„Der Globale Süden“
Jörg Lau über einen Begriff, der zwischen Sehnsucht und Postkolonialismus versucht zusammenzufassen, was nicht zusammenzufassen ist.
Im Entwurf für ein neues außenpolitisches Programm der SPD kommt der Begriff „Globaler Süden“ 16 Mal vor – auf nur 21 Seiten. Auch anderswo ist er enorm populär, wie jüngst bei der Münchner Sicherheitskonferenz oder zuvor beim G7-Gipfel in Elmau.
Der aktuelle Grund: Die Unterstützer der Ukraine suchen Alliierte – und stellen ernüchtert fest, dass die großen Akteure des „Global South“ wie Indien, Südafrika oder Brasilien den Konflikt keineswegs als ihren ansehen. Führende Nationen, die man ehemals als „Schwellenländer“ oder „Entwicklungsländer“ bezeichnete, entziehen sich der Vereinnahmung: der Westen, allein zu Haus. Das ist aber nicht die ganze Geschichte.
Der Globale Süden ist auch ein Sehnsuchtsbegriff. Er beschreibt die Hoffnung auf eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung. Eine fairere Weltordnung, in der nicht allein die früheren Imperialmächte und die USA die Regeln bestimmen; eine wahrhaft postkoloniale Welt, in der die Dominanz des Globalen Nordens durch starke Süd-Süd-Beziehungen gekontert wird.
Die Ungerechtigkeit der postkolonialen Weltordnung vereint tatsächlich viele Länder des Globalen Südens: schlechte Versorgung mit Impfstoffen während der Corona-Pandemie, überdurchschnittliche Betroffenheit von Folgen des Klimawandels, hohe Verschuldung und unfaire Bedingungen auf den Weltmärkten – das sind geteilte Beschwerden.
Dass der Globale Süden als politisches Subjekt dennoch eine Chimäre bleibt, liegt an den Differenzen der Länder, die mit dem Begriff zusammengespannt werden. Er ist erkennbar ein Erbe des Konzepts der Blockfreien aus dem Kalten Krieg – jener Staatengruppe, die zwischen West- und Sowjetblock balancierte. Bezeichnenderweise heißt die erste wissenschaftliche Zeitschrift, die sich ausschließlich mit dem Globalen Süden beschäftigt: Bandung. A Journal of the Global South. Im indonesischen Bandung hatten sich 1955 zahlreiche Staaten Asiens und Afrikas zusammengeschlossen, viele von ihnen waren gerade erst unabhängig geworden; auch Maos China war dabei.
Inzwischen hat eine enorme Binnendifferenzierung unter den ehemaligen Schwellenländern stattgefunden. Peking tritt in Teilen Afrikas heute wie ein Nachfolger der westlichen Imperien auf. Es ist nicht nur an Rohstoffen und Arbeitskräften interessiert, sondern baut diplomatische, institutionelle und militärische Partnerschaften auf, um eigene Großmachtansprüche durchzusetzen. Der Nachbar und Konkurrent Indien sieht den Aufstieg mit Sorge und versucht sich seinerseits in Gegenmacht-Formation zum gefährlichen Nachbarn. Delhi fürchtet auch, dass Moskau – traditionell Hauptlieferant der indischen Armee – infolge des Debakels in der Ukraine immer stärker von Peking dominiert wird.
Es klingt ziemlich heuchlerisch, wenn Politiker im Westen nun beschwören, man wolle eine gerechtere Ordnung „gemeinsam mit den Nationen des Globalen Südens“ errichten, selbstverständlich „auf Augenhöhe“. Dabei vereint diese Nationen kaum etwas außer der Tatsache, einst durch den Globalen Norden übervorteilt worden zu sein. Der Begriff des Globalen Südens führt in die Irre. Er suggeriert gemeinsame Interessen und Werte, wo es darauf ankäme, endlich die feinen Unterschiede wahrzunehmen.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2023, S. 15
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