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01. Nov. 2009

Von Geduld und Gelassenheit

Buchkritik

Wird der Westen den Antiterrorkampf verlieren? Wie etwa kann ein Staat wie Afghanistan auf eigene Füße gestellt werden, wenn über ein Drittel seines BIP mit dem Anbau und Verkauf von Drogen erwirtschaftet wird und selbst Regierungsmitglieder in Schwarzwirtschaft und Korruption mitmischen? Vier Neuerscheinungen suchen nach Antworten.

Achim Wohlgethan weiß, wovon er spricht. Der ehemalige deutsche Elite-Soldat eines Spezialzugs der „Division Spezielle Operationen“ war zwei Mal in Afghanistan im Einsatz. Sein erster Bericht „Endstation Kabul“ schaffte es in die Bestsellerlisten. Nun legt der Fallschirmjäger nach. Ausführlich schildert er die Aufbauarbeit in Kundus, wo inzwischen das größte Feldlager der Bundeswehr am Hindukusch entstanden ist. Der heutige Inhaber einer Beratungsfirma für Sicherheit und Medien nimmt kein Blatt vor den Mund, um die deutsche Öffentlichkeit aufzurütteln. Ungeschminkt konfrontiert er die „Heimatfront“ mit der Realität des Einsatzes deutscher Soldaten: „Sie kämpfen. Sie werden verwundet an Körper und Geist. Sie verlieren Kameraden. Sie töten. Das ist Afghanistan im Jahre 2009!“

Für entsprechend wichtig hält Wohlgethan das Thema Sicherheit – noch vor Bildung und Wirtschaft. Ihm ist dabei klar, dass Afghanistan nicht allein durch westliche Truppen befriedet werden kann. Dafür sei der massive Einsatz der einheimischen Armee und vor allem Polizei nötig. Denn ohne eine gut ausgerüstete, vertrauenswürdige Polizei, die den Rechtsstaat vertritt und ihn nicht aushebelt, werde es in Afghanistan keine Stabilität geben.

Doch fehlt es den Sicherheitskräften nach Wohlgethans Beobachtung nicht nur an technischer Ausrüstung: Bewaffnung, Munition, Fahrzeuge, Treibstoff und Funkgeräte. Es mangelt auch zunehmend an Bewerbern – aus verständlichen Gründen: Zum einen wird die Arbeit immer gefährlicher, seit einheimische Polizisten in den Fokus der Aufständischen geraten sind. Zum anderen ist die bisherige Bezahlung von etwa 100 Dollar pro Monat zu gering, um eine Familie damit durchzubringen – vor allem, wenn der Lohn verzögert oder auch gar nicht beim Empfänger ankommt. Die Folge: Wenn die Polizisten nicht irgendwann einen besser bezahlten Job in der Privatarmee eines Provinzfürsten annehmen, werden sie sehr leicht anfällig für Korruption.

Und nicht nur das. Wohlgethan wirft Fragen auf, die das Dilemma eines nicht funktionierenden Staates vor Augen führen: Was nützt eine Polizei, die Tatverdächtige nicht an eine funktionierende Justiz übergeben kann? Wie kann ein Staat sich auf eigene Füße stellen, wenn über ein Drittel seines Bruttoinlandsprodukts mit dem Anbau und Verkauf von Drogen erwirtschaftet wird? Wenn selbst Regierungsmitglieder im Sumpf von Schwarzwirtschaft und Korruption mitmischen und demokratische, staatsrechtliche Strukturen untergraben?

Um das Ruder noch herumreißen zu können, muss der Westen nach Wohlgethans Analyse gemeinsam mit der afghanischen Regierung eine lange Problemliste abarbeiten. Das hätte in Deutschland gravierende innenpolitische Folgen. Denn ein offizielles Bekenntnis zu einem „Krieg in Afghanistan“ würde die finanziellen Kosten des deutschen Engagements von rund 600 Millionen Euro im Jahr 2009 noch weiter in die Höhe treiben: Benötigt werden nach Wohlgethans Erfahrung insbesondere Luftfahrzeuge zur Unterstützung und zum Transport der Truppen am Boden. Ferner fehlt es an gepanzerten Verbänden mit Kampf- und Schützenpanzern sowie an Artillerie-Unterstützung.

Die tragische Ironie dieser Geschichte: Einerseits mahnt Wohlgethan, in Afghanistan müsse dringend etwas passieren, wenn dort die Lage für die Soldaten nicht immer bedrohlicher und vor allem für die Bevölkerung nicht immer hoffnungsloser werden solle. Andererseits benennt er selbst das Dilemma nicht nur der deutschen Politik: „Ein offizieller Krieg kostet Geld und setzt ganz andere Mittel im Staatshaushalt frei. In Zeiten der Finanzkrise und der steigenden Arbeitslosigkeit scheint das erst recht nicht vertretbar.“

Steckt der Westen in der Falle? Wird er den Antiterrorkampf verlieren? Wie lässt sich die Spirale der Gewalt durchbrechen? Diese Fragen haben Peter Waldmann schon lange vor dem 11. September 2001 beschäftigt. Spätestens seit seinen Werken „Beruf: Terrorist“, „Terrorismus – Provokation der Macht“, „Terrorismus und Bürgerkrieg“ sowie „Determinanten des Terrorismus“ zählt der Augsburger Soziologe zu den ausgewiesenen Experten in Sachen Terrorismus.

Die Chancen der Europäer, nach ihren Erfahrungen mit IRA, RAF und ETA auch den heutigen Antiterrorkampf zu bestehen, sind nach Waldmanns Urteil gut. In Zukunft rechnet er sogar eher mit weniger als mit mehr Anschlägen, da die jüngste Welle des transnationalen, sich hauptsächlich auf radikalisierte Gruppen in der westlichen Diaspora stützenden Dschihadismus ihren Höhepunkt überschritten habe. Angesichts der Terrorwarnungen im Umfeld der jüngsten Bundestagswahlen lässt dieser Optimismus aufhorchen.

Doch Waldmann hat gute Gründe: Erstens spricht für seine Annahme die von seinem US-Kollegen David Rapoport aufgestellte Wellentheorie. Der Politologe an der Universität von Kalifornien in Los Angeles hat drei aufeinanderfolgende Wellen des Terrorismus ausgemacht: die anarchistische, die antikolonialistische und die neomarxistische, die jeweils 30 bis 40 Jahre lang anhielten. Einer ersten Generation von Aktivisten, die, von blindem Eifer und Fanatismus erfüllt, durch gewaltsame Botschaften die bestehenden Verhältnisse aufbrechen und transformieren wollten, sei regelmäßig eine zweite, pragmatischere und skeptischere Generation junger Leute gefolgt, die nicht mehr ohne weiteres die Tötung Unbeteiligter im Dienste vermeintlicher gesellschaftlicher und politischer Fortschritte akzeptierte.

Waldmann überträgt Rapoports Beobachtung auf die Gegenwart. Danach hat die vierte und vorläufig letzte Welle des internationalen Terrorismus, die zu Beginn der achtziger Jahre einsetzte und unter religiösen Vorzeichen steht, inzwischen ihren Scheitelpunkt überschritten und befindet sich in der Abschwungphase. Darüber hinaus gibt Waldmann zu bedenken, dass der internationale Dschihadismus aufgrund seiner Abstraktheit und weitgehenden Abgelöstheit von allen konkreten gesellschaftlichen Bezügen in starkem Maße konjunkturanfällig sei.

Denn anders als an bestimmte Territorien oder Bevölkerungsgruppen gebundene Gewaltbewegungen – Waldmann erinnert an den sich über ein Jahrhundert erstreckenden Kampf der Katholiken in Nordirland gegen die britische Vorherrschaft – stütze der Dschihadismus sich ausschließlich auf eine bestimmte Ideologie, den Salafismus bzw. Wahhabismus, deren Interpretation und Überzeugungskraft stark von Zeitströmungen abhänge.

Auch auf einem zweiten Feld, der Entscheidungs- und Handlungsebene, sieht Waldmann den globalen Dschihadismus geschwächt. Denn ihm fehle ein transnationales Koordinierungszentrum. Nach der Zerstörung der logistischen Infrastruktur von Al-Kaida durch Bombenangriffe im Herbst 2001 und der Flucht Osama Bin Ladens und seines engsten Stabes in das schwer zugängliche Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan erkennt Waldmann gegenwärtig keine Organisation, welche die internationale Führung und Steuerung übernehmen könnte.

Zwar operierten die meisten im Westen sich bildenden radikalen Gruppen im Geiste Al-Kaidas und Bin Ladens. Aber das reiche nicht aus. Nach Waldmanns Untersuchungen bedarf ein Netzwerk militanter Zellen einer Koordinationsinstanz, soll es effizient bleiben. Denn wenn es kein Steuerungszentrum mehr gibt, stehen operativen Vorteilen wie Flexibilität und lokaler Anpassungsfähigkeit deutliche Nachteile wie die Tendenz zur Auflösung und zum Zerfall gegenüber.

Als drittes Anzeichen für den Niedergang des islamistischen Terrorismus sieht Waldmann die soziale Zusammensetzung der nachfolgenden Generationen des transnationalen Dschihadismus: Dessen Trägergruppen stammten zunächst aus der arabischen Oberschicht, dann aus der oberen Mittelschicht dieser Länder. Im „Homegrown“-Terrorismus werden sie überwiegend von Jugendlichen und jungen Erwachsenen der unteren Mittelschicht oder der sozialen Unterschicht gestellt. Denn dies spiegelt die typische Schichtung der muslimischen Bevölkerung im Westen wider.

Waldmann weist jedoch darauf hin, dass Radikalisierungsprozesse in den unteren sozialen Schichten so gut wie nie in der Geschichte auf eine umfassende Transformation der Gesellschaft abgezielt haben. Dafür fehlen ihren Mitgliedern im Allgemeinen der intellektuelle Horizont und die Ambitionen. Vorwiegend mit Problemen ihrer Existenzsicherung beschäftigt, geht es den Aktivisten radikaler Bewegungen aus diesen sozialen Milieus primär um die Verbesserung ihrer konkreten Lebenssituation. Die im Westen zu Ansehen und Wohlstand gelangte muslimische Mittelschicht hat sich ohnehin meist so stark auf die westliche Werteordnung und ihren Lebensstil eingelassen, dass sie diese nicht mehr ernsthaft in Frage stellt.

Wem dies allzu hoffnungsfroh erscheint, den provoziert Waldmann mit der Frage, inwieweit muslimische Diasporagemeinschaften im Westen ein dauerhaftes Phänomen sein und welche Entwicklung sie nehmen werden. Denn der Bestand solcher Gemeinschaften über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende hinweg, wie im Fall der jüdischen Diaspora, stellt eine kulturell-religiöse Leistung eigener Art dar, die nicht alle Minderheiten zu erbringen imstande sind. Waldmann hält es daher für denkbar, dass die Herausbildung einer Diaspora und die Entstehung eines radikalen Diasporaflügels nur ein Übergangsstadium darstellen, das anschließend von der Integration der Minderheit in die Mehrheitsgesellschaft abgelöst wird.

Wie rasch das geschieht, hängt nach Waldmanns luzider Analyse nicht nur von der Migrationspolitik in den einzelnen Ländern ab. Grundbedingung seiner optimistischen Prognose ist, dass der Westen den transnationalen Dschihadisten nicht erneut unverhoffte Chancen und Entfaltungsmöglichkeiten bietet, wie dies 2003 durch den dritten Golf-Krieg geschah. Denn eine aus islamischer Sicht als neoimperialistisches Abenteuer wahrgenommene bewaffnete Intervention in einem islamischen Land würde mit Sicherheit einen erneuten Radikalisierungsschub in den muslimischen Diasporagemeinschaften des Westens auslösen. Der Fall Iran birgt hier im wahrsten Sinne des Wortes doppelten Sprengstoff.

Wie man auch ihn entschärfen könnte, skizziert Guido Steinberg in seiner Strategie für die deutsche Terrorismusbekämpfung: Deutschland muss eine Politik vermeiden, die Unterstützer und Sympathisanten in die Arme der Terroristen treibt. Denn die Bundesrepublik wird seit einigen Jahren für die Fehler der Bush-Administration mitverantwortlich gemacht. Hier hätte Berlin nach dem Urteil des ehemaligen Terrorismusreferenten im Bundeskanzleramt unter Gerhard Schröder und heutigen Mitarbeiters der Stiftung Wissenschaft und Politik noch mehr Distanz zeigen können.

Apropos Distanz: Steinberg empfiehlt der deutschen Politik, die Zusammenarbeit mit den Diktatoren der arabischen und islamisch geprägten Länder auf den Prüfstand zu stellen. Nur wenn diese mehr Rechtsstaatlichkeit und Partizipation zuließen, werde auch der Widerstand terroristischer Gruppen zurückgehen. Allein durch die Kooperation mit Usbekistan könne Deutschland zum Zielobjekt usbekischer Terrorgruppen geworden sein. Daher dürfe Berlin mit derlei Staaten in der Terrorbekämpfung nur dann zusammenarbeiten, wenn es unbedingt nötig sei. Steinberg rät, je nach Natur des Regimes die Qualität der Kooperation abzustufen und stärker auf Rechtsstaatlichkeit und Reformen zu drängen.

In der Frage nach der richtigen Afghanistan-Strategie sieht Steinberg das zukünftige Hauptthema der deutschen Debatte über die richtige Terrorbekämpfung. Entsprechend seiner These, eine erfolgreiche Antiterrorkampagne müsse kurzfristig effektiv und langfristig deeskalierend sein, soll Deutschland seine Truppen – so schnell wie dies gegenüber den Afghanen und den Verbündeten vertretbar ist – zurückziehen, da die ausländische Präsenz dort ein wichtiger radikalisierender Faktor für Dschihadisten weltweit sei.

Zugleich plädiert Steinberg für eine neue deutsche Pakistan-Politik, wobei er sich der Grenzen von Berlins Einfluss in Islamabad bewusst ist. Folglich schlägt er eine Aufgabenteilung vor: Da die USA allein in der Lage sein dürften, die pakistanische Führung zu überzeugen, dass sie effektiv gegen Taliban und Al-Kaida vorgehen muss, soll Deutschland die wirtschaftliche Stabilisierung des Landes vorantreiben.

Wie sehr Pakistan aber immer noch auf seinen äußeren Erzfeind Indien anstatt auf den inneren islamistischen Gegner konzentriert ist, wird bei Urs Schoettli deutlich. Der Fernostkorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung bringt die Lage auf den Punkt: Nach vier Kriegen und einem gefährlichen, auch nuklearen Rüstungswettlauf müssten Inder und Pakistaner erst noch die Lektionen Europas verinnerlichen, wie Krieg und Feindschaft überwunden werden können. Schoettli plädiert für nicht weniger als eine grenz-überschreitende Organisation nach dem Vorbild des gemeinsamen europäischen Marktes. Dabei ginge es nicht nur um den Abbau von unnötigen militärischen Spannungen, sondern auch um immense wirtschaftliche Vorteile. Denn bislang treibt Indien im Vergleich mit China oder Japan erheblich weniger Handel mit seinen unmittelbaren Nachbarn. Vor allem Pakistan mit seinen rund 167 Millionen Einwohnern bietet sich hier als ein substanzieller Markt an. Von zahlreichen nutzbringenden Synergien zwischen den beiden Nachbarn ist daher auszugehen.

Ohne die Lösung des postkolonialen Bruderkonflikts auf dem indischen Subkontinent wird der Antiterrorkampf in „AfPak“ kaum zu gewinnen sein. Daher gilt auch für die Nachbarschaftspolitik von Indien und Pakistan, was Guido Steinberg als erfolgreiche Terrorismusbekämpfung bezeichnet: Sie muss kurzfristig effektiv und langfristig deeskalierend sein. Das Verhältnis zwischen Repression und Politik muss neu ausgelotet werden – zugunsten der Politik. Dabei sind viel Geduld und Gelassenheit erforderlich.

Denn Al-Kaida wird auch durch politische Maßnahmen nicht „besiegt“. Aber das Terrornetzwerk wird an Attraktivität verlieren, immer weniger junge Muslime rekrutieren und irgendwann als Gewaltakteur und Ideologielieferant irrelevant werden. Somit bedeutet nach Steinberg Erfolg im Antiterrorkampf, „dass niemand mehr auf Osama Bin Laden hört, nicht, dass Osama Bin Laden von einer amerikanischen Rakete getötet wird“. Nicht zuletzt Achim Wohlgethan dürfte wissen, wovon Steinberg hier spricht.

Achim Wohlgethan: Operation Kundus. Mein zweiter Einsatz in Afghanistan. Berlin: Econ 2009. 304 Seiten, 18,90 Euro

Peter Waldmann: Radikalisierung in der Diaspora. Wie Islamisten im Westen zu Terroristen werden. 
Hamburg: Murmann 2009. 248 Seiten, 16,00 Euro

Guido Steinberg: Im Visier von Al-Qaida. Deutschland braucht eine Anti-Terror-Strategie. Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2009. 107 Seiten, 10,00 Euro

Urs Schoettli: Indien – Profil einer neuen Großmacht. Paderborn: Ferdi-nand Schöningh 2009. 189 Seiten, 21,90 Euro

Dr. THOMAS SPECKMANN ist stellvertretender Referatsleiter in der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen und lehrt an der Universität Bonn.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11/12, November/Dezember 2009, S. 135 - 139.

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