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01. Juni 2007

Warum Israel so nicht kritisiert werden kann

Eine Erwiderung auf Alfred Grosser

Israels Regierung muss wie jede andere demokratisch gewählte Regierung dieser Welt kritisiert werden. Doch derzeit wird das Land in einer Zangenbewegung attackiert: Hier die eliminatorischen Antisemiten à la Achmadinedschad, dort die „fellow travellers“ des Antisemitismus, die den Versuch, Israel zu delegitimieren, mit gedämpftem Echo weitertragen.

„Ich wurde als Jude von den Deutschen verachtet“ – mit diesem Satz leitet der französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser seinen Beitrag „Warum ich Israel kritisiere“ ein.1 Er ist nicht der einzige, der Wert darauf legt, Israel als Jude zu kritisieren: In Deutschland fordert eine Gruppe deutscher Jüdinnen und Juden, den Boykott der Hamas zu beenden, in den USA schlagen jüdische Autoren wie Tony Judt die Auflösung Israels als jüdischem Staat vor, in Großbritannien distanzieren sich 350 „Independent Jewish Voices“ von der Pro-Israel-Haltung ihres Dachverbands. Einige von ihnen, so der Historiker Eric Hobsbawm oder der Dramatiker Harold Pinter, scheinen ihr Jüdisch-Sein erst jetzt, als Israel-Kritiker, entdeckt zu haben, was ihnen eine größere mediale Aufmerksamkeit verschafft. Denn die Überzeugung, dass Juden über den Verdacht des Antisemitismus erhaben und deshalb besonders glaubwürdig sind, ist Common Sense. Dem widerspricht eine vom American Jewish Committee veröffentlichte Studie, die Antisemitismus auch bei Juden registriert und die führende Rolle von Juden im Kampf gegen Israel als „erschütterndes Charakteristikum des Neuen Antisemitismus“ interpretiert.2 An welcher Stelle des Spannungsfelds zwischen „besonders glaubwürdig“ und „erschütternd antisemitisch“ steht Alfred Grossers Israel-Kritik?

Grosser macht auf „das schlimme Los der Einwohner von Gaza, von Westjordanien oder von Ostjerusalem“ aufmerksam und führt deren Lage auf die „furchtbare Grundeinstellung heutiger israelischer Politik“ zurück. Er schreibt: „Ich verstehe nicht, dass Juden heute andere verachten und sich das Recht nehmen, im Namen der Selbstverteidigung unbarmherzig Politik zu betreiben.“ Es sei Israels „Gewalt, die … so viele verzweifelte Jugendliche … zum selbstmörderischen Attentat verführt.“ Darüber hinaus sei aber auch die „alte, grundsätzliche“ Frage der Araber ernst zu nehmen: „Warum sollen wir harte Konsequenzen für Auschwitz tragen?“ Mit dieser Frage trifft Grosser einen wunden Punkt – den Angelpunkt für das schlechte Gewissen vieler Europäer, die glauben,

für das Los der Palästinenser indirekt verantwortlich zu sein. Dabei ist schon die Prämisse falsch: Kein Araber musste harte Konsequenzen für Auschwitz tragen. Zwar hat die Erfahrung des Holocaust die Vereinten Nationen 1947 dazu veranlasst, für die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina zu votieren. Dass gleichzeitig auch ein arabisch-palästinensischer Staat beschlossen wurde, geriet aber in Vergessenheit.

Ewige Unterdrücker?

Die Mehrheit der arabischen Palästinenser wollte 1947 den Zwei-Staaten-Beschluss der Vereinten Nationen akzeptieren. Immerhin hatten zu diesem Zeitpunkt zehntausende Palästinenser in jüdisch dominierten Wirtschaftsbereichen, etwa den Zitrusfeldern, Arbeit gefunden. Ohne seine Landsleute zu konsultieren, wies der ehemalige Mufti von Jerusalem, Amin el-Husseini, den Zwei-Staaten-Beschluss jedoch zurück und überredete die Führer der fünf arabischen Nachbarländer, die Etablierung des jüdischen Teilstaats mit allen Mitteln zu verhindern. Es war der ebenso verhängnisvolle wie vermeidbare Krieg von 1947/48, der die von Grosser erwähnten „harten Konsequenzen“ nach sich zog – und zwar auf beiden Seiten. 6000 Israelis und ungezählte palästinensische Araber wurden getötet und zahllose Araber in Palästina und Juden in der übrigen arabischen Welt zu Flüchtlingen -gemacht.

Bis heute hat die Historiographie der PLO die Stimmen jener Araber unterdrückt, die den Zionismus unterstützt oder sich mit ihm arrangiert hatten. So begrüßten zahlreiche Araber in den zwanziger Jahren die aus Europa einwandernden Juden als Investoren, die mit neuen Technologien und neuem Elan den materiellen und kulturellen Abstand zwischen dem Orient und dem Okzident würden verringern helfen. In seiner bahnbrechenden Studie „Palestinian Collaboration With Zionism 1917–1948“ listet Hillel Cohen die Motive der mit dem Zionismus kooperierenden Araber in Palästina auf: Die einen versprachen sich von der Kooperation einen individuellen Nutzen, etwa zusätzliche Einkünfte oder einen Job, andere sahen in der Zusammenarbeit die Interessen ihrer Stämme, Dörfer oder Nation am besten gewahrt, während die Motive einer dritten Gruppe laut Cohen „ethisch und humanistisch orientiert waren: Sie waren mit Juden befreundet oder hatten sie als Nachbarn und waren über die anti-jüdischen Gewalttätigkeiten der -palästinensischen Nationalbewegung entsetzt.“3

Angeführt wurden diese Gewalttätigkeiten von Arabern, die Zionisten hassten, weil sie ihre althergebrachten Gebräuche durch die moderne Lebensweise dieser Zuwanderer in Frage gestellt sahen.Während sich der für eine Modernisierung offene Flügel der Palästinenser in der Regel mit den Zionisten zu arrangieren suchte, waren es die Vorläufer der Islamisten, die unter der Führung des Mufti von Jerusalem, Amin el-Husseini, jeden Verständigungsversuch als Verrat bekämpften und auf diese Weise schon einen ersten Zwei-Staaten-Vorschlag 1937 zu Fall brachten.4 Des Muftis Erbe aber wirkt nach: Bis heute riskiert, wer auf Ausgleich mit Israel setzt, sein Leben. So wurden zwischen 1987 und 1993 insgesamt 942 Palästinenser von Palästinensern wegen des Vorwurfs der „Kollabora-tion“ ermordet, wobei dieser Vorwurf bei 130 von ihnen mit der Anschuldigung „moralischer Verfehlungen“ („Drogen“, „Prostitution“, „Videohandel“) einherging.5 Interessiert sich Grosser auch für diese Toten?

Ewige Unterdrückte?

In seiner soeben veröffentlichten Autobiographie bezeichnet der frühere PLO-Vertreter für Jerusalem und Leiter der Al Quds-Universität, Sari Nusseibeh, die zweite Intifada als „einen ruinösen und bluttriefenden Wahnsinnsanfall“ und kritisiert die Hamas-Charta treffend als ein Dokument, „das so klingt, als sei es direkt aus dem ‚Stürmer‘ abgeschrieben“.6 Bei Grosser kommen Dissidenten wie Nusseibeh nicht vor. Er betrachtet die Palästinenser als das Opferkollektiv und Israel als den Aggressor, der „im Namen der Selbstverteidigung“ Verbrechen begeht. Für die realen Optionen der israelischen Politik interessiert sich Grosser wenig. „Sieht sich Israel denn nicht einer besonderen Bedrohung ausgesetzt?“, fragte ihn im April 2007 die taz und Grosser antwortete: „Meiner Meinung nach: nein. Israel existiert.“7

Wenn Achmadinedschad die Auslöschung Israels als Beitrag zur „Befreiung der Menschheit“ propagiert, hört Grosser nicht hin. Wenn Hassan Nasrallah, der Führer der Hisbollah, Israel als ein „Krebsgeschwür“ bezeichnet, das „ausgemerzt werden müsse“, wird dies ebenso souverän ignoriert wie die Hamas-Charta, die Israels Zerstörung zu einem Gelübde, zu einem Versprechen gegenüber Gott erhebt. Ob Israel den Gaza-Streifen besetzt hält oder ihn gegen erbitterte innenpolitische Widerstande räumt – dies scheint ihm unerheblich zu sein. Ob sich der Gaza-Streifen nach dem Abzug zu einer blühenden palästinensischen Modellregion entwickelt, deren Bewohner auf Frieden und Wohlstand setzen (so die Hoffnungen des Sommers 2005) oder ob dieser Landstrich in einen waffenstarrenden und von Tunneln durchzogenen Frontabschnitt des Krieges gegen Israel verwandelt wird, ist ihm ebenfalls egal – Hauptsache, das eingeschliffene Schwarz-Weiß-Muster bleibt intakt. Grosser zeichnet Israel als Abstraktion des Bösen, unabhängig davon, was die israelische Regierung unterlässt oder tut, und das Kollektiv der Palästinenser als Abstraktion des Guten, unabhängig davon, was deren Repräsentanten lassen oder tun.

Zirkelschluss der Ignoranz

So zeigt Grosser selbst noch für den Selbstmordterror Verständnis und führt „die Bereitschaft zu Selbstmordattentaten“ auf israelische „Unterdrückung, Kränkungen und Enteignungen“ zurück.8 Was bei Grosser der Versuch einer Ehrenrettung sein soll, stellt aus Sicht der Täter eine Beleidigung dar: „Hier geht es nicht um Selbstmordanschläge“, doziert Scheich Qaradawi, der prominenteste Vertreter der Muslimbruderschaft, zu der auch die Hamas gehört, „hier geht es um heroische Märtyrer-Operationen, und die Helden, die sie ausführen, werden nicht von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung dazu getrieben“. Die von Stolz und Begeisterung geprägten testamentarischen Videobotschaften der Selbstmordattentäter bestätigen, was Qaradawi sagt: Es geht um die Erfüllung einer religiösen Mission.

Grosser ignoriert, dass sich der Charakter des Nahost-Konflikts in den vergangenen 20 Jahren grundlegend verändert hat: Aus dem Kleinkonflikt zwischen Palästinensern und Zionisten – der unter Nasser zum Großkonflikt zwischen Arabern und Israelis eskalierte – ist längst ein Religions- und Weltanschauungskrieg geworden. Ein Krieg des Islamismus unter Führung des Iran gegen das westliche Gesellschaftsmodell, ein Krieg, dessen erstes Etappenziel die Zerstörung Israels sein soll.

Bei Grosser verkommt das von ihm reklamierte „echte Mitgefühl für das Leiden in Gaza und den ,Gebieten‘“ zur sentimentalen Geste, da er sich um die Analyse – die Auflösung des Problempakets in seine Einzelteile – nicht schert. Der Verzicht auf Klarheit ist aber der Beginn der Komplizenschaft. Wer wie Grosser die Augen vor der islamistischen Ideologie verschließt – ihrem Todeskult, ihrem Antisemitismus, ihrem Hass auf Selbstbestimmung – fällt erstens all jenen Muslimen in den Rücken, die die Talibanisierung ihrer Lebensumstände verhindern wollen. Er macht zweitens Israel nach der Devise: „Je barbarischer der antijüdische Terror, desto ungeheuerlicher die israelische Schuld“ zum Sündenbock für islamistische Gewalt. So wird das alte „Der-Jud-ist-schuld“-Stereotyp um eine zeitgemäße Variante ergänzt.

Dieser Zirkelschluss der Ignoranz ist en vogue: Eine von der BBC in Auftrag gegebene Umfrage von Anfang des Jahres ergab, dass heute 77 Prozent der Deutschen Israels Einfluss in der Welt als negativ bewerten. Das einzige Land der Erde, dessen Eliminierung der Iran und Syrien, die Hisbollah und die Hamas propagieren und vorbereiten, gilt international als Sündenbock Nummer eins. Dass -angesichts dieser Stimmung eine wachsende Gruppe von Juden lieber zu den „good Jews“ gehört, die Israel attackieren anstatt es gegen Islamisten zu verteidigen, ist nachvollziehbar. Warum sollten Juden couragierter oder klüger als Nichjuden sein? Ist aber, wer Israel radikal kritisiert, Antisemit? 

Bekanntlich ist auch Israel kein Hort der Tugendhaftigkeit. Auf der einen Seite muss Israels Regierung wie jede andere demokratisch gewählte Regierung dieser Welt kritisiert werden. Auf der anderen Seite ist das europäische Denken seit Jahrhunderten mit antijüdischen Mustern durchsetzt – da ist keine Kritik an Juden oder an Israel vor antisemitischen Stereotypen a priori gefeit. Immerhin hat eine Arbeitsdefinition der EU für die Beurteilung, wann die legitime Kritik aufhört und der Antisemitismus beginnt, einen Rahmen gesetzt: 1. wenn die israelische Politik mit Nazipraktiken gleichgesetzt wird oder Symbole und Bilder des klassischen Antisemitismus auf Israel übertragen werden; 2. wenn Israel das Recht zu existieren abgesprochen wird; 3. wenn ein doppelter Standard angelegt und von Israel verlangt wird, was niemand von einem anderen demokratischen Staat erwarten oder fordern würde.9

Diejenigen, die diesen Kodex verletzen, müssen deshalb noch keine Parteigänger des Nazi-Antisemitismus sein. Und doch bahnen sie den Weg für jene, die bereit sind, den Krieg gegen Israel auch mit Atomwaffen zu führen. Heute wird Israel in einer Zangenbewegung attackiert: Hier die eliminatorischen Antisemiten vom Schlage eines Achmadinedschad oder einer Hamas, die ihr „Wissen“ über Juden aus den Protokollen der Weisen von Zion ziehen, dort die nichtjüdischen wie jüdischen „fellow travellers“ des Antisemitismus in den progressiven Bewegungen und Regierungen des Westens, die den iranischen Versuch, Israel zu delegitimieren, mit gedämpftem Echo aufgreifen und weitertragen.

Gehört auch Alfred Grosser in diese zweite Kategorie? Die Antwort auf diese Frage stelle ich den Leserinnen und Lesern anheim.

Dr. MATTHIAS KÜNTZEL, geb. 1955, ist Politikwissenschaftler und seit 2004 Associate Researcher am Vidal Sassoon International Centre for the Study of Antisemitism (SICSA) an der Hebrew University von Jerusalem. 2002 erschien  
sein Buch „Djihad und Judenhass. Über den neuen antijüdischen Krieg“.
 

  • 1Alfred Grosser: Warum ich Israel kritisiere, Internationale Politik (IP), Februar 2007, S. 98–107.
  • 2Alvin H. Rosenfeld: „Fortschrittliches“ jüdisches Denken und der Neue Antisemitismus, mit einem Vorwort von Leon de Winter, Ölbaum-Verlag 2007.
  • 3Hillel Cohen: Army of Shadows. Palestinian Collaboration With Zionism 1917–1948, Manuskript S. 73. Die englische Übersetzung wird 2007 bei University of California Press publiziert.
  • 4Zur Rolle von Amin el-Husseini siehe Matthias Küntzel: Die zweite Spaltung der Welt, IP, April 2006, S. 75–83.
  • 5Die von dem Araber Abdul Jawahd Saleh und dem Israeli Yizahr Be’er gemeinsam erstellte Studie wurde im Februar 1995 unter dem Titel Collaborators in the Occupied Territories: Human Rights Abuses and Violations unter www.birzeit.edu/crdps veröffentlicht.
  • 6Leon Wieseltier: Sympathy for the Other, New York Times Book Review, 1.4.2007.
  • 7„Ich muss als Jude nicht für Israel sein“, Interview mit Alfred Grosser in der Tageszeitung (taz), 4.4.2007.
  • 8Vgl. das Interview mit der taz (Anm. 7).
  • 9Diese Liste entspricht der von der EU-Behörde EU Monitoring Centre on Racism and Xenophobia entwickelten „Working Definition of Antisemitism“, siehe: http://eumc.europa.eu/eumc/material/pub/AS/AS-WorkingDefinition-draft.p….
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2007, S. 134 - 139.

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