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01. Sep 2017

Viele kleine Marshallpläne

Think Big? Wer die Flüchtlingskrise meistern möchte, sollte kleinteilig denken

Korruption, schlechte Regierung, mangelnde Rechtsstaatlichkeit, Tribalismus: Die Fluchtursachen in Afrika sind so vielfältig wie die möglichen Lösungen. Dazu zählen Graswurzelinitiativen und Informationsoffensiven über die Wirklichkeit in Europas Städten. Denn die sieht ganz anders aus, als es sich viele Auswanderungswillige vorstellen.

Es sind im Wesentlichen zwei Gruppen von Flüchtlingen, die aus Afrika über das zentrale Mittelmeer versuchen, nach Europa zu gelangen. Ein Teil kommt aus den Ländern rund um das Horn von Afrika: Somalia, Eritrea, Äthiopien, Sudan; Länder, in denen kriegerische Auseinandersetzungen mit den entsprechenden Nachwirkungen herrschen und in denen Europa einen Beitrag zur Stabilisierung leisten kann und es auch bereits tut.

Ein weiterer Teil der Migranten kommt aus Westafrika, Nigeria, Guinea oder der Elfenbeinküste. Warum erleben wir eine Abwanderung nach Europa nur aus diesen Gebieten und nicht aus allen Ländern Afrikas? Weil geografische Nähe eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Die wenigsten Migranten oder Flüchtenden können sich ein Flugticket nach Europa leisten; viele machen sich buchstäblich zu Fuß auf den Weg nach Europa, bis sie in die Schlauchboote an den Ufern des Mittelmeers steigen. Neben kriegerischen Konflikten spielen aber auch andere Faktoren eine Rolle – etwa historische Verbindungen aus der Kolonialzeit, die schon aufgrund der gemeinsamen Sprache einige bewegen mögen, nach Europa auszuwandern, vornehmlich nach Frankreich oder Großbritannien.

Kolonialismus als Vorwand

Wichtiger aber sind Gründe, die nichts mit dem Kolonialismus, nicht einmal mit dem Erbe des Kolonialismus zu tun haben, der oft als Vorwand für eigene Fehler herhalten muss: schlechte Regierungsführung, Korruption, Mangel an Rechtsstaatlichkeit, Tribalismus. Sektiererische Auseinandersetzungen und Tribalismus sind seit den Anfängen der Unabhängigkeit in den sechziger und siebziger Jahren – als es im Großen und Ganzen tatsächlich um gemeinsame nationale Identitäten und die gerechte Verteilung von Ressourcen innerhalb eines Staatswesens ging – sehr viel stärker geworden.

Zudem wachsen die Bevölkerungen afrikanischer Staaten enorm, ohne dass den Jüngeren Perspektiven auf politische Teilhabe, wirtschaftliche Entwicklung oder ordentliche Ausbildung geboten würde. Wenn Europa daran interessiert ist, Fluchtursachen zu bekämpfen, dann muss Good Governance in den Staaten Afrikas ein wesentliches Ziel Europas sein – auch wenn das schwierig ist, auch wenn man es bereits über Jahrzehnte zumindest den Absichtserklärungen nach angestrebt hat.

Afrikas Länder sind alles andere als homogen, es gibt ideologische, ökonomische, soziale Unterschiede oder natürlich solche in der ethnischen Zusammensetzung. Aber es gibt keinen wirklich inhärenten Grund, der gute Regierungsführung unmöglich machen würde. Stünden jungen Afrikanern ausreichende Möglichkeiten zur Verfügung, an den wirtschaftlichen wie politischen Ressourcen ihres Landes teilhaben zu können, dann müssten sie nicht fünf, zehn Jahre oder noch länger ohne Aussicht auf einen Job oder eine Ausbildung bleiben. Dann gäbe es für sie nicht den geringsten Grund, den so gefährlichen, beschwerlichen und potenziell tödlichen Weg nach Europa zu wählen.

Ein „Marshallplan für Afrika“, wie er gerne immer wieder gefordert wird, ist allerdings nicht das richtige Instrument. Im ersten Moment scheint es schlüssig, auf ein weit verbreitetes Problem wie schlechte Regierungsführung, Instabilität und eine kaum funktionierende Wirtschaft mit einem großzügigen und umfassenden Unterstützungsprogramm zu antworten. Ein so ambitionierter Plan aber müsste auf einer Zusammenarbeit mit den jeweiligen Regierungen beruhen. Und hier beginnt das Problem. Angesichts der grassierenden Korruption in diesen Ländern wären die ersten Resultate vermutlich eher dickere Limousinen und größere Fuhrparks bei den Regierenden als Jobs und Ausbildung für junge Afrikaner.

An den Realitäten ansetzen

Initiativen müssten an den Realitäten in vielen afrikanischen Ländern ansetzen: Landwirtschaft ist immer noch der größte Sektor, doch viele jüngere Afrikaner wandern in die Städte oder nach Europa ab, weil Subsistenzwirtschaft nicht ausreicht. Das erhöht den Druck in den afrikanischen Städten und verstärkt die Migrationswellen nach Europa. Weil mit den Abwanderern auch Wissen verloren geht, gefährdet das die Zukunft der Landwirtschaft – und das auf einem Kontinent, der über riesige Anbauflächen verfügt. Hinzu kommt, dass dieses Wissen weder in den Städten oder besser in den Slums afrikanischer Großstädte noch in Europa gebraucht wird. Dort können die Zugewanderten ja nicht in einer hoch technisierten Landwirtschaft arbeiten, sondern müssen ohne Ausbildung von staatlicher Hilfe leben.

Wirkungsvolle Initiativen, die darauf abzielen, Fluchtursachen an der ­Wurzel zu packen, beruhen auf vier Ansätzen. Zunächst seien hier Graswurzelinitiativen genannt. Oft wird unterschätzt, wie findig junge Afrikaner in der digitalen Kommunikation sind. Effizienter wäre es also, mit Initiativen vor Ort genau bei den Leuten anzusetzen, die am bedürftigsten sind: etwa durch die Gewährleistung von Kleinkrediten per Smartphone, mit den entsprechenden Evaluierungsmechanismen, die den Kauf von ein paar Ziegen oder Kühen ermöglichen. Oder, indem man digitale Schulungsprogramme für modernere landwirtschaftliche Anbaumethoden auflegt. Viele kleine Investitionen in abgelegenen Dörfern mögen zwar logistisch wesentlich aufwändiger sein, zeitigen aber sehr viel größere Erfolge als groß angelegte Millionen- oder Milliardenprogramme, deren Investitionen sehr leicht in die falschen Kanäle fließen können.

Das Ganze müsste mit einer Kommunikationsoffensive der europäischen Länder flankiert werden. Wer seine Heimat in Afrika verlässt, tut dies in der Regel nicht, weil er Europa so wunderbar findet, sondern weil ihm die notwendigsten Lebensgrundlagen fehlen oder verweigert werden. Die wenigsten Migranten haben klare Vorstellungen, was sie in Europa erwartet. Allerdings mangelt es in den zuständigen Ministerien der Europäischen Union und der Einzelstaaten an einer stringenten Politik, die darauf abzielte, potenzielle Abwanderer darüber zu informieren, was sie in Europa erwartet. Eine Informationsinitia­tive, beispielsweise durch Videos, wäre durchaus hilfreich.

Alles, nur keine Rückkehr

Wird erst über Rückführung diskutiert, ist es eigentlich schon zu spät. Solange man afrikanischen Regierungen keine größeren Anreize bietet, haben sie kein besonderes Interesse an Rückführung; sie kümmern sich ja kaum darum, dass und warum so viele ihrer jungen Menschen das Land verlassen wollen. Die Abwanderer selbst haben nichts zu verlieren. In den meisten Fällen haben Verwandte und Freunde Geld gesammelt, um sie auf die mühselige und gefährliche Reise nach Europa zu schicken, in der Hoffnung, dass es ihnen dort besser ginge und dass sie dann ihre Familie unterstützen könnten. Viele würden lieber Selbstmord begehen als zurückzukehren, denn das wäre ein Eingeständnis des Scheiterns. Es gäbe ja auch nichts, zu dem sie zurückkehren könnten.

Eine Informationsoffensive müsste zudem auf Flüchtende aus Kriegsgebieten wie Südsudan, Somalia oder Eritrea abzielen. Diese Flüchtlinge könnten durchaus auf eine Anerkennung in Europa hoffen – allerdings wären die meisten von ihnen in afrikanischen Ländern besser aufgehoben, nicht nur, weil sie geografisch näher liegen. So hat Uganda 1,2 Millionen Südsudanesen aufgenommen und eine Politik entwickelt, die auf die kulturellen und sozialen Bedürfnisse dieser Menschen abzielt. Die meisten sind ja ebenfalls Kleinbauern, also versorgt man sie nicht, wie in Europa, mit staatlicher Hilfe, verurteilt sie aber ansonsten zur Untätigkeit. Man gibt ihnen Land, das sie bewirtschaften können – und das in Europa natürlich nicht zur Verfügung steht. Sie können also ihr Leben so fortsetzen, wie sie es gewöhnt waren. Es wäre hilfreicher, afrikanische Länder bei der Aufnahme zu unterstützen, etwa mit Ausbildungsprogrammen für eine effektivere Landwirtschaft, die aber wiederum den Umständen vor Ort angepasst sein müssen.

Schließlich müsste es um eine Revision der Rechtsgrundlagen gehen. Auch wenn der Kolonialismus häufig als Entschuldigung für hausgemachte Fehler missbraucht wird, so steht Europa doch tatsächlich in einer gewissen moralischen Bringschuld. Diskussionen über Lager in Nordafrika, die Menschen davon abhalten sollen, sich nach Europa aufzumachen, sind aus humanitären Gründen indiskutabel. Ganz gewiss muss sich Europa auch dem Problem von Rassismus und Diskriminierung stellen. Dies schwingt ja durchaus mit in den Debatten über „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder in dem Vorwurf, Migranten nähmen den Einheimischen die Jobs weg. Europa ist, das haben viele inzwischen eingesehen, schon aus demografischen Gründen auf Einwanderung angewiesen. Es sollten also Möglichkeiten für eine legale Einwanderung und für die Gewährung von Aufenthaltstiteln für jene geschaffen werden, die sich bereits in Europa aufhalten.

Eine neue Genfer Konvention

Wesentlich wichtiger, wenn auch eher langfristig wirksam, wäre eine ­Revision der Genfer Konvention. Diese Konvention beruht auf den unmittelbaren Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs. Nur hat sich die politische Situation aus zweierlei Gründen dramatisch verändert: Kriegerische Konflikte sind asymmetrischer geworden. In Afrika – wie schon auf dem Balkan in den neunziger Jahren – herrschen vor allem Bürgerkriege, in denen häufig Regierungen Verbrechen gegen ihre eigene Bevölkerung begehen.

Weil sich der Charakter der Kriege verändert hat, ist auch die Definition von „Flüchtling“, wie er ursprünglich in der Genfer Konvention festgeschrieben wurde, nicht mehr zeitgemäß. Zwar wurde die Genfer Konvention über die Jahre innerhalb des Systems der Vereinten Nationen wohl verbessert. Allerdings, und das wäre der zweite Grund für eine Revision, „überschreiben“ inzwischen nationale Regelungen zum Asylrecht und zur Gewährung einer Anerkennung als Flüchtender diejenigen der Genfer Konvention. Diese Regelungen sind zudem nicht aufeinander abgestimmt. Allein innerhalb Europas haben Deutschland, Großbritannien oder Frankreich hier ganz unterschiedliche Gesetzgebungen.

Notwendig wäre eine Revision der Genfer Konvention, in der nationale Regelungen durchaus ihren Widerhall finden sollten. Am Ende aber muss es eine Genfer Konvention geben, die bei der Aufnahme und Anerkennung von Flüchtenden wieder für alle Länder verbindlich ist.

Aufgezeichnet von Sylke Tempel

Dr. Sunday Okello ist Leitender Wissenschaftler am Institute for Peace and Security Studies (IPSS) der Universität Addis Abeba (Äthiopien).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober 2017, S. 24 - 27

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