Vision und Illusion
Warum wir Europa wollen, aber Amerika brauchen: eine Replik auf Ulrike Guérot
Unter dem Titel „Europa wie es sinkt und lacht“ hat Ulrike Guérot in der IP-Märzausgabe eindringlich für ein großes und politisches Europa plädiert und Deutschland an seine Verantwortung für das Projekt EU erinnert. Doch so richtig es ist, auf die Dringlichkeit der Lage hinzuweisen, so wichtig ist es auch, der Autorin an zwei Stellen deutlich zu widersprechen.
Es ist ein alter Fehler der Europa-Enthusiasten, die geforderten Integrations-Großvorhaben einfach damit zu begründen, dass ohne sie das europäische Projekt scheitern würde. Dieser Ansatz, dem auch Ulrike Guérot folgt, greift aber zu kurz. Er macht die Integration zum Selbstzweck, also genau zu dem, was Briten, Tschechen und Nationalisten aller Provenienzen fürchten, und zwar mit Recht. Dem Zirkelschluss „wir brauchen mehr Integration, weil sonst die Integration zusammenbricht“ wohnt jene Logik inne, die Europa zu dem selbstreferentiellen Koloss gemacht hat, den die Menschen zu eitel finden, um von ihm noch begeistert zu sein.
Stattdessen müssen wir diese Großprojekte endlich aus ihrer schieren Notwendigkeit heraus begründen. -Gué-rot erwähnt, dass es europäische Interessen gibt, aber sie benennt sie nicht. Doch nur die Interessen können wasserdicht begründen, warum Europa ohne mehr Integration keine Zukunft hat: Ohne den Binnenmarkt wird Europa nicht wohlhabend bleiben können. Ohne geordnete Zuwanderung fehlen ihm die jungen Menschen, die diesen Wohlstand erzeugen. Ohne die besten Forscher an den besten Universitäten und ohne die besten Lehrer an den besten Schulen wird der ressourcenarme Kontinent den reichen Kulturraum Europa, seinen Lebensstil und seine hohen Sozialstandards nicht halten können. Ohne eng abgestimmte Wirtschaftsreformen, die einen Anreiz zu Arbeit und Leistung bringen, und ohne höchste Produktivität, die den relativen Mangel an Arbeitskraft ausgleicht, droht langfristig die Verarmung weiter Teile Europas. Ein solches Europa wird noch einige Jahrzehnte von der Substanz leben und danach bestenfalls das Museum der Welt sein, schlimmstenfalls ein instabiles Armenhaus.
Wer nach einer neuen Begründung für Europa sucht, der kann, auch hier hat Guérot Recht, nicht mehr auf die Kriege der Vergangenheit rekurrieren. Aber als Ersatz reicht nicht der Verweis auf die abstrakte „Gestaltung der Globalisierung“ (wie dies in der „Berliner Erklärung“ der EU von 2007 steht). Er muss stattdessen die Kriege der Zukunft vor Augen haben und das Leid, das sie nach Europa bringen würden.
Wenn Ulrike Guérot weiter schreibt, dass die NATO nicht unsere Zukunft sei, dann macht sie einen in Deutschland beliebten strategischen Denkfehler: Sie unterschätzt die Rolle der amerikanischen Sicherheitsgarantie für die europäische Integration. Ohne diese Garantie hätte es in den fünfziger Jahren keine Gründung der Europäischen Gemeinschaften und danach keine Erfolgsstory Europa gegeben. Und ohne diese Garantie wäre auch heute kaum von einem freien Westeuropa die Rede. Vor den imperialen Versuchungen seines russischen Nachbarn ist der westliche Ausläufer der asiatischen Landmasse nur sicher, solange Amerika seine Hand darüber hält. Und so waren die USA von Beginn an integraler Bestandteil des Integrationsprozesses – und sind es noch. Europa ist Russland nur geografisch näher als Amerika. Es gibt ihn, den viel besungenen und oft geleugneten Westen – und Russland gehört nicht dazu. Und ohne Amerika ist er nicht komplett.
Bisher ist die NATO der wichtigste institutionelle Baustein dieses Westens. Mag sein, dass die Allianz von Selbstzweifeln befallen ist. Mag sein, dass in Zukunft eine ganz andere NATO gebraucht wird. Und vielleicht wird sie sogar ganz verschwinden, eines Tages. Nicht verschwinden wird die Notwendigkeit der Sicherheitsbindung Europas an Amerika. Die geopolitische Wahrheit ist, dass Europa letztlich eine von Amerika abgeleitete Großmacht ist. Vielen Europäern ist das eine unheimliche, ja unerträgliche Vorstellung. Doch aus dieser Aversion eine neue trilaterale Augenhöhe zwischen Europa, USA und Russland herbeizukonstruieren ist unrealistisch und gefährlich. Gewiss, der Gestaltung des Verhältnisses zu Russland kommt höchste Priorität zu. Aber diesem Verhältnis ist von vornherein eine natürliche Grenze eingeschrieben, die auf weit absehbare Zeit nicht verschwinden wird. Und deshalb ist es im Verhältnis zu Russland, anders als Guérot befürchtet, kein Problem, dass die USA Primus inter pares in der NATO sind. Im Gegenteil.
Die Europäer müssen das Kunststück vollbringen, die von Guérot zu Recht geforderten Integrations-Großprojekte zu stemmen, ohne dabei ihre Westbindung aufzuweichen. Die Interessen Europas weisen unverkennbar diesen Weg. Politische Führung in Europa ist in nicht unerheblichem Maße die Fähigkeit, diese Interessen sichtbar zu machen statt sie zu vernebeln. Viel hängt davon ab, ob Europa die entschiedene Führung bekommt, die es verdient – und die es mindestens so nötig hat wie damals, als alles begann.
JAN TECHAU leitet des Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen der DGAP.
Internationale Politik 4, April 2009, S. 92 - 93.