ein politisches Projekt, das die „Überwindung der gemeinsamen Erfahrungen des Imperialismus beinhaltet“ (Vijay Prashad), aber auch die Entwicklung einer Vision für eine alternative Weltordnung. Zentral für diese Begriffsverwendung sind gemeinsame Wertevorstellungen und die Bildung von Institutionen, um gemeinsame Ziele zu verfolgen. Diese Verwendung ist häufig gemeint, wenn Staaten sich selbst als Teile des Globalen Südens beschreiben. Dies gilt auch für Staaten wie China und Indien, die in anderen Verwendungsweisen nicht mehr eindeutig Teil des Begriffs sind.
Nicht ganz trennscharf zu dieser Bedeutung steht die dritte Verwendungsweise, die vor allem auch eine transnationale, also gesellschaftliche Dimension hat. Dabei wird ebenfalls die subalterne geopolitische Identität in den Vordergrund gestellt. Globaler Süden wird als Terminus des Empowerment genutzt, im Sinne einer wechselseitigen Anerkennung zwischen den Subalternen der Welt und ihrer geteilten Positionierung am „Rande der neoliberalen Welt der Globalisierung“ (Alfred López). Der Süden beschränkt sich dabei nicht auf die Südhalbkugel, sondern schließt den „Süden im Norden“ ein. Gemeint sind Orte und Teile der Gesellschaften, die durch Ausbeutung, Unterdrückung und Armut marginalisiert sind. Es geht also um eine transnationale Gegenbewegung im Widerstand gegen eine kapitalistische Globalisierung. Das Konzept wird hier als Prozess und Praxis verstanden, durch die neue Formen der Wissensproduktion geschaffen und existierende Formen der Reproduktion von Ungleichheiten und epistemischem Rassismus aufgebrochen werden.
Süden heißt nicht gleich „weniger“
Ganz gleich, welches der unterschiedlichen Verständnisse des Globalen Südens bevorzugt wird: Durch die inhärente Zweiteilung der Welt ergibt sich stets eine Art Hierarchie, die oft auch politischem Handeln zugrunde zu liegen scheint. Der Globale Norden wird mit Modernität, Entwicklung, Kapazitäten und Wohlstand assoziiert; der Süden wird im Gegenzug zwangsläufig als „anders“ verstanden, als „weniger“ und als untergeordnet.
Insbesondere der unterstellte Mangel an Kompetenz und Kapazität ist für viele Bereiche problematisch und führt zu fehlgeleiteten Ergebnissen. Ein Beispiel dafür findet sich in der unterschätzten Expertise vieler afrikanischer Institutionen und politischer Akteure bei der Pandemiebekämpfung, fanden die entsprechenden Länder doch häufig einen besseren Umgang mit Covid-19 als Staaten mit einem „nördlichen“ Gesundheitssystem.
Die Bedeutung des Globalen Südens wird zudem durch den Aufstieg Chinas und Indiens, zum Teil auch Brasiliens und Südafrikas, infrage gestellt. Dies ist kein neues Phänomen – die Diversität der Staaten, die als Globaler Süden bezeichnet werden, scheint zu groß zu sein, um eine mögliche Zugehörigkeit als Blaupause für bestimmte Annäherungen oder Politiken zu begreifen. Diese Diversität hat sich nachweislich in den vergangenen beiden Jahrzehnten noch verstärkt; insbesondere Indien und noch mehr China sind schwerlich als „subalterne“, also untergeordnete Akteure in der Weltpolitik zu verstehen.
Warum fällt es Politikerinnen und Politikern, Medienschaffenden und Menschen in der Wissenschaft dennoch gleichermaßen so schwer, auf den Begriff zu verzichten?
Dies hat zunächst strukturelle Gründe. Zwar hat sich die wirtschaftliche Situation in Teilen des Globalen Südens absolut verbessert, die Einkommenshierarchien (also das Ranking zwischen den Staaten) sind aber, mit Ausnahme Indiens und Chinas, sehr stabil.
Die politische Selbstzuschreibung zum Globalen Süden, aber auch beispielsweise das Abstimmungsverhalten in den Vereinten Nationen, folgen Mustern der klassischen Einteilung zwischen Nord und Süd entlang der „Brandt-Linie“. Es gibt also wichtige, historisch kontinuierliche Gemeinsamkeiten sowohl auf der strukturell-wirtschaftlichen als auch auf der politischen Ebene, die die Bedeutsamkeit der Kategorie Globaler Süden aufrechterhalten könnten. Trotz des relativen Erfolgs einiger Staaten bleibt eine gemeinsame Identität: Sie baut auf geteilten historischen Erfahrungen von Exklusion und Unterdrückung auf, die sich immer noch in politischen Entscheidungen ausdrücken, aber insbesondere auch in politischer Rhetorik.
Wenn globale Ungleichheiten zwischen den Staaten und zivilgesellschaftlichen Akteuren die Beziehungen zueinander beeinflussen, wie die Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine zeigen, bleiben grobe Kategorisierungen trotz aller Verallgemeinerungen erklärungswirksam. Beispielsweise sind „Norden“ und „Süden“ immer noch wichtige politische Rollen der internationalen Politik, etwa in entwicklungspolitischen Foren der Vereinten Nationen, in denen sich weiterhin die G77 plus China und die OECD gegenüberstehen.
Aber auch normativ lässt sich der weiteren, kontextualisierten Verwendung des Begriffs etwas abgewinnen, wenn wir die Bezeichnung Globaler Süden als „Kategorie verstehen, die uns für die historisch gewachsene Marginalisierung innerhalb internationaler Hierarchien sensibilisiert“ (Tobias Berger). Dabei dürfen eine politisch geleitete Selbstkategorisierung und das Verhalten als „Mitglied des Globalen Südens“ nicht aus dem Blick geraten – vor allem durch die BRICS-Staaten. Dichotomien und deren Instrumentalisierung können politischem Fortschritt fundamental im Wege stehen; dies zeigt sich oft eindrücklich bei globalen Klimaverhandlungen, in denen historisch gewachsene Zweiteilungen häufig als eine der zentralen Hürden für weiteren Fortschritt genannt werden. Die politische Wirksamkeit solcher Konzepte darf folglich nie außer Acht gelassen werden.
Letztlich ist auch der Mangel an Alternativen ein möglicher guter Grund für die weitere Verwendung des Begriffs. Den Begriff Globaler Süden einfach nicht mehr anzuwenden, ist keine Lösung, denn andere Konzepte bereiten ähnliche, wenn nicht sogar größere Schwierigkeiten.
Gegenüberstellungen wie „Entwicklungs- versus Industrieländer“ oder „Peripherie versus Zentrum“ bringen keine Vorteile, auch sie bergen Dichotomien und unzulässige Verallgemeinerungen. Auch die nur scheinbar wertfreiere Bezeichnung als Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen (nach der Klassifikation der Weltbank als „low and middle income countries“) hilft nicht wirklich weiter.
Die 30 oder 50 ärmsten Länder der Welt ließen sich auch jeweils einzeln auflisten, wenn es um die Beschreibung von Ungleichheiten in unterschiedlichen Politikbereichen geht; allerdings scheint dies kaum durchhaltbar zu sein. Es sind Kategorien und Konzepte notwendig um zu forschen, um zu wissen, um Politik zu machen und um darüber jeweils zu kommunizieren. Daher bieten auch genauere geografische Beschreibungen, beispielsweise nach Region oder Kontinent, wenig Alternative.
Fazit
Was bleibt uns also übrig? Vielleicht helfen Leitlinien wie diese: Erstens sollten wir uns bei der Verwendung des Konzepts kurz Zeit nehmen und uns darüber klar werden, warum und wie wir Globaler Süden verwenden. Hilft uns die Kategorie in unserer Kommunikation weiter oder transportieren wir damit bestimmte Botschaften? Falls letzteres, sollten diese klar reflektiert und ausbuchstabiert werden. Sofern die Kategorie ins Leere führt, können wir je nach Bedarf auf genauere Beschreibungen zurückgreifen, wie zum Beispiel „die 25 ärmsten Länder“, „die 30 am wenigsten industrialisierten Länder“, „die von bestimmten Krisen betroffenen Länder“. Es wird dennoch weiterhin Situationen geben, in denen die Verwendung von Globaler Süden angebracht ist; vor allem, wenn es sich um Selbstbeschreibungen handelt oder eben um die Wirksamkeit strukturell bedingter Ungleichheiten, unabhängig von der geografischen Lage.
Allerdings sollten diese Ungleichheiten nicht als Schwäche der einen und Stärke der anderen Seite betrachtet werden. Wir sollten den Begriff des Globalen Südens also nicht komplett aufgeben: Er beschreibt weiterhin soziale Realitäten, obwohl seine Verwendung gleichzeitig immer auch andere Aspekte unserer Welt verallgemeinert.
Quellen
Berger, Tobias: The “Global South” as a relational category – global hierarchies in the production of law and legal pluralism, Third World Quarterly, 10/2020, S. 1–17
Lau, Jörg: In 80 Phrasen um die Welt: „Der Globale Süden“, Internationale Politik, 3/2023, S. 15
Lees, Nicholas: The Brandt Line after forty years: The more North–South relations change, the more they stay the same?, Review of International Studies 1/2021, S. 85–106
Lopez, Alfred: Introduction: The (Post) Global South, The Global South, 1/2007, S. 1–11
Mahler, Anne Garland: Global South, Oxford Bibliographies 2017
Prashad, Vijay: The darker nations: a people’s history of the Third World, The New Press 2007
de Sousa Santos, Boaventura: Epistemologies of the South: Justice against epistemicide. Routledge 2014
Internationale Politik 4, Juli/August 2023, S. 25-30
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