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01. Juni 2008

Was denkt die Jugend?

Mazedonien, Serbien, Kosovo: Drei junge Stimmen aus dem europäischen Niemandsland

Jugendliche in den Nicht-EU-Ländern auf dem Balkan fühlen sich zunehmend isoliert, ausgegrenzt und abgeschnitten vom Rest des Kontinents. Da sie nicht reisen dürfen, können sie auch keine Erfahrungen mit moderner Demokratie in der Europäischen Union sammeln – eine fatale Entwicklung, die den Integrationsprozess der gesamten Region beschädigt.

„Mazedonier zu sein war immer schon ein Problem auf dem Balkan“, schreibt Filip Nelkovski – und gibt damit eine Wahrnehmung wider, die viele junge Menschen in der Region teilen. Die nationale oder ethnische Zugehörigkeit ist dabei austauschbar: Junge Menschen in Südosteuropa empfinden sich als Geiseln historischer Entwicklungen und ihrer Folgen, politischer Entscheidungsträger in ihren eigenen Ländern und der internationalen Staatengemeinschaft, allen voran der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten. Opfermythen, Verschwörungstheorien und nationalistisches Gedankengut fallen auf fruchtbaren Boden in einer Situation nicht nur wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit.

Die internationale Staatengemeinschaft reagiert gemeinhin mit Unverständnis, wenn junge Wähler in den Ländern Südosteuropas aus Protest von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen oder ihre Stimme nationalistischen Parteien geben. Dabei wird gerne übersehen, dass dies auch Folgen der eigenen Politik sind. Die inkonsequente und vom ungenügenden gemeinsamen europäischen politischen Willen geprägte Balkan-Politik der letzten 18 Jahre hat der Glaubwürdigkeit der EU geschadet. Es ist aber insbesondere die Isolation der Gesellschaften Südosteuropas durch strenge Visaregime, die nachhaltig einem der wichtigsten Ziele der internationalen Staatengemeinschaft auf dem Balkan entgegenwirkt: der Etablierung einer prodemokratisch ausgerichteten Öffentlichkeit und damit einer stabilen Wählerschaft für jene politischen Kräfte, die die Reformprozesse fortsetzen und die Länder in die EU führen sollen.

Die überwiegende Mehrheit junger Menschen in Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien hat ihr Land noch nie verlassen. Dabei findet gerade jetzt ein Generationenwechsel auf dem Balkan statt. Die neuen Wähler in den Ländern Südosteuropas unterscheiden sich fundamental von früheren Generationen. Die heute 18-Jährigen haben keine Erinnerung an das ehemalige Jugoslawien. Die neuen Wähler haben auch die Konflikte der neunziger Jahre meist nicht bewusst erlebt, tragen aber die gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Konsequenzen. Nicht zuletzt müssen sie sich der Vergangenheitsbewältigung stellen, die in ihren Gesellschaften erst begonnen hat. Dabei kennen nur wenige ihre regionalen Nachbarn aus eigener Erfahrung. Die Wahrnehmung erfolgt über Erzählungen der älteren Generationen, einseitige Medienberichterstattung sowie über die Rhetorik der politischen Eliten. Der nationale Kontext erhält dabei eine überdimensionale Bedeutung, der Blick nach außen ist auf die EU ausgerichtet. Die gerade von der internationalen Gemeinschaft vielbeschworene regionale Integration endet für diese jungen Menschen spätestens an der eigenen Staatsgrenze.

Die Kombination aus für das kollektive Bewusstsein der Gesellschaften folgenschweren politischen Entscheidungen wie der Unabhängigkeit des Kosovo oder der Entscheidung, Mazedonien nicht die NATO-Mitgliedschaft anzubieten, innenpolitischer Entwicklungen in den Ländern Südosteuropas sowie der Isolation durch Grenzen hat gerade in den letzten Monaten zu einer weiteren Polarisierung innerhalb und zwischen den Ländern des westlichen Balkans geführt. Dabei hat das Ansehen der internationalen Gemeinschaft weiter gelitten. Zwar sehen viele junge Menschen keine Alternative zur europäischen Zukunft ihrer Länder, doch begegnen immer mehr der EU mit Argwohn. Manche sehen in den Versprechen nationalistischer Parteien die einzige Chance für Veränderungen.

Verschwindend gering bleibt bisher die Zahl derer, die in die EU reisen können. Seit Jahren soll es ausgewählten Zielgruppen erleichtert werden, Visa zu erhalten. Die im Januar 2008 in Kraft getretenen „Visa Facilitation and Readmission Agreements“ mit den Ländern des Westlichen Balkans sind nur ein Lippenbekenntnis. Einschließlich der Kosten für Krankenversicherung sind Visa mit über 70 Euro für Studenten unerschwinglich, hinzukommen bürokratische Vergabeverfahren, die eine symbolische Hürde darstellen.

Dabei ist die weit verbreitete Befürchtung unbegründet, junge Menschen würden durch die Möglichkeit zu reisen zur Auswanderung animiert. Vielmehr ist die eigene Erfahrung oft eine Quelle der Inspiration, sich im eigenen Land für mehr Demokratie einzusetzen. Häufig ermöglichen solche Reisen auch die erste unmittelbare Auseinandersetzung mit dem „Anderen“, also mit Gleichaltrigen aus den Ländern des Westlichen Balkans in einem neutralen Umfeld. Ist es der EU ernst mit der europäischen Perspektive für den Westlichen Balkan, sollte sie sich jenen zuwenden, die die Zukunft des Balkans prägen werden. Sie muss jungen Menschen aus der Region endlich die Möglichkeit bieten, Europa selbst zu erfahren.

SANDRA BREKA, geb. 1971, leitet das Berliner Büro der Robert Bosch Stiftung. In einer Initiative mit europäischen Partnerstiftungen hat die Stiftung 2007 den „European Fund for the Balkans“ mit Sitz in Belgrad eingerichtet.

Ein Problem namens Alexandra

Mazedoniens Jugendliche sind tief enttäuscht über die Politik der NATO und der EU ihrem Land gegenüber

Mein Name ist Filip und meine Schwester heißt Alexandra. Können Sie sich vorstellen, dass dies ein Problem sein könnte? Ob Sie es glauben oder nicht, die Antwort ist ja! Zumindest für einen griechischen Zollbeamten an der mazedonisch-griechischen Grenze kann es ein Problem sein. Denn auf dem Balkan ist die mazedonische Staatsbürgerschaft eine komplizierte Angelegenheit.

Mazedonien war einst das Paradebeispiel eines Vielvölkerstaats. Mittlerweile hat es sich zu einem Land entwickelt, dessen hart erarbeitetes Vielvölkermodell die meisten Anrainerstaaten offenbar zunichte machen wollen. Besonders Griechenland lässt keine Möglichkeit aus, die Existenz des Landes Mazedonien, seine nationale Identität und sein Recht auf Unabhängigkeit infrage zu stellen. Wohin genau wird das auf Dauer führen? Sicherlich nicht in die EU. Wohl eher wieder zu dem alten, bereits überwunden geglaubten Politikverständnis innerhalb der Balkan-Staaten. Jedenfalls scheint es so, dass Mazedonien keine Unterstützung von den internationalen Organisationen bekommt. Das führt natürlich zu Frustrationen, besonders innerhalb der jüngeren Generation. Wenn man keine mächtigen Befürworter innerhalb der EU und der NATO hat, ist es eher unwahrscheinlich, dass man dort irgendwelche Fortschritte macht. Und Mazedonien hat mittlerweile wohl eher mehr Feinde als Freunde, also Befürworter des demokratischen Vielvölkermodells, das 2001 im Rahmenabkommen von Ohrid festgelegt wurde. Aber glaubt noch irgendjemand an dieses Abkommen? Ich persönlich glaube teilweise noch daran, aber generell haben weit mehr Jugendliche heute wegen der ungleichen Kriterien und Herabsetzungen bei der Visaregelung eine ablehnende Haltung zur EU.

Hier meine Bedenken für die Zukunft: Griechenland entwickelt sich zu einem großen Problem in der Region. Irrationale politische Ansichten der regierenden konservativen Partei führen nicht nur in Bezug auf Mazedoniens Namensgebung zu weit reichenden Problemen, sondern auch bezogen auf die Institutionen, in denen Griechenland Mitglied ist. Man fragt sich doch: Stimmen die Interessen von Griechenland stärker mit denen der EU und der NATO überein oder beziehen sie sich eher auf die russische Interessenlage auf dem Balkan?

Es mag völlig unlogisch klingen, aber ein vollständiger Beitritt Mazedoniens in die politischen Organisationen hängt nicht von der Erfüllung der Beitrittsbedingungen ab, oder von der Willensbekundung, Truppen im Namen des Weltfriedens nach Bagdad und Kabul zu entsenden. Sondern er hängt ab von Gedanken wie dem oft wiederholten Mantra von Russlands führenden Politikern: keine NATO-Erweiterung gen Südosten. Damit meinen sie die Ukraine und Georgien. Mazedonien könnte dabei einfach ein Kollateralschaden sein.

Deshalb erwarte ich von der EU, dass Mazedonien endlich aktiv unterstützt wird. Dies wird die Pro-EU-Jugendlichen positiv beeinflussen und ihren Glauben an die EU als Institution weiter stärken – einer Institution, die keinesfalls perfekt ist, was die Themen Supranationalismus und zwischenstaatliche Beziehungen angeht. Aber die EU-Mitgliedschaft ist der einzig gangbare Weg für Mazedonien. Und zwar ohne weitere Hindernisse, da die Zeit bereits davonläuft.

FILIP NELKOVSKI, geb. 1979, ist Chefredakteur der Zeitschrift Forum Analitica in Skopje und Fellow des College of Europe.

Mein Wunsch für das Jahr 2020

Serbien und das Kosovo werden gemeinsam Mitglied in der EU: So verwirklicht sich auch hier Europas Friede

Dutzende Gymnasiasten in weißen T-Shirts beteiligten sich am 4. Mai 2008 an einem Rennen in den Straßen von Pristina unter dem Motto „Ziel: Europäische Union“. Der Marathonlauf, welcher von der Kommunalregierung von Pristina fünf Tage vor dem Europa-Tag organisiert wurde, sollte den eingeschlagenen Weg des neuen Staates Kosovo symbolisieren.

Die letzte Meinungsumfrage, die im Kosovo zur europäischen Integration durchgeführt wurde, besagte, dass 94 Prozent aller Kosovaren einem EU-Beitritt zustimmen. Aber wird es allein die generelle Bereitschaft den jungen Rennläufern ermöglichen, ihr Ziel der Mitgliedschaft in der EU zu erreichen? Sicherlich nicht.

Das Kosovo steht mit seinen mehr als zwei Millionen Menschen vor vielen Herausforderungen: Rechtsstaatlichkeit, Verwaltungsreform und Wirtschaftsentwicklung, Reduzierung der Arbeitslosigkeit und der Armutsquote, Ausbau der institutionellen Transparenz und Verantwortlichkeit. Für alle diese Punkte werden die Kosovaren einen langen Atem haben müssen, damit die europäische Perspektive meines Landes Wirklichkeit werden kann. Unterdessen sollte die EU ihr Visasystem liberalisieren, das von jungen Leuten als entscheidend für die Integration des Kosovo in die EU angesehen wird. Wenn die jüngere Generation reisen, im Ausland studieren und Auslandserfahrung sammeln kann, ist dies der erste Schritt auf dem Weg zum Ende der Isolation. Der letzte Schritt wäre, wenn das Kosovo und seine Nachbarstaaten bis zum Jahr 2020 EU-Mitglieder würden.

Dass sich das Beitrittsverfahren für diese Länder zur gleichen Zeit vollzieht, ist genauso wichtig wie die europäische Integration an sich. Ich würde es gerne sehen, wenn das Kosovo und Serbien am gleichen Tag der EU beitreten, beispielsweise am 1. Januar 2020.

Am 4. Mai 2008, demselben Tag, an dem in Pristina der Marathon „Ziel: EU“ stattfand, beteiligten sich Grundschüler in der vorwiegend von Serben bewohnten Stadt Gracanica an einem Radrennen. Die Volkszugehörigkeit war für die 20 Albaner, 20 Serben und zehn Roma-Schüler in diesem von der Kosovo-Polizei organisierten Rennen kein Hindernis. Und so sehe ich auch das Kosovo bis zum Jahr 2020 im regionalen Zusammenhang: Ethnizität wird kein Grund für Meinungsverschiedenheiten sein, wenn Diskussionen über Gebietsteilungen auf Basis der Volkszugehörigkeit veraltet sind. Zudem würden Grenzen für die Balkan-Staatengemeinschaft bedeutungslos werden, wenn diese Staaten der EU beitreten. Das würde dauerhafte Stabilität bringen – und es spiegelt die Idee der EU an sich wider: Krieg zwischen europäischen Staaten undenkbar zu machen.

ARJETA DOROCI, geb. 1982, studierte Anglistik an der Universität Pristina und arbeitet für das „Advocacy Training and Resource Centre“ im Kosovo.

Zwischen den Mühlsteinen der Politik

Wenn Serbien nicht mehr für seine Jugend tut, werden immer mehr junge Serben den Weg in die Emigration gehen

Zuerst einmal musste ich kurz innehalten, als ich gefragt wurde, etwas darüber zu schreiben, wie die Situation im Jahr 2020 in der Balkan-Region aussehen könnte. Als ich dann anfing, wollte ich, soweit es mir möglich war, ehrlich, aber auch kritisch darüber schreiben.

Die Republik Serbien war lange Zeit das einzige Land in der Balkan-Region, das keine nationale Strategie für seine Jugendlichen entwickelt hatte. Fast 1,5 Millionen junge Menschen im Alter von 15 bis 30 Jahren – das sind 20 Prozent der Bevölkerung – hatten keine Gesetze, die ihnen eine aktive Rolle in der Bildung, der Arbeit, dem Gesundheitswesen und dem Sozialleben zugestanden. Es war ein hartes Stück Arbeit, die Regierung zu überzeugen, eine Strategie zu verabschieden. Ist es möglich, dass die Politiker eine solche Gelegenheit verpassen würden, nur weil es Unstimmigkeiten innerhalb der Parteien gab über ein Energieabkommen mit Russland, das zurzeit heißeste Thema in den Streitereien zwischen den Parteien? Da die gesamte Diskussion über die Billigung des Jugendstrategiegesetzes während des Wahlkampfs stattfand, musste man dies in der Tat befürchten.

Und dann, nur zwei Tage vor den Wahlen, einigte sich die Regierung und beschloss die Strategie einstimmig. Aber in der Presseerklärung standen dann nur einige wenige Zeilen über die Strategie – obwohl etwa 16 000 junge Leute an diesem Thema gearbeitet hatten. 30 Forschungsanstalten, zehn Betreuungsgruppen, acht Themengruppen, sechs Beratungsgremien und zehn regionale Konferenzen und 167 Gespräche am runden Tisch haben sich mit diesem Thema eingehend beschäftigt. Die gewünschten Reaktionen blieben aus.

Ich hätte gerne die Möglichkeit, in die Zukunft zu schauen, denn ich würde sagen, dass im Jahr 2020 niemand mehr politischen Schachereien ausgesetzt sein sollte, damit er seine eigenen Rechte ausüben kann. Und nicht jeder Vorgang muss volle politische Unterstützung genießen, um von staatlichen Einrichtungen verabschiedet zu werden. Wenn dieser Trend so weitergeht, wird es gar nicht mehr nötig sein, die gleiche Frage immer wieder zu stellen, warum so viele junge Leute aus Serbien wegziehen. Denn die Antwort ist denkbar einfach.

JELENA KOLO, geb. 1980, ist Doktorandin in europäischen Wissenschaften an der Universität Belgrad.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2011, S. 72 - 77

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