IP

01. März 2017

„Wann, wenn nicht jetzt?“

Die Trump-Regierung eröffnet die Chance, dass sich Europa neu aufstellt

Frankreichs außenpolitische Prioritäten sind mit denen Deutschlands weitgehend deckungsgleich, erklärt der Sicherheitsexperte Bruno Tertrais. Und nach einigen Enttäuschungen hat Paris auch in vielen militärischen Fragen in Berlin einen engagierten Partner. Die europäische Debatte über nukleare Abschreckung lässt allerdings zu wünschen übrig.

IP: Wie würden Sie Frankreichs außenpolitische Prioritäten beschreiben?

Bruno Tertrais: Sie sind ziemlich klar und innenpolitisch weitgehend unumstritten. Paris will das europäische Projekt erhalten und ausbauen. Frankreich und Europa insgesamt sollen vor Terrorismus, Proliferation und möglichen Aggressionen anderer Mächte geschützt und die europäische Nachbarschaft stabilisiert werden. Eine multilaterale Weltordnung, die auf den Prinzipien der Vereinten Nationen gründet, soll bewahrt werden. Die Verteidigung der Menschenrechte und die Entwicklungszusammenarbeit gehören genauso dazu wie der Kampf gegen den Klimawandel.
 

IP: In welchen Bereichen würde sich Paris eine engere Zusammenarbeit wünschen?

Tertrais: Allem Gerede über die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich zum Trotz waren Paris und Berlin doch bei den meisten großen Fragen einer Meinung, ob es um das iranische Atomprogramm ging oder die russische Aggression in der Ukraine. Letztere ist besonders wichtig, bedenkt man die unterschiedlichen Wege, die unsere beiden Länder während der ersten Jahre des Jugoslawien-Krieges Anfang der neunziger Jahre gingen. Heute dagegen ist es vor allem das so genannte „Normandie-Format“ – Frankreich, Deutschland, Russland und die Ukraine –, in dem über die Ukraine-Krise beraten wird.

Aber natürlich gibt es auch Unterschiede. Die größte Herausforderung besteht darin, sich über die künftige Richtung des europäischen Projekts zu einigen. Eine Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dafür, dass es in Europa vorangeht. Wir sind nicht einer Meinung, was die Bewältigung der Flüchtlingskrise angeht, die grundlegende Fragen zur europäischen Identität und Sicherheit aufwirft. Und es gibt weiterhin den Unterschied zwischen dem „interventionistischen“ Frankreich und dem „zögerlichen“ Deutschland, auch wenn dieser in den vergangenen 20 Jahren geringer geworden ist. Aber noch immer sind grundlegende Unterschiede in sicherheitspolitischen Fragen sind deutlich zu erkennen. Dazu gehören vor allem die nukleare Abschreckung, auf die Frankreich setzt, und der deutsche Wunsch nach einer Abschaffung von Atomwaffen, die klar einer pazifistischen Kultur entspringen. Hier erhofft sich Paris eindeutig mehr von Berlin.

IP: Nehmen wir den Mali-Einsatz: Erhält Frankreich bei dieser Mission ausreichend deutsche Unterstützung?

Tertrais: Wenige Tage nach Beginn der französischen Intervention in Mali Anfang 2013 war ich bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Zu meiner Überraschung waren einige meiner deutschen Gesprächspartner davon überzeugt, dass es Frankreich vor allem um die Sicherung von Bodenschätzen gehe. Das war wirklich nicht der Fall. Aber diese deutsche Wahrnehmung offenbarte mir so einiges. Ich behaupte nicht, dass imperiale und neokolonialistische Einstellungen in Frankreich gänzlich verschwunden wären, aber vieles davon ist aufgearbeitet. Was Afrika betrifft, verstehen Deutsche und Franzosen einander wohl nicht immer. Weil die Franzosen davon ausgingen, dass wir in Mali Europas Drecksarbeit erledigten – die terroristische Bedrohung in der Sahelzone verringern –, erwarteten wir, dass unsere Partner uns zumindest unterstützen würden, und waren enttäuscht, als diese Unterstützung nur sehr zögerlich kam. Doch das ist jetzt Vergangenheit. Mittlerweile ist Deutschland sehr präsent in Mali und der Bundestagsbeschluss vom Januar, die Anzahl von deutschen Soldaten für die UN-Mission MINUSMA auf 1000 zu erhöhen, zeugt davon, dass Berlin die Sache sehr ernst nimmt.

Die entscheidende Frage für Frankreich und Europa ist nun, wie man langfristig vorgehen soll. Frankreich führt eine großangelegte Operation namens Barkhane durch, um die Terrorbedrohung in der ganzen Sahelzone einzudämmen und zu verringern. Doch werden unser Wille und die verfügbaren Mittel auch ausreichen, um notfalls ein ganzes Jahrzehnt dort engagiert zu bleiben? Ich muss schon zugeben, dass wir Franzosen manchmal etwas unentschlossen sind, was wir von unseren europäischen Partnern eigentlich wollen. Es wird zwar immer behauptet, dass wir mehr Zusammenarbeit wollen, aber zugleich wissen viele in Paris, dass multilaterale Militäroperationen sehr komplex sind – und dass unilaterales Vorgehen die Dinge manchmal vereinfacht …

IP: Offensichtlich haben wir es seit Januar mit einer isolationistischen, schwer einschätzbaren US-Regierung zu tun. Was bedeutet das für Frankreich und Europa?

Tertrais: Sie haben recht mit diesen beiden Adjektiven; sie stehen für einen jeweils anderen Problemkreis. Ein bisschen Unberechenbarkeit kann ja der Abschreckung dienlich sein, aber wir Europäer, als überzeugte Verbündete der USA, müssen wissen, wohin Washington steuert. Unser erstes Problem ist die Unklarheit. US-Präsident Donald Trump und seine Minister sagen zum gleichen Thema teils völlig unterschiedliche Dinge. Das könnte noch einige Zeit anhalten. Aber wir sollten nicht nur reagieren, sondern von uns aus der neuen Administration unsere Prioritäten darlegen. Wenn Washington wirklich isolationistischer werden sollte, müssen wir uns darüber klar werden, was das bedeutet. Ich glaube nicht, dass die NATO wirklich auf dem Spiel steht. Die eigentliche Frage lautet, welches politische, militärische und finanzielle Engagement wird Washington im Rahmen der Allianz in den nächsten vier Jahren eingehen? Und wie wird das in Russland gesehen? Denn Moskau beobachtet diese Vorgänge sehr genau.

Unser Problem ist aber, dass wir Europäer unterschiedliche Haltungen an den Tag legen, anstatt vereint und entschlossen zu agieren. Manche Regierungen sympathisieren offenbar mit Herrn Trump, gerade was seine Haltung gegenüber Migranten und dem Islam angeht. Aber etwas Positives hat Trumps Vereidigung doch, nämlich dass wir Europäer nun gezwungen sind, mehr Verantwortung zu übernehmen. Wenn wir unsere Verteidigungskapazitäten jetzt nicht stärken, dann werden wir es wohl nie tun. Da fühlen wir Franzosen uns ein bisschen im Recht – denn seit den sechziger Jahren wiederholen wir, dass Europa nicht bis in alle Ewigkeit auf den Schutz durch die USA bauen könne.

Was den Nahen Osten angeht, so stehen uns wohl turbulente Zeiten bevor. Wir müssen Präsident Trump daran erinnern, dass sich seine Politik in der Region – wie auch immer sie aussehen mag – unmittelbar auf unseren Kontinent auswirkt, vor allem im Bereich Terrorismus und Migration. Und im Hinblick auf das Nuklearabkommen mit dem Iran müssen wir klarstellen, dass wir keine Neuverhandlung akzeptieren werden; Teheran würde sich dem ohnehin verweigern. Schließlich müssen wir in der Klimapolitik lernen, zumindest vorläufig ohne Washington zu handeln. Aber wir sollten nicht vergessen, dass es sich hierbei um ein Langzeitthema handelt, und eine amerikanische Präsidentschaft dauert nur vier Jahre – wobei man zum heutigen Zeitpunkt eine Wiederwahl Trumps nicht ausschließen kann!

IP: Ist es an der Zeit, die europäische Säule der NATO zu verstärken?

Tertrais: Ich war von dem Begriff „europäische Säule“ noch nie sehr angetan. Erstens, weil das Bündnis außer den USA auch die beiden wichtigen nichteuropäischen Mitglieder Kanada und Türkei umfasst. Und zweitens, wenn es schon eine europäische Säule für unsere Sicherheit geben muss, dann ist das heute die EU oder sollte es zumindest sein. Ich befürchte, dass unser Problem bald ein türkisches sein wird. Präsident Recep Tayyib Erdogan ist ein relativ unberechenbarer Charakter. Wenn er mit Herrn Trump nicht klarkommen sollte, könnte er entscheiden, US-Stützpunkte auf türkischem Boden zu schließen oder amerikanisches Militärpersonal auszuweisen. So ähnlich wie Frankreichs Präsident Charles de Gaulle 1967 – nur ohne die Garantie, dass Ankara im Fall der Fälle auf unserer Seite bliebe. Was würde das für die NATO bedeuten? Und ehrlich gesagt, können wir heute immer noch davon ausgehen, dass die Interessen und Werte der derzeitigen türkischen Regierung die gleichen sind, die Franzosen und Deutsche verfolgen beziehungsweise für die sie stehen? Zugleich verbleibt die NATO als einziger Rahmen, in dem die USA, Großbritannien und die meisten EU-Länder in Verteidigungsfragen zusammenarbeiten.

IP: Welche Rolle wird London nach dem Brexit spielen?

Tertrais: Seit 1991 und bis zum heutigen Tage ist Großbritannien Frankreichs wichtigster Partner in allem, was Sicherheit und Verteidigung angeht, vom Krisenmanagement bis hin zu Auslandseinsätzen. Das gilt für den Balkan, Nordafrika und den Nahen Osten. Auch industriepolitisch ist das Land für uns ein ebenso wichtiger Partner wie Deutschland. Zudem kooperieren wir bilateral als Atommächte. Insofern sind die Beziehungen zu Großbritannien für uns Franzosen sehr wichtig. Die gute Nachricht ist, dass fast die gesamte sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit bilateral, d.h. außerhalb des EU-Rahmens geregelt ist. Theoretisch gibt es also keinen Grund, warum diese Zusammenarbeit unter dem Brexit leiden sollte.

Über drei Punkte sollten wir uns aber dennoch Sorgen machen. Erstens beabsichtigt London, näher an die USA heranzurücken, was sich sicher nachteilig auf seine europäischen Verbündeten auswirken wird. Zweitens wird der Brexit dazu führen, dass Großbritannien weniger für Verteidigung ausgeben kann. Und drittens will die EU verhindern, dass es weiterhin enge Beziehungen in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung gibt – aus Angst, dass ein Brexit ohne solche Folgen andere Länder ermutigen könnte, dem britischen Beispiel zu folgen.

IP: Ist ein ständiger britischer Sitz im UN-Sicherheitsrat auch nach dem Brexit noch gerechtfertigt?

Tertrais: Ein solcher Sitz muss nicht „gerechtfertigt“ werden. Es gibt ihn, Punkt. Was man auch immer über die derzeitige Zusammensetzung des Sicherheitsrats denken mag, sie wird sich nicht über Nacht ändern. Ich persönlich bedaure das – und die französische Regierung ebenfalls –, aber so ist es nun einmal. Die erforderlichen Stimmen, um Status und Zusammensetzung der ständigen Mitglieder zu verändern, sind schlicht nicht vorhanden, weder im Rat noch in der UN-Generalversammlung. Ich bin da eher pessimistisch. Wir stehen allerdings vor zwei Problemen. Je mehr Zeit vergeht, desto stärker verliert der Sicherheitsrat an Legitimität. Und es sieht so aus, als seien wir zurück in den schlechten alten Zeiten, als ein oder zwei Mitglieder ständig die Verabschiedung wichtiger Resolutionen blockierten.

Aber zurück zu Großbritannien: Seine ständige Mitgliedschaft im UN-­Sicherheitsrat ist sicher nicht an seine Position in der EU gebunden, immerhin trat es der erst rund 30 Jahre später bei. Entscheidend wird sein, ob das Land nach dem Brexit eine globalere Position einnimmt oder ob sein Einfluss durch ökonomische und institutionelle Schwierigkeiten gemindert wird.

IP: Was ist mit Europas nuklearer Verteidigung: Brauchen wir eine Modernisierung der Abschreckungssysteme? Oder eine „europäische Bombe“? Wie ließen sich Sicherheitsgarantien für nichtnukleare europäische Länder gestalten?

Tertrais: Modernisierung ist die falsche Bezeichnung. Ich glaube nicht, dass wir neue Kernwaffen in Europa brauchen, und das gilt auch für Frankreich, Großbritannien oder für die Präsenz der USA hier in Europa. Warum müssen eine mögliche russische Stationierung von einsatzfähigen nuklearen Kurzstreckenwaffen in der europäischen Nachbarschaft oder neue nukleare Mittelstreckenraketen automatisch zu einer Entwicklung oder Stationierung ähnlicher Systeme der NATO führen? Wir sollten uns davor hüten, in die Denkweise des Kalten Krieges zurückzufallen. Wenn man jedoch davon ausgeht, dass bestehende Abschreckungsmöglichkeiten erhalten bleiben müssen, wird man bald wieder in die existierenden Systeme neu investieren müssen. Das betrifft besonders neue U-Boote für Frankreich und Großbritannien ebenso wie neue luftgestützte Kapazitäten, um zukünftige gegnerische Verteidigungssysteme zur Not durchschlagen zu können. Um eine glaubhaft einsatzfähige nukleare Schlagkraft im kommenden Jahrzehnt und darüber hinaus zu erhalten, müssen die Atommächte innerhalb der NATO ihre B61-Bomber durch die neueste B61-12-Version ersetzen, sobald sie zur Verfügung steht.

Die alte Frage nach der „europäischen Bombe“ muss man dekonstruieren. Solange sich ein angloamerikanischer Schutzschirm über der Allianz wölbt, ergänzt durch eine unabhängigere französische nukleare Abschreckungsstreitmacht, sehe ich wenig Bedarf für ein davon losgelöstes europäisches Programm. Wenn allerdings die europäischen Länder, zu Recht oder zu Unrecht, zu der Auffassung gelangen, dass Entwicklungen in der US-Politik diesen Schutzschirm weniger glaubhaft machen, müssten wir handeln. So sollten die Franzosen klarstellen, dass ihre vitalen Interessen hinsichtlich nuklearer Abschreckung untrennbar mit denen der ganzen EU verknüpft sind. Und sollte das Nuklearsystem der NATO geschwächt werden oder sich auflösen, dann müsste sich Paris mit seinen europäischen Partnern ins Benehmen setzen und ein neues Arrangement finden. Dabei ginge es dann nicht darum, die USA zu „ersetzen“, sondern eher darum, einen größeren Anteil an der nuklearen Abschreckung zu übernehmen und nichtnukleare Verbündete rückzuversichern.

In jedem Fall verwundert mich, wie defizitär die Debatte über nukleare Abschreckung in Europa ist. Wir Franzosen waren ja auch nicht immer geschickt. Aber wir sind offen für eine grundsätzliche Debatte über die Zukunft der nuklearen Abschreckung in Europa. Aber am besten sollte eine solche ­Initiative aus Berlin, Warschau und anderen Hauptstädten kommen. Ist es nicht unverständlich, dass nukleare Abschreckung so gut wie nie Thema zwischen deutschen und französischen Regierungen und Experten ist – von ganz wenigen Gelegenheiten abgesehen, meist unmittelbar vor NATO-Gipfeln?

IP: Wie steht es mit der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU – muss nicht der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) weiter gestärkt werden? Wäre Frankreich bereit, in diesem Bereich weitere Souveränität abzutreten?

Tertrais: Wir haben bereits eine gemeinsame EU-Außen- und Sicherheits­politik – und damit ja auch schon wichtige Erfolge erzielt. Europa hat bei so entscheidenden Themen wie Iran und Ukraine mit einer Stimme gesprochen. Den EAD stärken? Warum nicht, aber ich glaube nicht, dass das unser dringlichstes Problem ist. Zunächst müssen wir das Existierende bewahren und davon stärker Gebrauch machen. In der Verteidigungspolitik eröffnen uns der Brexit und Trump neue Möglichkeiten. Wann, wenn nicht jetzt? Durch den Ausstieg Londons könnte man zum Beispiel endlich ein Hauptquartier für EU-Militäroperationen schaffen. Wir sollten auf unsere eigene Art und Weise auf die Forderung aus den USA reagieren. Ja, Europa muss mehr für Sicherheit ausgeben und einen größeren Anteil an der Verteidigungslast tragen; aber wir sollten das zu unseren eigenen Bedingungen tun. Primär geht es dabei nicht um die Finanzierung von Ausrüstung oder die Größe von Armeen. Entscheidend ist der politische Wille, militärische Kräfte gemeinsam mit unseren Verbündeten zu nutzen, wann immer es möglich ist – und ohne sie, wann immer wir dazu gezwungen sind. Ist Frankreich bereit, mehr Souveränität abzugeben? Derzeit wohl nicht – und das liegt nicht nur am „Druck“ des Front National. Weitere Souveränitätsübertragungen sind heute in ganz Europa unpopulär, nicht nur in Frankreich. Verbesserte Kooperation ist dennoch möglich, auch bei Verteidigungs- und Militärthemen, jedenfalls unter daran interessierten Ländern.

IP: Lassen Sie uns noch über Russland reden: Es gibt starke Kräfte, die eine ­Lockerung der Sanktionen fordern. Was würde dann aus der Ukraine?

Tertrais: Seit 2014 spricht Europa bei dieser Frage mit einer Stimme. Schon das ist ein Erfolg. Denn es bräuchte nur ein Land, um den Konsens zu brechen und die Fortsetzung der Sanktionen zu verhindern. In einigen Ländern gibt es dahingehend tatsächlich starken wirtschaftlichen und politischen Druck. Aber wer sollte die Initiative ergreifen? Ohne Fortschritte bei der Umsetzung des Minsker Abkommens ist schwer vorstellbar, dass Paris, Berlin oder Warschau dies tun würden. Es hängt davon ab, wie Moskau seine Karten spielt, wie sehr es eine Lockerung der EU-Sanktionen braucht … Außer natürlich, Washington höbe die eigenen Sanktionen auf – das hätte sicher einen starken Einfluss auf den europäischen Entscheidungsprozess. Aber das sehe ich derzeit nicht.

IP: Ein Wort zum Iran-Abkommen: Trump besteht darauf, es neu zu verhandeln oder zu beenden. Wie sehen Sie das?

Tertrais: Ich war weder ein großer Befürworter noch Gegner des Abkommens, als es geschlossen wurde. Und wir hätten bestimmt ein besseres Abkommen haben können. Aber jetzt unterstütze ich seine Umsetzung. Das ist ein weiteres Beispiel, bei dem die Signale aus Washington nicht klar sind. Aber ich wäre doch sehr überrascht, wenn die Trump-Regierung es wirklich aufkündigen oder „ihre Unterschrift zurückziehen“ würde. Es wäre ein Sprung ins Ungewisse, zu dem wohl selbst Trump nicht bereit ist. Auch Israel ist zufriedener mit einem bestehenden Abkommen als mit einem gescheiterten. Eine Neuverhandlung ist unmöglich; die beteiligten Parteien würden neuen Gesprächen nicht zustimmen. Wahrscheinlich werden die USA zunächst das Abkommen ordnungsgemäß umsetzen, ohne auch nur die kleinste Übertretung durch den Iran zu tolerieren. Sobald Teheran dann einen Vorwand liefert, wird Washington vermutlich neue Sanktionen verhängen. Die Empörung über die Raketentests Ende Januar deutet dies an. All dies geschieht in einem Kontext, in dem die „historische Wette“, die die Obama-Regierung eingegangen ist, nicht aufgeht. Das Nuklearabkommen hat das Verhalten des Iran in der Region nicht geändert, und die wirtschaftliche Verflechtung des Landes mit dem Westen bleibt durch das Zögern von Banken und Investoren extrem beschränkt. Außerdem ist die Zukunft des Abkommens auch an die iranische Innenpolitik und Debatten innerhalb der dortigen Führung geknüpft.

IP: Können Sie sich an eine französische Präsidentschaftswahl erinnern, bei der außenpolitisch so viel auf dem Spiel stand?

Tertrais: Jetzt steht sicherlich mehr auf dem Spiel als 2007 und 2012. Grob gesagt gibt es Kräfte bei der extremen Linken und den Rechten, die eine „andere“ Außenpolitik wollen – die das Verhältnis zu Washington und Moskau „neu austarieren“ und sich Teheran und Damaskus annähern, von Riad und Doha aber distanzieren wollen. Für diese Denkschule stehen Jean-Luc Mélenchon, François Fillon und Marine Le Pen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie am Ende siegen wird, weil sie sehr ideologisch ist und sich nicht auf starke Argumente oder eine realistische Einschätzung unserer Interessen stützt.

Die gute Nachricht: Das Phänomen Trump sorgt für einen breiteren Konsens in Frankreich, dass Europa sich neu aufstellen sollte, dass es, wenn nötig, auch unabhängiger werden sollte. Und durch den Brexit wird die Debatte über das jeweilige Gewicht der Achsen „Paris–Berlin“ und „Paris–London“ weit­gehend obsolet. Ich fand diese Debatte schon immer etwas künstlich.

Die Fragen stellten Henning Hoff und Sylke Tempel.

Dr. Bruno Tertrais ist stellvertretender Direktor der Fondation pour la recherche strategique in Paris.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2017, S. 23-29

Teilen

Mehr von den Autoren