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01. Mai 2012

Was für ein Hegemon?

Berlins Politik führt zu keinem deutschen, sondern einem chaotischen Europa

„Zögerlicher Hegemon“, „Hegemon wider Willen“ – viele Beobachter sehen Deutschland seit Beginn der europäischen Schulden- und Währungskrise in der Rolle eines Hegemonen. Doch das führt in die Irre. Ob unwillig oder unfähig: Statt hegemoniale Politik zu betreiben, hält Berlin an der Wirtschaftspolitik eines Kleinstaats fest – auf Kosten Europas.

Seit Beginn der Staatsschulden- und Euro-Krise ist viel über die vermeintliche oder tatsächliche deutsche Hegemonie in Europa geredet und geschrieben worden. Eine Reihe von Journalisten und Politikwissenschaftlern hat Deutschland einen „Hegemon wider Willen“ oder einen „zögerlichen Hegemon“ genannt.1 Aufgrund dieser Ansicht haben sie Deutschland aufgerufen, mutiger aufzutreten und seine Rolle als Hegemon anzunehmen. Er fürchte sich weniger vor deutscher Macht als vor deutscher Untätigkeit, sagte der polnische Außenminister Radosław Sikorski in einer Rede in Berlin im November 2011 und drängte Deutschland, Europa zu führen.2 Deutschland kann aber gar nicht als Hegemon gelten – und das hat nicht so sehr mit Zurückhaltung zu tun, sondern vielmehr mit Selbstbezogenheit und kurzsichtigem Denken.

Theoretikern hegemonialer Stabilität zufolge setzt ein Hegemon Normen, schafft aber auch ein System von Anreizen für diejenigen weiter unten in der Hierarchie, von denen diese profitieren und deshalb Teil des Systems bleiben. Insbesondere macht ein Hegemon kurzfristig Zugeständnisse gegenüber denjenigen, die er in seine hegemoniale Ordnung kooptiert hat, um seine Interessen langfristig zu sichern. Ein Paradebeispiel einer solchen Hegemonie haben die Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg abgegeben, die in den fünfziger Jahren den Westeuropäern Handelspräferenzen einräumten – und dadurch amerikanische Importe schlechter stellten –, um so ihr strategisches Ziel von europäischer Stabilität zu erreichen. Auf diese Weise wandten die USA ihre Macht in aufgeklärter Weise an.

Für Theoretiker hegemonialer Stabilität besteht die Alternative zu Hegemonie in der internationalen Politik in Instabilität. In seinem Buch „The World in Depression 1929–1939“, das 1973 erschien, hat Charles Kindleberger die Meinung vertreten, dass die Weltwirtschaft nur dann reibungslos funktioniere, wenn ein Hegemon Stabilität garantiert. Nach dem Wall-Street-Crash von 1929 und der Weltwirtschaftskrise sorgte das Fehlen eines Hegemons in den dreißiger Jahren für den Zusammenbruch des internationalen Systems. Kindleberger kritisierte dabei insbesondere die Vereinigten Staaten dafür, damals nicht die Führung der Weltwirtschaft von Großbritannien übernommen zu haben. (Interessanterweise befand sich Deutschland damals in einer ähnlichen Lage wie die europäischen „Schuldenstaaten“ heute.) Als Mitarbeiter des amerikanischen Außenministeriums in den späten vierziger Jahren war Kindleberger einer der Architekten des Marshall-Plans – ein Versuch, die Fehler zu vermeiden, die die USA nach Kindlebergers Meinung während der Großen Depression begangen hatten.

Führungsnation, wohlwollender Hegemon, Stabilisator?

Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble hat Kindleberger offenbar gelesen; zumindest hat er erklärt, Kindlebergers Erkenntnisse sollten auf die Euro-Krise angewandt werden. So sprach er in einer Rede im November 2010 davon, dass „Kindlebergers Botschaft im Jahr 2010 wichtiger denn je“ sei; nur eine „Führungsnation“, ein „wohlwollender Hegemon oder ‚Stabilisator‘“ könne eine stabile Weltwirtschaft schaffen und erhalten.3 Die Lehre, so Schäuble weiter, bestehe darin, dass Deutschland und Frankreich nun praktisch die Hegemonen in Europa werden müssten, die die Welt in den dreißiger Jahren gebraucht und vermisst hätte.

Doch anstatt wie die Vereinigten Staaten nach 1945 von seiner Macht aufgeklärten Gebrauch zu machen, hat Deutschland in den vergangenen zwei Jahren seine eigenen Präferenzen, soweit das möglich war, anderen in der Euro-Zone schlicht aufgezwungen und kurz- statt langfristige Ziele verfolgt. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland ein klares Interesse am Überleben des Euro hat – nicht zuletzt, weil dessen Schwäche im Vergleich zur D-Mark der deutschen Exportwirtschaft zugute kommt –, hätte eine Entsprechung der Rolle, die die Vereinigten Staaten nach 1945 gegenüber Europa gespielt haben, wohl in der Reduzierung der Handelsüberschüsse oder dem Zulassen einer gemäßigten Inflation bestanden, um den verschuldeten Ökonomien dabei zu helfen, durch mehr Wachstum aus ihren Rezessionen herauszukommen und so ihre Schulden zu verringern. Auch sieht sich Deutschland nicht als „consumer of last resort“ – die klassische Rolle eines Hegemons.

Tatsächlich hat sich Deutschland konsequent geweigert, eine solche Politik zu verfolgen. Stattdessen hat es auf strengen Sparprogrammen quer durch die Euro-Zone bestanden, was den Staaten der Peripherie einen Wachstumsweg aus der Rezession erschwert hat und am Ende die Verschuldungskrise noch verschärfen könnte. Auf diese Weise ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung gesunken, während sie in Ländern wie Spanien Rekordniveau erreicht hat. Es hat den Anschein, dass Deutschlands Ansatz für die Euro-Krise nicht so sehr das Wohl Europas als Ganzes im Blick hat, sondern vielmehr Deutschlands eigenes nationales Interesse. Von einem Marshall-Plan für die verschuldeten Wirtschaften Europas kann jedenfalls keine Rede sein.

Deutsche Instabilitätskultur

So hat Deutschland in mancherlei Hinsicht im Endeffekt nicht für Stabilität in Europa gesorgt – die zentrale Aufgabe eines Hegemons –, sondern für Instabilität. Dabei konzentriert sich die deutsche Rhetorik auf Stabilität; von einer „Stabilitätsunion“ ist die Rede, und vom Stolz auf die eigene „Stabilitätskultur“. Aber diese wird von deutscher Seite extrem eng definiert: Wenn Deutschland von Stabilität spricht, ist Preisstabilität gemeint und nichts anderes. Insbesondere durch die fortgesetzte Wortkargheit zu dem Thema, in welchem Ausmaß es die Vergemeinschaftung europäischer Schulden akzeptieren werde – offenbar eine bewusste Strategie, um den Reformdruck gegenüber den verschuldeten Staaten aufrechtzuerhalten –, hat zu einem Klima der Unsicherheit geführt. Man könnte deshalb fast von einer „deutschen Instabilitätskultur“ sprechen.

Die „deutsche Frage“ ist heute in geoökonomischer statt in geopolitischer Form zurückgekehrt.4 Die Größe der deutschen Volkswirtschaft und die Interdependenz zwischen ihr und den umliegenden Ökonomien sorgen für Instabilität innerhalb Europas. Diese Entwicklung wird durch die deutsche Wirtschaftspolitik verschärft, die für ein Land dieser Größe heutzutage oft unangemessen erscheint. Deutsche Politiker scheinen die Wirkungen zu ignorieren, die die deutsche Wirtschaft auf den Rest Europas hat. Wie Simon Tilford vom Centre for European Reform betont hat, kann „eine Volkswirtschaft, die so groß wie die deutsche ist, nicht unendlich auf Exporte setzen, um für echtes Wirtschaftswachstum zu sorgen, ohne die anderen Mitglieder der europäischen Gemeinschaftswährung unerträglichen Zwängen auszusetzen“.5 Praktisch verfolgt Deutschland eher die Wirtschaftspolitik eines Kleinstaats als die eines Hegemons.

Im Ergebnis hat Deutschland bei den Versuchen, Normen zu setzen, Widerstände von anderen Euro-Zonen-Mitgliedern erfahren; mit diesen ist es weiterhin konfrontiert und wird sie aller Voraussicht nach weiterhin zu spüren bekommen, auch von Seiten Frankreichs. Tatsächlich ist Deutschland – darauf hat Charles Grant unlängst hingewiesen – innerhalb der EU zwar so mächtig, aber auch so isoliert wie nie zuvor.6 Das ist keine hegemoniale Herrschaft – vielmehr herrscht ein Mangel an „hegemonialem Einverständnis“. Betrachtet man die derzeitige Situation in Europa in historischer Perspektive, sieht es sogar so aus, als sei Deutschland heute in vielfacher Hinsicht noch weniger eine hegemoniale Macht als zu früheren Zeiten. So gelang es Deutschland als „kooperativem Hegemon“ gemeinsam mit Frankreich vor der deutschen Wiedervereinigung und der EU-Erweiterung, mit Einverständnis seiner europäischen Partner seine eigenen Präferenzen auf europäischer Ebene durchzusetzen.7

Deutschland, obwohl so mächtig innerhalb der EU wie nie zuvor, ist weit davon entfernt, ein Hegemon zu sein – und das nicht, weil es „zögert“ zu führen, sondern eher deshalb, weil es nicht willens oder in der Lage ist, die Opfer zu bringen, die für die Rolle eines Hegemons unerlässlich wären. In der Aufforderung an Deutschland, seine zögerliche Haltung gegenüber Führung zu überwinden, liegt die Gefahr, die Tendenz Deutschlands, Lösungen in seinem eigenen, aber nicht im europäischen Interesse durchzusetzen, noch zu verstärken. Wir sollten Deutschlands Rolle in Europa nicht linear denken; die Frage ist nicht, ob Deutschland stärker eine Führungsrolle annimmt, sondern wie es führt. In gleicher Weise lautet die Frage nicht mehr oder weniger Europa – sondern welches Europa?

Wider eine militante Fixierung auf Inflationsbekämpfung

Gleichgültig, ob seine „Stabilitätskultur“ ein Produkt der kollektiven Erinnerung an die Hyperinflation der zwanziger Jahre ist, ideologischer Überzeugung oder den eigenen Wirtschaftsinteressen entspringt: Deutschland muss sein Verständnis von Stabilität über die militante Fixierung auf Inflation hinaus erweitern. Und es sollte zwei Dinge tun, um in Europa Stabilität im weiteren Sinne herzustellen. Statt Instabilität zu schaffen, um den Druck auf verschuldete Länder aufrechtzuerhalten oder um den europäischen Partnern zusätzliche Konzessionen abzuringen, muss Deutschland seine Politik gegenüber anderen in Europa erstens transparenter machen. Zweitens muss es seine Politik wirklich am europäischen statt am nationalen Interesse ausrichten. Das bedeutet insbesondere einen Plan zur Schaffung von Wachstum in den Ländern der Peripherie, selbst wenn dieser auf Kosten von Deutschlands eigenen, kurzfristigen Wirtschaftsinteressen geht.
Viel ist diskutiert worden, ob das Europa, das sich aus der Euro-Krise heraus entwickelt, ein „deutsches“ ist. Im engeren Sinne ist es das. Deutschlands gewachsene Macht und Frankreichs verhältnismäßige Schwäche haben es Berlin erlaubt, seine Präferenzen in der Euro-Zone und der EU durchzusetzen. Insbesondere durch die Maßnahmen, die als Antwort auf die Krise ergriffen worden sind und die in dem im Dezember 2011 beschlossenen Europäischen Fiskalpakt gipfelten, hat es seinen Partnern ein deutsches Wirtschaftsmodell verordnen können. Aber Deutschland ist noch kein europäischer Hegemon – und wird wahrscheinlich keiner werden –, weil es keine Stabilität garantiert. In diesem Sinne, um es mit Zbigniew Brzezinski zu sagen,8 ist das Europa, das in der Krise entsteht, weniger ein deutsches denn ein chaotisches.

HANS KUNDNANI ist Editorial Director beim European Council on Foreign Relations in London.

  • 1Siehe z.B. Thomas Kleine-Brockhoff und Hanns W. Maull: Der überforderte Hegemon. Ziele und Grenzen deutscher Macht, IP, November/Dezember 2011, S. 50–61; Stefan Kornelius: Hegemon wider Willen, Süddeutsche Zeitung, 28.11.2010; Christoph Schönberger: Hegemon wider Willen. Zur Stellung Deutschlands in der Europäischen Union, Merkur, Januar 2012; William E. Paterson: The Reluctant Hegemon? Germany Moves Centre State in the European Union, Journal of Common Market Studies, September 2011, S. 57–75.
  • 2Radosław Sikorski: Poland and the future of the European Union, europapolitische Grundsatzrede auf Einladung der DGAP in Berlin, 28.11.2011, https://dgap.org/de/node/20029.
  • 3Rede von Finanzminister Wolfgang Schäuble an der Université Paris-Sorbonne, 2.11.2010.
  • 4Hans Kundnani: Germany as a geo-economic power, Washington Quarterly, Sommer 2011, S. 31–45.
  • 5Simon Tilford: Will the Eurozone Crack?, Centre for European Reform, September 2006.
  • 6Zitiert nach Ian Traynor: As the dust settles, a cold new Europe with German in charge will emerge“, The Guardian, 9.12.2011.
  • 7Zum Konzept des „kooperativen Hegemons“ siehe Thomas Pederson: Germany, France and the Integration of Europe, New York/London 1998.
  • 8Siehe Zbigniew Brzezinski: Strategic Vision, New York 2012.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2012, S. 21-25

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