Warum die humanitäre Krise in Gaza eine strategische Entscheidung ist
Gaza erlebt in diesen Tagen eine der am intensivsten dokumentierten Hungersnöte der modernen Geschichte. Nach zehn Wochen absoluter Blockade hat Israel die Wiedereröffnung streng kontrolliert – täglich dürfen etwa 100 Lastwagen den Übergang Kerem Shalom passieren. Das sind viel zu wenige; und das ist kein Zufall.
Gemessen an der Theorie des gerechten Krieges, die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit fordert, wirft die Politik Israels in Gaza grundlegende ethische Fragen auf. Premierminister Benjamin Netanjahu hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er die Wiederaufnahme einer minimalen Hilfe vor allem als eine diplomatische Notwendigkeit wertet. Dieses Eingeständnis kann als Beleg einer Strategie gelten, bei der humanitäre Hilfe auf ein bloßes diplomatisches Instrument reduziert wird und nicht mehr als moralische Verpflichtung gilt.
Die EU hat trotz öffentlicher Verurteilung die israelische Kontrolle über die Hilfslieferungen akzeptiert und damit einen Präzedenzfall bestätigt, bei dem humanitäre Hilfe eher als Druckmittel eingesetzt wird, statt sie als Recht anzuerkennen.
Wenn humanitäre Grundsätze auf Realpolitik treffen
Am 7. Oktober 2023 hat die Hamas Israel überfallen und etwa 1200 Menschen umgebracht, zum Teil auf bestialische Art und Weise. Außerdem verschleppte die Terrororganisation mehr als 200 Menschen in den Gazastreifen. Zuletzt waren es noch 58, von denen nicht mehr alle am Leben sind. Die Hamas weigert sich, die Geiseln freizulassen. Nach dem Angriff des 7. Oktober hat Israel massiv zurückgeschlagen. Heute sind weite Teile Gazas dem Erdboden gleich. Zehntausende kamen ums Leben oder wurden schwer verletzt.
Die grundlegenden Schutzmaßnahmen für Zivilisten – Kernstück der Prinzipien des gerechten Krieges – sind in Gaza längst zusammengebrochen. Lebensmittel, Treibstoff und Medikamente sind keine neutralen humanitären Güter mehr, sondern werden routinemäßig als Zwangsmittel eingesetzt. Die Hilfslieferungen liegen weit unter den 500 Lastwagen, welche die UN für notwendig hält, um eine Hungersnot zu verhindern. Alle Lieferungen werden streng nach den Sicherheitsprotokollen Israels kontrolliert.
Seit Anfang März 2025 hat Israel humanitäre Lieferungen in den Gazastreifen blockiert. Nun bietet die Regierung Netanjahu einen streng kontrollierten Kanal – verwaltet von der neu gegründeten Gaza Humanitarian Foundation und unterstützt von den USA – als einzigen zulässigen Weg für Hilfslieferungen an.
Dieses neue Modell, das die zuvor aus Gaza verbannten UN-Organisationen ersetzt, legt die humanitäre Hilfe in die Hände privater Sicherheitsfirmen, die militarisierte Verteilungszentren betreiben. Der Plan, der nur denjenigen Bewohnern Gazas zugänglich ist, die strenge Sicherheitskontrollen passieren können, institutionalisiert die Ausgrenzung und birgt die Gefahr, dass die Hilfe zu einem Mechanismus einer Zwangsumsiedlung wird. Bereits 90 Prozent der Bevölkerung Gazas wurden vertrieben – viele davon mehrfach.
Ein gefährlicher Präzedenzfall?
Nach den Grundsätzen der Theorie des gerechten Krieges sind diese Maßnahmen ein klarer Verstoß gegen das jus in bello (Recht im Krieg), das eine unparteiische und verhältnismäßige Behandlung der Zivilbevölkerung vorschreibt. Unabhängige Kontrolle abzuschaffen und die humanitären Aufgaben an private Einrichtungen zu übertragen, die nicht an internationales Recht gebunden sind, gewährt Israel uneingeschränkte Macht darüber, wer wann und wie Hilfe erhält. Das macht die humanitäre Hilfe zu einer Waffe.
Während humanitäre Organisationen die Blockade als unentschuldbar verurteilen, hat Europa damit reagiert, sich mit der Situation abzufinden und einen Plan zu unterstützen, der nach den Worten des deutschen Außenministers Johann Wadephul „rechtlich einwandfrei“ ist.
Der neue Plan verstrickt jedoch sowohl Geber als auch Empfänger in einen undurchsichtigen Rahmen, der von Israels Sicherheitsagenda diktiert wird. In ihm wird die Verteilung der Hilfe nicht von humanitären Erfordernissen oder rechtlichen Verpflichtungen bestimmt, sondern von der Kontrolle über den Zugang. Er könnte auch einen gefährlichen Präzedenzfall für die Krisenbewältigung weltweit schaffen.
Die EU steht nun als wichtigster Geldgeber und politischer Akteur vor einer auch moralischen Entscheidung. Indem Brüssel keinen politischen Druck ausübt und sich auf von Israel genehmigte Liefermechanismen verlässt, kommt dies zumindest der Akzeptanz der Abschottung Gazas gleich.
Europas kalkulierte Zweideutigkeit
Im Vergleich zu Hungersnöten, die durch den Zusammenbruch eines Staates oder durch Chaos verursacht wurden – wie in Biafra, der syrischen Enklave Yarmouk oder im Jemen –, ist die Hungersnot in Gaza das Ergebnis einer organisierten, institutionalisierten Politik. Jede Entscheidung über Hilfslieferungen und Grenzübertritte wird von internationalen Organisationen und Satellitenbildern überwacht.
Die humanitären Organisationen OCHA, WHO, WFP und UNRWA haben erstmals koordinierte Warnungen herausgegeben, in denen sie Hunger ausdrücklich als Kriegswaffe bezeichnen. Die Verhandlungskanäle sind indes zusammengebrochen, humanitäre Hilfe wurde weitestgehend im Namen der Sicherheit ausgesetzt.
Im Gegensatz zu früheren Krisen – wie in Somalia 1992 oder in Bosnien Anfang der 1990er Jahre –, in denen internationale Akteure konkrete Schritte wie die Einrichtung humanitärer Korridore oder sogar Flugverbotszonen unternahmen, beschränkte sich die Reaktion der EU auf die Lage in Gaza weitgehend auf Erklärungen und wenig konkrete Maßnahmen.
Zwar wird Einstimmigkeit als Hindernis angeführt, doch in der Praxis kann jedes EU-Mitglied Waffenlizenzen verweigern oder Sanktionen mit qualifizierter Mehrheit verhängen, wie dies 2013 im Fall Ägyptens geschehen ist.
In Wirklichkeit hat politisches Kalkül Vorrang vor Prinzipien. Bis Oktober 2024 haben nur Spanien und Irland die Völkermordklage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) offiziell unterstützt und rechtliche Erklärungen gemäß Artikel 63 eingereicht. Belgien erklärte seine Absicht, sich zu beteiligen, hat jedoch noch keine formelle Klage eingereicht; es ist der einzige EU-Staat, der die Waffenexportgenehmigungen für Israel ausgesetzt hat. Die Niederlande, seit Langem einer der engsten Verbündeten Israels, haben sich dem IGH-Verfahren nicht angeschlossen, aber eine Überprüfung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel durch die EU gefordert. Dennoch vermeidet die niederländische Regierung weiterhin rechtliche Schritte vor dem IGH.
Politische Prioritäten
Andere Länder weiten indes ihr Engagement aus. Deutschland genehmigte 2023 Waffenexporte nach Israel im Wert von 326,5 Millionen Euro – zehnmal so viel wie im Vorjahr –, während Frankreich seine Verkäufe verdoppelte und moderne Drohnenplattformen und Ausrüstung für Stadtkriege hinzufügte. Die Europäische Investitionsbank genehmigte 250 Millionen Euro für eine Eisenbahnverbindung nach Tel Aviv, und Israels Beteiligung an EU-Forschungs- und Innovationsfonds geht unvermindert weiter. Israel profitiert von einer umfangreichen Beteiligung an EU-finanzierten Forschungsprojekten und erhält über 126 Millionen Euro aus Horizon-Europe-Projekten, von denen viele direkt den israelischen Rüstungskomplex betreffen.
Die EU-Exportvorschriften verlangen eine Überprüfung der Einhaltung des humanitären Völkerrechts, doch die Durchsetzung bleibt den nationalen Hauptstädten überlassen, sodass politische Prioritäten Vorrang vor Grundsätzen haben. Mit ihrer Weigerung, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen – Wiederherstellung des neutralen humanitären Zugangs, Aussetzung von Waffenverkäufen oder Nutzung des Handels, um Israels Blockade in Frage zu stellen –, offenbart die EU die Grenzen ihrer normativen Macht.
Die Neugestaltung der Grenze Gazas steht in engem Zusammenhang mit der Sicherung künftiger Infrastrukturprojekte. Sie stellt damit strategische Interessen über die Rechte und Zukunftsaussichten der vertriebenen Bewohner Gazas. Sie erfüllt nicht die grundlegende Voraussetzung für eine gerechte Kriegsführung, wonach das Ende der Feindseligkeiten auf die Wiederherstellung des zivilen Lebens abzielen muss und nicht auf die Institutionalisierung der Ausgrenzung.
Die EU hat es bisher vermieden, sich offiziell mit solchen Zusammenhängen zu beschäftigen. Sie beschränkt ihre Reaktion auf humanitäre Hilfe, während sie sich aus den weiterreichenden strategischen Implikationen der Wiederansiedlung in Gaza heraushält. Solange Brüssel nicht über seine kalkulierte Ambiguität hinausgeht, läuft es Gefahr, ein System zu festigen, das strategische Interessen über seine eigenen erklärten Werte stellt.
Aus dem Englischen von Martin Bialecki
Internationale Politik, Online-Veröffentlichung, 26. Mai 2025
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