Gegen den Strich

01. Juli 2012

Wachstum

Fünf Thesen auf dem Prüfstand

Wohlstand ist bisher immer mit Wirtschaftswachstum zusammen gedacht worden. Das muss anders werden, wenn die ökologischen und sozialen Grundlagen menschlicher Gesellschaften nicht unterminiert werden sollen. Neue Konzepte für die Messung von Wachstum liegen auf dem Tisch und bieten interessante Alternativen an.

» Ohne Wirtschaftswachstum ist kein Wohlstand möglich «

Das ist heute wohl so. Wirtschaftswachstum ist in der öffentlichen Debatte zur wichtigsten Kennzahl geworden, um erfolgreiche Politik zu messen. Mit Blick auf die EU ist durch die Finanzmarktkrise und die damit zusammenhängende hohe öffentliche Verschuldung eine Debatte darüber entbrannt, wie sich öffentliches Sparen und Wirtschaftswachstum zueinander verhalten. Die konträren Positionen in dieser Debatte stellen das Ziel an sich – dass alles dafür zu tun sei, damit die Wirtschaft wachse – aber nicht in Frage.

Worauf beruht diese Fokussierung auf Wachstum? Eine wachsende Wirtschaft ist die Grundlage für Gewinne und damit für steigende Steuereinnahmen, mit denen die öffentliche Hand investieren – in Infrastruktur, in Bildung und Forschung, in internationale Zusammenarbeit – und umverteilen kann. Eine wachsende Wirtschaft sichert oder erhöht die Beschäftigung; damit wachsen die Beiträge zur Arbeitslosen- und zur Krankenversicherung. Wenn die Wirtschaft wächst und zukünftige Gewinne verspricht, dann entsteht Vertrauen in die Zukunft, das wiederum generiert neue Investitionen. Schließlich werden durch Wachstum und damit verbundene Gewinne auch die privaten und öffentlichen Einnahmen erwirtschaftet, die notwendig sind, um die Zinsen auf die Kredite zu zahlen, mit denen die Ausgaben für Investitionen und Konsum bezahlt wurden. Insbesondere in armen Ländern, deren Bevölkerungszahl steigt, ist Wachstum notwendig, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern und ihre Bedürfnisse annähernd zu befriedigen.

Wachstum ist also sowohl für die wirtschaftliche Dynamik als auch für ihre Stabilität bedeutsam. Der Politik liefert Wirtschaftswachstum wichtige Gestaltungsmittel und wird deshalb zu einem wichtigen Ziel.

» Wachstum führt zu sozialen Fehlentwicklungen «

Nicht unbedingt. Hinter dieser Aussage steht die Annahme, dass Wachstum zwar stattfindet, es aber mit einem Nullsummenspiel verbunden ist: Was die eine Stelle dazugewinnt, fehlt an der anderen. Mit Bezug auf die Verteilung der erzielten Gewinne lautet die These: Des einen Profit ist des anderen Verlust. Steigende Einkommen der einen Gruppe werden durch die Ausbeutung oder Schlechterstellung einer anderen bezahlt.

Diese Analyse, die mit Karl Marx’ Kritik am Kapitalismus im 19. Jahrhundert geschichtsmächtig wurde, schien mit den Umverteilungsprozessen der Nachkriegszeit in den OECD-Ländern zunächst überwunden. Nun gewinnt sie angesichts erneut zunehmender ökonomischer Ungleichheit (bei abnehmender Einkommensarmut weltweit) wieder an Zustimmung. Hinzu kommt, dass quantitative Erhebungen der subjektiven Lebenszufriedenheit eines zeigen: Man kann nicht von der Höhe des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf auf die Lebenszufriedenheit schließen. Diese sieht in den reicheren Ländern sehr unterschiedlich aus und korreliert eher mit der Gleichheit der Lebens-bedingungen. Auch wächst die Lebenserwartung nicht linear mit dem BIP pro Kopf, wie die Statistiken des Human Development Index zeigen.

Heißt das also: Nicht Wachstum an sich führt zu sozialen Problemen, sondern die schlechte Verwendung der Gewinne? Dann würde es ausreichen, das Anwachsen der Einkommen Weniger zu verhindern und es stattdessen – über höhere Löhne, steuerfinanzierte Investitionen in soziale Dienstleistungen, in Bildung und Kultur usw. – auch der breiten Mehrheit zugutekommen zu lassen.  

Die Kritik geht jedoch tiefer, und sie bezieht sich auf die grundlegenden -Mechanismen, die Wirtschaftswachstum erzeugen und Stabilität -auf prekäre Weise sichern: Der Einsatz von Kapital, Arbeitskraft und Ressourcen wird durch technologische Neuerungen kontinuierlich effizienter gemacht. Dadurch wird mit gegebenem Input ein höherer Output erzielt, das senkt die Kosten, regt die Nachfrage an und schafft die Voraussetzung für Wachstum. Diese Produkti-vitätssteigerung senkt aber auch die Nachfrage nach Arbeitskraft – die Expansion der Wirtschaft ist also notwendig, um diese Nachfrage an anderer Stelle wieder zu schaffen, Beschäftigung und den Konsum zu erhalten bzw. aus-zuweiten.

Was bedeutet das für saturierte reiche Ökonomien, in denen die materiellen Bedürfnisse der Menschen weitgehend befriedigt sind? Wie wachsen hier Beschäftigung und Konsum? Am Arbeitsmarkt ist erfolgreich, wer hoch gebildet ist und sich an die flexiblen, zeitweise langen und verdichteten Arbeitszeiten anpassen kann. Gleichzeitig nehmen gering bezahlte Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse im Dienstleistungssektor zu. Und der Konsum bleibt dynamisch, weil er durch Neuheiten, die stetige Verfeinerung des Geschmacks und die Schaffung neuer Bedürfnisse angeregt wird.

» Ökologische Fehlentwicklungen sind vorprogrammiert «

Stimmt leider. Die Abhängigkeit der Wirtschaft vom Konsum hat auch eine materielle Seite: Die steigende Effizienz im Einsatz von Ressourcen senkt zwar den relativen Verbrauch von Rohstoffen, Wasser, Energie, aber sie verbilligt auch die Produkte und ermöglicht, mehr davon zu kaufen. Und so erklärt sich, dass das Wirtschaftswachstum in den Industrieländern nicht vom Ressourcenverbrauch entkoppelt werden konnte: Die relative Effizienzsteigerung beim Ressourceneinsatz wird begleitet vom wachsenden absoluten Verbrauch (Rebound-Effekt). Ein Beispiel: Beim Telefonieren nutzen wir nicht mehr die schweren Bakelittele-fone (einer pro Haushalt), sondern kleine, leichte Handys – jeder Haushalt verfügt über mehrere davon und erneuert sie in kurzen Zeitabständen, weil neue Geräte neue Anwendungsmöglichkeiten haben und einen sozialen Statusgewinn versprechen. Und außerdem sieht der Vertrag es ja so vor.

Alle Kurven, mit denen die Belastung der Ökosysteme durch Schadstoffe gemessen wird, weisen seit der Nachkriegszeit einen stark ansteigenden Verlauf auf. 2009 haben führende Naturwissenschaftler neben dem Klimawandel weitere acht Bereiche (Versauerung der Ozeane, Süßwasserverbrauch, Landnutzung, Biodiversität, Stickstoff- und Phosphatkreisläufe, chemische Verschmutzung, Ozonschicht, Luftverschmutzung) identifiziert, in denen die menschliche Nutzung „planetare Grenzen“ bereits überschritten hat oder nahe dran ist, dies zu tun: „Vor allem wegen der schnell wachsenden Verbreitung fossiler Energieträger und industrieller Formen der Landwirtschaft hat die menschliche Naturnutzung heute ein Niveau erreicht, das die Systeme schädigen kann, die auf der Erde menschliches Leben möglich machen. Das Ergebnis kann ein unwiderruflicher und in manchen Fällen abrupter Umweltwandel sein, der die Erde in einen Zustand versetzt, der mit menschlicher Entwicklung schwer vereinbar ist“, so Johan Rockström 2009 in der Zeitschrift Nature.

Wenn von ökologischen Grenzen die Rede ist, ist damit nicht primär die Endlichkeit bestimmter natürlicher Ressourcen gemeint. Vielmehr geht es um Funktionskreisläufe, die sich aufgrund ihrer Komplexität und Größe der menschlichen Steuerung oder dem Ersatz durch Technologien entziehen. Im Gegenteil, technologischer Fortschritt hat sogar dazu beigetragen, diese Grenzen zu erreichen, weil die Nebenwirkungen ihres Einsatzes nicht bekannt bzw. nicht berücksichtigt wurden.

» Grünes Wachstum ist trotzdem möglich «

Unter bestimmten Bedingungen. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) hat berechnet, dass mittelfristig, ab etwa 2017, mit Investitionsstrategien, die sich an „grünen“ Zielen orientieren, global höhere Wirtschaftswachstumsraten erzielt werden können als mit herkömmlichen Strategien. Bis 2040 vergrößert sich dieser Abstand immer mehr, und zwar zugunsten der grünen Strategien. Mit den grünen Investitionen sollen gleichzeitig die Treib-hausgasemissionen verringert, die Wälder geschützt, die Landwirtschaft produktiver gemacht und die Städte mit energieeffizienter Infrastruktur versorgt, Arbeitsplätze geschaffen und die Armut verringert werden.

Die notwendige Investitionssumme dafür, so die UNEP-Berechnungen, beläuft sich auf weniger als ein Zehntel der globalen jährlichen Bruttoinvestitionen. Es würde ausreichen, zwei Prozent der globalen Wirtschaftsleistung jährlich in zehn verschiedenen Sektoren so zu investieren, dass ökologische Ziele Vorrang bekommen, um global nachhaltiges Wachstum und Einkommenszuwächse zu sichern. Ein wichtiges Element dieser Vorschläge ist, dass für die Nutzung von Naturkapital bezahlt werden soll und dass diejenigen, die das Naturkapital pflegen, dafür entlohnt werden sollen (z. B. für den Schutz des Tropenwalds und der Biodiversität).  Durch die Veränderung von Preis- und Kostenstrukturen sollen private grüne Investitionen attraktiv gemacht werden.

UNEP setzt mit diesem Konzept der „Green Economy“ auf eine Kombina-tion der Ökonomie des Marktes und der Ökonomie der Natur. Die Ausbreitung und Dominanz der kapitalistischen Marktwirtschaft ist von der rasanten technologischen Entwicklung, die sie seit der industriellen Revolution vor über 200 Jahren begleitet, kaum zu trennen. Technische Neuerungen haben die Produktionsweise immer wieder revolutioniert und neue Wachstumszyklen in Gang gesetzt. Nun geht es um einen grünen Wachstumszyklus, der den Rebound-Effekt vermeiden soll. Angesichts der hohen Wachstumsdynamik in großen Entwicklungsländern und dem immensen Nachholbedarf an materiellem Konsum ist es ein großes Verdienst von UNEP, auch diesen Ländern einen grünen Wachstumspfad vorzuschlagen. Aber die Umsetzung dieses Konzepts ist anspruchsvoll: Die grüne Ökonomie ist in vielen Bereichen an hochentwickeltes Wissen und moderne Technologien und Steuerungssysteme gebunden. Den meisten Entwicklungsländern fehlt es an den Voraussetzungen, um hier anzuschließen. Der Übergang von einer „braunen“ in eine „grüne“ Ökonomie ist mit Kosten verbunden – Infrastrukturen müssen angepasst oder neu gebaut werden, veraltete Branchen werden schrumpfen und Menschen mit überholten Qualifikationen arbeitslos. Die „Green Economy“ stellt damit hohe Ansprüche an den Transformationswillen der nationalen Politik und die internationale Kooperationsfähigkeit.

» Wachstum muss anders gemessen werden «

Ja, denn die bisherigen Methoden sind unzureichend. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst den monetären Wert aller Güter und Dienstleistungen, die auf den Märkten eines Landes getauscht werden. Mit Blick auf Soziales und die Ökologie hat das BIP jedoch „blinde Flecken“: Die Verteilung von Einkommen und Vermögen wird nicht berücksichtigt. Auch die Veränderungen des Bestands von Natur- und Humankapital kommen nicht vor. Haus- und Familienarbeit, Nachbarschaftshilfe, ehrenamtliches Engagement – ohne die eine Gesellschaft nicht aufrechterhalten werden kann – auch nicht. Und auch die Nutzung der Natur und ihrer Leistungen (z.B. die Bereitstellung von Wasser und die Aufnahme von Schadstoffen) geht in das BIP nicht ein. Umweltzerstörung wirkt sogar positiv auf das Wirtschaftswachstum, nämlich dann, wenn für ihre Behebung Güter und Dienstleistungen erworben werden.

Diese systemischen Fehler der Wohlstandsmessung führen dazu, dass die langfristigen Kosten von Produktion und Konsum im Dunklen bleiben. Deshalb zeigen Berechnungen des deutschen BIP nach einem alternativen Maß – dem Nationalen Wohlfahrtsindex –, dass sich der Trend zwischen 1990 und 2006 abwärts bewegt und nicht aufwärts, wie die Zahlen des Statistischen Bundesamts für das Bruttonationaleinkommen nahelegen. Angesichts des Klimawandels und der hohen Anpassungskosten, die auf die Gesellschaften zukommen, lässt sich die Kritik an der herkömmlichen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und dem BIP nur noch schwer ignorieren.

Die OECD hat darauf mit ihrer „Green-Growth“-Strategie reagiert. Damit soll Wirtschaftswachstum auf eine neue technologische Basis gestellt werden, um vornehmlich Umweltschäden zu verhindern bzw. abzumildern und so langfristig gesellschaftlichen Wohlstand zu sichern. Die Notwendigkeit von Wachstum wird nicht bezweifelt – aber das Wachstum soll anders gemessen werden, nämlich unter Berücksichtigung von sozialen, ökologischen und ökonomischen Schlüsselindikatoren. Wenn das durchgesetzt werden könnte, bestünde eine echte Chance zur notwendigen Umsteuerung.

Dr. IMME SCHOLZ ist stellvertretende Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) in Bonn.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/ August 2012, S. 74-78

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