Wanderung, Wirtschaft und Entwicklung
Eine notwendige Neubewertung
Weltweit wächst die Zahl der Migranten, mit erheblichen Folgen für alle Beteiligten. Höchste Zeit, Strategien zu entwickeln, um die entwick- lungspolitischen Potenziale der Migration zu nutzen. Dann kann sie zur Deckung unseres Fachkräftebedarfs beitragen und die Menschen in den Partnerländern befähigen, selbst die Entwicklung ihres Landes zu fördern.
Wanderungsbewegungen haben in der bisherigen Entwicklungsdiskussion nur gelegentlich Aufmerksamkeit gefunden. In der Vergangenheit dominierten meist kritische Bewertungen: Die dauerhafte Abwanderung von Fachkräften aus Partnerländern, der Braindrain, sei entwicklungspolitisch problematisch und dürfe nicht noch gefördert werden. Rücküberweisungen könnten zwar positive Wirkungen haben, flössen aber überwiegend in den Konsum und wirkten sich nicht nachhaltig auf die Entwicklung aus. Und schließlich sei strikt zwischen den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts und entwicklungspolitischen Zielen zu trennen. Keinesfalls dürfe Entwicklungszusammenarbeit zur Arbeitskräftebeschaffung missbraucht werden.
All diese Argumente mögen in der Vergangenheit durchaus ihre Berechtigung gehabt haben. Inzwischen aber ist nicht mehr zu übersehen, dass sich das weltweite Wanderungsgeschehen verändert hat. Es gilt, die Verflechtungen zwischen Migration, Entwicklung und Wirtschaft neu zu bewerten und daraus politische Konsequenzen zu ziehen. Gerade die jüngsten Umwälzungen in Nordafrika und dem Nahen Osten und der daraus entstehende Abwanderungsdruck haben ihre Ursachen nicht nur in der Unzufriedenheit mit den politischen Gegebenheiten, sondern auch in wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit.
Mobile Migranten
Die Rahmenbedingungen für Migration und Entwicklung verändern sich in dreifacher Weise. Erstens wandelt sich das internationale Wanderungsgeschehen. Die am schnellsten wachsende Wanderungsform ist die befristete Migration, was unsere althergebrachte Vorstellung von Migration als einer dauerhaften Aus- und Einwanderung hinfällig macht. Zusammenwachsende Märkte, neue Kommunikationstechniken und preiswerte Reiseverbindungen schaffen die Voraussetzungen für flexible und mobile Migranten, ihr Heimatland nur für eine bestimmte Zeit zu verlassen.
Erleichtert wird die Mobilität durch dichter werdende Diaspora-Netzwerke aus früheren Wanderungsbewegungen, die in den Aufnahmeländern Rat und praktische Unterstützung bieten. Der befristete Aufenthalt in einem anderen Land wird leichter, erschwinglicher und zu einer Möglichkeit, das Familieneinkommen zu verbessern, ohne die gravierenden Folgen einer dauerhaften Auswanderung in Kauf nehmen zu müssen.
Zweitens ist inzwischen unübersehbar, welchen finanziellen Entwicklungsbeitrag Migranten leisten. In den vergangenen Jahren sind Rücküberweisungen von Migranten in Entwicklungsländer stark gestiegen. Im Jahr 2010 überwiesen die Migranten nach Schätzungen der Weltbank mindestens 325 Milliarden Dollar in Entwicklungsländer, etwa das Zweieinhalbfache der gesamten öffentlichen Entwicklungshilfe und fast ebenso viel wie die ausländischen Direktinvestitionen in Entwicklungsländer. Diese Zahlen spiegeln nur die offiziell registrierten Überweisungen wider, hinzu kommen erhebliche Rücküberweisungen, die inoffiziell über Mittelsmänner vorgenommen werden.
Für einige Herkunftsländer sind diese Rücküberweisungen zu einer wichtigen Einkommensquelle geworden, die bis zu einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Auch wenn es sich dabei prinzipiell um private Mittel handelt, deren Verwendung der Herkunftsstaat kaum beeinflussen kann, sehen viele Herkunftsländer diese Mittel inzwischen als unverzichtbar für die eigene Ent-wicklung an. Studien zeigen, dass diese Rücküberweisungen Armut in den Herkunftsgebieten erheblich reduzieren können, und dass die Mittel nicht nur für konsumtive Zwecke, sondern auch für eine Verbesserung der Bildung der Kinder eingesetzt werden. Der Economist hat diese veränderte Sichtweise kürzlich zu der Aussage verdichtet: „Poor countries can end up benefiting when their brightest citizens emigrate.“
Drittens wächst mit der wirtschaftlichen Bedeutung der Migration die Notwendigkeit einer internationalen Zusammenarbeit in der Migrationspolitik. So bemühen sich viele Herkunftsländer um die migrationspolitische Kooperation, weil sie eine große Zahl von Jugendlichen („youth bulge“) haben, die keinen angemessenen Zugang zum eigenen Arbeitsmarkt finden. Daran knüpft man die Erwartung, zumindest einem Teil dieser Jugendlichen eine Chance auf eine legale Beschäftigung im Ausland zu bieten.
In vielen Industriestaaten hingegen besteht eine Lücke, zu deren Schließung ebenfalls eine verstärkte Zusammenarbeit geraten scheint: Die demografische Alterung und Schrumpfung erhöhen den Bedarf an jüngeren und qualifizierten Arbeitskräften derart, dass über eine Öffnung für geregelte Zuwanderung nachgedacht werden muss. Deutschland ist angesichts der niedrigen Geburtenzahlen in besonderer Weise betroffen, und es ist offensichtlich, dass auch bei Ausschöpfung aller anderen Arbeitsmarktpotenziale eine geregelte Zuwanderung notwendig wird. Damit wird die Erarbeitung einer kohärenten, wirkungsvollen und entwicklungspolitisch nachhaltigen Migrationspolitik zu einer zentralen politischen Aufgabe.
Neue Abhängigkeiten
Zu den Risiken, die dabei politisch bewältigt werden müssen, gehört nach wie vor der Braindrain. Allerdings ist hierfür die Situation im Herkunftsland entscheidend. So gibt es Konstellationen, in denen die -Gefahr eines Verlusts an Humankapital geringer ist – etwa, wenn junge Fachkräfte ohnehin keine Chance haben, auf dem heimischen Arbeitsmarkt unterzukommen, ihnen jahrelange Arbeits- und Einkommenslosigkeit drohen und damit die Gründung einer eigenen Familie verwehrt ist, wie es in Nordafrika der Fall ist.
Ähnliches gilt, wenn die Herkunftsländer Fachkräfte über ihren eigenen Bedarf hinaus ausbilden, in der Hoffnung, dass diese dann in reicheren Ländern eine Anstellung finden – klassisches Beispiel sind die philippinischen Krankenschwestern. Und auch bei kurzfristigen Wanderungen im Rahmen von Migrationsprogrammen ist die Abwanderung für die Herkunftsländer nicht grundsätzlich schädlich, sondern unterstützt die dortige Entwicklung.
Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass Rücküberweisungen lokale Ungleichheiten fördern und neue Abhängigkeiten schaffen. So kann ein hoher Anteil an Rücküberweisungen für ein Empfängerland problematisch werden. In der Vergangenheit gab es immer wieder Fälle, in denen Herkunftsländer nicht gegen offensichtliche Diskriminierungen und Verletzungen der Menschenrechte ihrer Staatsbürger protestierten. Dahinter stand meist der Wunsch, die Beziehungen zu den Aufnahmeländern nicht zu belasten und ihren Bürgern nicht die Möglichkeit zu verbauen, in diesen Ländern zu arbeiten. Inzwischen gibt es aber auch Fälle, in denen Entsendeländer institutionelle Zuständigkeiten geschaffen haben, um solche Probleme anzugehen, etwa Dienststellen oder Ministerien für ihre im Ausland arbeitenden Bürger.
Schließlich darf auch nicht ignoriert werden, dass Wanderungen oft nicht das Resultat freier Willensentscheidungen sind, sondern durch wirtschaftliche Zwänge, unzureichendes Einkommen und schlechte Lebensbedingungen in den Heimatländern verursacht werden. Zweifellos sind die Risiken für manche Migranten und ihre Familien sehr hoch. Familien können auseinanderbrechen, Kinder müssen zeitweise auf ihre Eltern verzichten, die Migranten selbst können im Wanderungsprozess Ausgrenzungen erfahren. Aber unverantwortlich wäre es, solche Risiken als Vorwand zu nehmen, um sich nicht der schwierigen Aufgabe stellen zu müssen, durch eine entsprechende politische Gestaltung die Entwicklungspotenziale von Migration zu nutzen.
Entwicklungsagenten
Migrationspolitik dient – im Unterschied zur Flüchtlingspolitik – aus Sicht der Industriestaaten vordringlich dem Ziel, Menschen ins Land zu holen, die aus arbeitsmarktpolitischen, demografischen oder anderen Gründen gebraucht werden. Entwicklungspolitik hingegen soll durch Hilfe zur Selbsthilfe die Armut und Strukturdefizite in den Entwicklungsländern nachhaltig reduzieren und damit auch Migrationsursachen bekämpfen.
Diese unterschiedlichen Ziele erschweren eine Zusammenarbeit beider Sektoren. Gleichwohl gibt es in der Praxis zahlreiche Überschneidungen. So dient Migration immer auch der Entwicklung der Aufnahmeländer, ebenso wie Entwicklung die Abwanderung aus den Herkunftsländern oft erst ermöglicht. Migration wird für potenzielle Aufnahmeländer attraktiv, wenn die Migranten über die dort gebrauchten Qualifikationen verfügen, und die stellen sich häufig erst bei einem höheren Grad an wirtschaftlicher Entwicklung ein.
Für die praktische Umsetzung einer migrationsbezogenen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit ist die akademische Debatte, ob Migra-tion Entwicklung induziert, ob ein umgekehrter Zusammenhang besteht oder ob gar keine Korrelation vorliegt, wenig hilfreich, denn bislang gibt es über diese Fragen keinen wissenschaftlichen Konsens. Für die Praxis ist wichtiger, welche Ansatzpunkte vorhanden sind, um Migrationsprozesse entwicklungspolitisch so zu begleiten, dass die Migranten in ihrer Rolle als Entwicklungsakteure so weit wie möglich unterstützt werden und zugleich die Risiken der Migration minimiert werden. Aus deutscher Sicht gibt es dazu eine Reihe brauchbarer Ansätze.
Das BMZ beteiligt sich aktiv an der Gestaltung einer europäischen Migrationspolitik und bemüht sich um eine Umsetzung dieser Politik, die Entwicklungsfragen berücksichtigt. Bereits 2005 haben die EU-Staats- und Regierungschefs den „Gesamtansatz Migration“ beschlossen. Dessen Ziel ist eine „umfassende und kohärente“ gemeinsame Migrationspolitik, die auf einem Ausgleich der Interessen der Mitgliedstaaten und auf einer besseren Abstimmung zwischen arbeitsmarkt- und entwicklungspolitischen Zielen beruht. Es sei unter bestimmten Bedingungen möglich, heißt es da, dass alle am Migrationsprozess Beteiligten – Herkunftsländer, Aufnahmeländer und Migranten selbst – von geregelter Migration profitieren. Dies solle auch politisch angestrebt werden, da Regelungen, die auf abgestimmten gemeinsamen Interessen der Beteiligten beruhen, nachhaltiger seien.
Aus Sicht der deutschen Entwicklungspolitik stehen dabei drei Ansätze im Mittelpunkt: Erstens soll bei der Anwerbung von Hochqualifizierten im Rahmen der Blue-Card-Initiative durch die Verfolgung einheitlicher Prinzipien und einen intensiven Dialog mit den Herkunftsländern verhindert werden, dass es zu einem massiven Wissensverlust in den Entwicklungsländern kommt.
Zweitens soll eine Förderung der zirkulären Migration den Migranten erlauben, wiederholt zwischen Aufnahme- und Herkunftsland zu pendeln. Auf diese Weise sollen sie ihr im Ausland erworbenes Wissen in die heimische Wirtschaft und Gesellschaft einbringen. Wichtig ist dabei die Anerkennung von Bildungsabschlüssen.
Drittens beteiligt sich Deutschland an EU-Mobilitätspartnerschaften, welche die EU mit bestimmten Herkunftsländern schließt. Dabei werden die Bedürfnisse von Migranten, Herkunfts- und Zielländern aufeinander abgestimmt. Der Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt soll ebenso erleichtert werden wie die Wiedereingliederung im Heimatland. Zugleich unterstützt die EU diese Staaten dabei, die Ursachen unfreiwilliger Migration zu reduzieren.
Die Zuwanderung regeln
Das BMZ unterstützt politische, wirtschaftliche und soziale Reformen in den Partnerländern, setzt sich für eine gewaltfreie Konfliktbearbeitung ein und stärkt die Zivilgesellschaft – wichtige Faktoren, die ansonsten ungeregelte Migration verursachen könnten. Gleichzeitig kümmert sich die Entwicklungszusammenarbeit aber auch gezielt um Migranten und migrationspolitische Fragestellungen.
So berät das BMZ die Herkunftsländer bei der Erarbeitung von Migrationskonzepten und hilft bei der Weiterentwicklung der für Migration und Diaspora zuständigen Regierungseinrichtungen oder beim Aufbau eines Statistikwesens, mit dem migrationsrelevante Daten erhoben und ausgewertet und mit Arbeitsmarktinformationen verbunden werden können.
Außerdem fördert es die Abwicklung von Geldüberweisungen in die Heimatländer, insbesondere durch Informationen über schnelle, preiswerte und sichere Übertragungswege. Das BMZ unterstützt die in Deutschland lebenden Migranten dabei, sich in Vereinen und Netzwerken zusammenzuschließen, und leistet Hilfestellung beim privatwirtschaftlichen Engagement von Migranten, damit diese sich aktiv für ihre Heimatländer einsetzen und dort investieren, um die Lebensbedingungen zu verbessern.
Rückkehrenden Fachkräften werden Informationsveranstaltungen, eine individuelle Beratung zur Rückkehr- und Karriereplanung, Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche oder die Vernetzung mit Ansprechpartnern vor Ort angeboten.
Umdenken gefordert
Die deutsche Politik verfügt über eine ganze Reihe von Instrumenten zur Unterstützung einer entwicklungs-orientierten Migrationspolitik. Diese müssen konsequent angewendet werden, wenn die Möglichkeiten von Migration zur Entwicklungsförderung genutzt werden sollen. Dies verlangt ein gewisses Umdenken: Die Migrationspolitik wird stärker als bisher entwicklungspolitische Überlegungen einbeziehen und auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern hinarbeiten müssen.
Die Entwicklungszusammenarbeit wird sich stärker als bisher um Migranten kümmern müssen, und zwar in jeder Phase des Zyklus, in dem die Wanderungsbewegungen verlaufen: durch die Vorbereitung des Wanderungsprozesses mithilfe von Beratungs-, Aus- und Weiterbildungsangeboten, durch die Unterstützung während des Aufenthalts in Deutschland etwa durch Förderung des entwicklungspolitischen Engagements der Diaspora, durch die Assistenz bei der Rückkehr und schließlich durch die Hilfe bei der Reintegration im Herkunftsland.
Wirtschaftliche Aspekte, insbesondere die Beschäftigungsförderung, müssen dabei eine Rolle spielen, weil die entwicklungspolitischen Wirkungen von Migration nicht nachhaltig sind, wenn sie nicht in Beschäftigung münden. Das sind anspruchsvolle Aufgaben, bei denen wir erst am Anfang stehen, deren Bewältigung aber einen Gewinn für alle Beteiligten in Aussicht stellt.
Wie weit dieser Gedanke sich in Deutschland und der EU tatsächlich durchsetzt, wird sich unter anderem im geplanten Abschluss von EU-Mobilitätspartnerschaften mit nord-afrikanischen Staaten zeigen. Bei sorgfältiger Planung und einer hinreichenden Bereitschaft der Mitgliedstaaten, tatsächlich begrenzte Zuwanderungsmöglichkeiten für benötigte Arbeitskräfte zu schaffen, könnte das angestrebte Zusammenspiel von wirtschaftlichen, entwicklungspolitischen und migrationspolitischen Zielen erreicht werden.
Dann ließen sich durch eine Förderung von Mobilität Werte und Interessen verbinden, die auch für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit grundlegend sind: die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen zu vergrößern und unseren demografischen Wandel so zu begleiten, dass daraus keine Nachteile, sondern Chancen für unsere Partnerländer entstehen.
DIRK NIEBEL ist Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2011, S. 40-45