Essay

01. Sep 2011

Verteidiger der Ehre – Kämpfer für die Würde?

Warum dieser Unterschied existenziell wichtig ist

Im Spätsommer des Jahres 1963 – die Bürgerrechtsbewegung strebte gerade ihrem Höhepunkt zu – hielt Dr. Martin Luther King im Schatten des Lincoln-Denkmals eine der größten Reden in der Geschichte der Menschheit. King sprach von seiner Vision einer Gesellschaft, in der die Versprechen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung – „life, liberty und the pursuit of happiness“ – für alle gleichermaßen gelten. Die Unabhängigkeitserklärung, sagte King, sei wie ein Scheck, der sich als nicht gedeckt erwiesen habe – jedenfalls was schwarze Amerikaner beträfe. „Aber wir weigern uns zu glauben“, rief er aus, „dass die Bank der Gerechtigkeit bankrott ist. Wir weigern uns zu glauben, dass es in den großen Schatzkammern dieser Nation, in denen die Chancen gelagert werden, kein Kapital für uns gibt. Wir sind gekommen, um diesen Scheck einzulösen.“ Und dann schilderte der Prediger mit einer Bildsprache, die er direkt den Prophetenbüchern der hebräischen Bibel entlehnt hatte, seinen Traum, der sehr tief im amerikanischen Traum verwurzelt sei: „I have a dream today. Ich träume davon, dass meine vier Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern allein nach ihren Charaktereigenschaften beurteilt werden.“

Rund zwei Jahre nach Martin Luther Kings Auftritt wurde in Amerika die „Autobiografie von Malcolm X“ veröffentlicht, ein so wütendes wie hochtrabendes und brillantes Pamphlet, das ebenfalls den Vergleich mit klassischen Vorbildern nicht zu scheuen braucht. An einer Stelle beschreibt Malcolm X, wie er schwarze Mitgefangene mit dem Gedanken vertraut macht, dass alle großen Zivilisationsleistungen von Afrikanern geschaffen wurden: „Ich begann zuerst einmal damit, dass ich meinen mitgefangenen Brüdern die glorreiche Geschichte der schwarzen menschgemachten Dinge erzählte, von denen sie sich noch nichts hatten träumen lassen. Ich verriet ihnen die grässlichen Wahrheiten über den Sklavenhandel, von denen sie nichts wussten. Ich beobachtete ihre Gesichter, wenn ich davon erzählte, denn der weiße Mann hatte die Vergangenheit der Sklaven vollkommen ausgelöscht, so dass ein Neger in Amerika niemals seinen wahren Familiennamen kennen kann, nicht einmal, von welchem Stamm er abstammt … Ich erklärte ihnen, dass die echte Wahrheit manchem weißen Mann, nämlich den Gelehrten, bekannt sei; aber es hatte eine Verschwörung über Generationen hinweg gegeben, um dem schwarzen Mann die Wahrheit vorzuenthalten.“

Gewöhnlich werden Martin Luther King und Malcolm X dadurch voneinander unterschieden, dass dieser für die Gewaltlosigkeit, jener für die Gewalt eingetreten sei. Aber diese Unterscheidung schneidet in Wahrheit nicht besonders scharf; Malcolm X hat sich keineswegs für den bewaffneten Aufstand ausgesprochen, sondern Gewalt nur für den Notfall nicht ausgeschlossen. Er sagte: „Seid friedlich, seid höflich, achtet das Gesetz, respektiert jeden; aber wenn jemand Hand an euch legt, dann schickt ihn auf den Friedhof.“ Das entsprach wohl sicher nicht dem christlichen Gebot, dem Feind auch noch die andere Wange zum Streich hinzuhalten. Aber es war auch nicht vollkommen verrückt in einem Amerika, in dem weiße Rassisten Lynchmorde verübten.

Eine andere Möglichkeit, Martin Luther King und Malcolm X voneinander zu unterscheiden, besteht darin, dass man sie unterschiedlichen Traditionen des schwarzen Befreiungskampfs in Amerika zuordnet. Martin Luther King gehörte jener Fraktion an, die von Frederick Douglass begründet worden war, einer Fraktion, die volle Bürgerrechte für alle – also auch für die Schwarzen – und ihre Integration in die amerikanische Gesellschaft forderte. Es gab aber auch eine andere Tradition, die auf Booker T. Washington zurückgeht. Washington und seine Anhänger waren bereit, die Apartheid in den amerikanischen Südstaaten zumindest vorübergehend hinzunehmen, damit die schwarzen Amerikaner sich vor ihrer Befreiung erst einmal zur „Nation“ formieren konnten. Bei Malcolm X wird diese vorläufige Hinnahme der „Rassentrennung“ radikalisiert, das heißt zu ihrem logischen Ende fortgedacht: Die Schwarzen sollen überhaupt nicht mehr nach Integration in die amerikanische Gesellschaft, sondern nach nationaler Befreiung streben. Vorbild dabei waren Entwicklungsländer wie Algerien, die das Joch des europäischen Kolonialismus abgeschüttelt hatten. (Jedenfalls dachte Malcolm X eine Zeitlang so. Nachdem er nach Mekka gepilgert und zum Islam übergetreten war, verlor er seine grundsätzliche Abneigung gegen die Weißen; es ist möglich, dass er – wäre er nicht erschossen worden – am Ende doch noch für Integration gekämpft hätte.) Martin Luther King glaubte an den amerikanischen Traum; für Malcolm X hatte dieser Traum sich längst in einen rassistischen Albtraum verwandelt. Er erhoffte sich nichts mehr von den Versprechen der Unabhängigkeitserklärung von 1776, sondern wies sie im Ganzen zurück.

Diese Unterscheidung führt gedanklich schon einen Schritt weiter, aber man kann die Differenz zwischen den beiden schwarzen Predigern auch tiefer, sowohl feiner als auch fundamentaler, sozusagen philosophischer fassen. Dann weist sie über den Sonderfall hinaus und macht allgemeinere Überlegungen möglich. Der Unterschied zwischen Martin Luther King und Malcolm X wäre folgender: Dem einen ging es um die Würde der schwarzen Amerikaner, dem anderen war es um ihre Ehre zu tun. Was heißt das? Wenn Martin Luther King auf die Verhältnisse in Mississippi oder Alabama blickte – auf die brennenden Kreuze des Ku Klux Klan, die Schilder „Nur für Weiße“, die nach Rassen getrennten Busbahnhöfe – dann sah er viele Einzelne, die in ihrer Würde als Menschen verletzt wurden. Wenn Malcolm X dasselbe ins Auge fasste, sah er ein Volk, das seiner Ehre beraubt und damit – das gehört zusammen – auch um seine Geschichte, seine Identität betrogen wurde. Darum sind die Rezepte, wie das Übel aus der Welt zu schaffen sei, auch so verschieden. Damit die Würde der schwarzen Amerikaner wiederhergestellt werden kann, genügt es, wenn sie endlich jener Rechte teilhaftig werden, die ihnen Unabhängigkeitserklärung und Verfassung auf dem Papier längst garantieren. Die Ehre der Schwarzen aber verlangt zu ihrer Satisfaktion weiter reichende Maßnahmen: Sie müssen als Nation anerkannt werden, sie müssen sich von den Weißen absondern, sie müssen endlich zurückschießen.

Kein Selbstmord für den Bäckermeister

Die Würde ist etwas Individuelles: Würde kommt zunächst einmal einer Person zu. (Im übertragenen Sinn kann auch von der Würde eines Amtes gesprochen werden, dazu gleich mehr.) Es ist nicht sinnvoll, von der Würde eines Staates zu reden, er hat keine. Ehre ist im Gegensatz dazu eigentlich immer ein kollektiver Begriff. Wenn meine Ehre verletzt wird, dann mir als Angehörigem eines Standes, einer Klasse, eines Volkes usw. Es gibt noch eine weitere wichtige Differenz, die allerdings damit zusammenhängt: Meine Würde kann auch dann verletzt werden, wenn ich ganz allein bin, wenn gerade niemand zusieht. (Denken wir an Ehemänner, die von ihren Frauen geschlagen werden, ein Vergehen, über das aus Scham so gut wie niemand spricht. Aber wird die Würde dieser Männer nicht auch im dunklen Keller mit Füßen getreten?) Damit meine Ehre verletzt werden kann, braucht es dagegen einen Zeugen.

Just dies ist die ironische Pointe von Arthur Schnitzlers Erzählung „Leutnant Gustl“: Der junge Angehörige der k. und k. Armee hat sich in einem Konzert gelangweilt, hat, nachdem der letzte Ton verklungen ist, zu schnell das Weite gesucht und ist dabei mit einem Bäckermeister zusammengerempelt, der seinen Säbel festgehalten und leise zu ihm gesagt hat: „Herr Leutnant, wenn Sie das geringste Aufsehen machen, so zieh’ ich den Säbel aus der Scheide, zerbrech’ ihn und schick’ die Stück’ an ihr Regimentskommando. Versteh’n Sie mich, Sie dummer Bub?“ Der arme Leutnant Gustl weiß nun, dass außer ihm selber noch der -Bäckermeister um den peinlichen Vorfall weiß. Eine ganze Nacht lang denkt er deshalb, er müsse sich entweder mit ihm duellieren oder Selbstmord begehen, bis ihn am Morgen eine freudige Botschaft erreicht: Den Bäckermeister hat der Schlag getroffen, er ist tot. Damit ist der Ehrverlust null und nichtig. Der Selbstmord kann entfallen, es hat schließlich keine Zeugen gegeben.

Die Würde des Amtes ist eine Abstraktion, die der kollektiven Ehre zum Verwechseln ähnlich sieht. Sie ergibt sich nämlich daraus, dass eine Person etwas repräsentiert, das mehr ist als sie selbst: ein Gemeinwesen, einen Staat, eine Religion. Die katholische Kirche hat für diesen Unterschied – den Unterschied zwischen der Würde eines Einzelnen und der Amtswürde – ein feines Gespür bewiesen. Geführt wird diese Institution bekanntlich von einem absolutistisch regierenden Monarchen, dem Nachfolger des Apostel Petrus. Wann immer er als Papst ex cathedra, also von der Kanzel aus, spricht, ist er unfehlbar. Was er aber als Privatmensch daherredet, gilt so viel wie irgendeines Menschen Privatmeinung. In seiner Eigenschaft als Papst ist Herr Ratzinger viel mehr als er selbst. Er steht als Symbol für die Weltkirche und ihre zweitausendjährige Tradition. Sobald er nicht in dieser Eigenschaft spricht, ist Benedikt XVI. nicht mehr Benedikt, sondern nur noch ein katholischer deutscher Theologieprofessor.

Diese Trennung zwischen Amts- und persönlicher Würde kommt aber nicht nur in altertümlichen Monarchien vor, sondern auch in der modernsten Demokratie. Wenn der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland mit seiner amerikanischen Amtskollegin zusammentrifft, dann ist er für diesen geschichtlichen Augenblick Deutschland (jedenfalls so lange der Fototermin dauert und die Kameras laufen). Wenn ihm ein Fauxpas unterläuft, wenn er etwa, wir erfinden jetzt einen wüsten Zwischenfall, im Zustand der Volltrunkenheit zum Pressetermin erscheint und seine Kollegin öffentlich als „Amischlampe“ beschimpfen würde – dann hat nicht er allein diesen Fauxpas begangen, sondern gewissermaßen ganz Deutschland. Er hat also das Ansehen Deutschlands in der Welt beschädigt. Die Würde des Amtes kann in diesem Fall nur durch seinen Rücktritt wiederhergestellt werden; gleichzeitig wird durch diesen Rücktritt die kollektive Ehre Deutschlands gerettet. Die persönliche Würde des Außenministers aber wird dadurch nicht im Mindesten berührt: Als Privatmann darf er ruhig betrunken sein.

Als Diktatoren bezeichnen wir Leute, die unfähig sind, den Unterschied zwischen der konkreten, auf das Individuum bezogenen Menschenwürde und der abstrakten, nur im übertragenen Sinn existierenden Würde des Amtes wahrzunehmen. Das kommt daher, dass Diktatoren sich notorisch mit ihrer Nation verwechseln: Fidel Castro glaubte allen Ernstes, er sei Kuba – er selbst, der Caudillo, nicht das Amt, das er bekleidet. Augusto Pinochet glaubte, er sei Chile. Kaiser Bokassa glaubte, er sei die Zentralafrikanische Republik – er höchstpersönlich und niemand sonst. Aus diesem Grund fällt es Diktatoren auch so schwer, zurückzutreten; sie glauben, wenn die Würde des Amtes sie nicht mehr schmückt, sei davon ihre persönliche Würde tangiert. Sie begreifen nicht, dass die Amtswürde nie einem einzelnen Sterblichen gelten kann, sondern immer nur seiner sozialen Funktion.

Worum geht es in den Aufständen Arabiens?

Die Differenz zwischen Würde und Ehre geht, wir ahnten es schon dunkel, auf einen tiefen religiösen und kulturellen Unterschied zurück. Der Ägyptologe Jan Assmann hat in seinem Buch „Herrschaft und Heil“ zwischen Schuld- und Schamkulturen unterschieden. „Scham“, schreibt Assmann, „setzt einen Begriff von Ehre voraus. Ehre ist etwas, das in der sozialen Anerkennung existiert und durch soziale Aberkennung verloren geht. Scham ist die Angst vor Ehrverlust. Eine Schamkultur funktioniert im Rahmen mutueller sozialer Kontrolle. Hierzu bedarf es weder eines Herrschers noch eines Gottes. Daher sind Schamkulturen typischerweise die Sache einfacher Gesellschaften.“ Schuld dagegen, so Assmann weiter, sei die Folge dessen, dass ein Gesetz verinnerlicht werde: „Eine Schuldkultur funktioniert daher nur im Rahmen öffentlicher (staatlicher) Rechtsinstitutionen und deren religiöser Fundierung bzw. Überhöhung in Form einer göttlichen Rechtspflege und Gerichtsbarkeit.“ Assmann hält ferner fest, wie das Schuldbewusstsein zur Ausbildung einer reichen Individualität, eines komplexen Seelenlebens führt – und zwar durch das öffentlich abgelegte Schuldbekenntnis. Seine Beispiele für diese Art Empfindsamkeit stammen aus dem alten Ägypten, wir können aber auch an modernere Formen der Confessio denken, etwa an Karl Philipp Moritz’ Roman „Anton Reiser“. Der Zusammenhang mit dem Unterschied, um den es uns hier geht, liegt auf der Hand. Schamkultur und Ehrbegriff gehören zusammen, sie sind beinahe eins; die Frage nach der Würde stellt sich überhaupt erst in einer Kultur der Schuld. Das ist auch der Grund, warum die Ehre ein Kollektivbegriff ist, während „Würde“ immer die Würde des Einzelnen meint.

Es handelt sich hier nicht um akademische Überlegungen: Der Unterschied zwischen Ehre und Würde ist gerade in der heutigen Zeit brisant – und zwar handelt es sich um eine politische Brisanz. Es erhebt sich nämlich die Frage: Worum geht es in den Aufständen gegen die Diktatoren in der arabischen Welt, sei es in Ägypten, Tunesien, Libyen oder Syrien – geht es um Ehre oder um Würde? In der Zeit, als Hosni Mubarak und damit ein weiterer Diktator, der zwischen seiner persönlichen und der Würde seines Amtes nicht zu unterscheiden wusste, also nicht rechtzeitig zurücktrat – noch die Zügel in der Hand hielt, kursierte im Internet ein erstaunliches, auf seltsame Weise auch ergreifendes Video. Zu sehen war ein Demonstrant mit Kinnbart, offenbar ein gläubiger Muslim, der am Rande einer aufgebrachten Menschenmenge durch das nächtliche Kairo marschierte. „I want my rights!“, röhrte der Mann mit heiserer Stimme in die Kamera. „Ich will meine Rechte! Und es ist mir egal, ob du ein Christ bist, ein Muslim oder sonst was – ich will meine Rechte!“ Kein Zweifel, dieser Muslim kämpfte für seine Würde. Aber wie steht es mit den zehntausenden Anhängern der Muslimbruderschaft und der noch extremeren salafistischen Gruppen, die seither auf dem Tahrir-Platz in Kairo demonstriert haben? Was ist mit jenen Ägyptern, die am liebsten den Friedensvertrag mit Israel zerreißen würden und damit einen Vertrag, von dem nicht nur Israel, sondern auch Ägypten reichlich profitiert hat? Diesen Demonstranten geht es nicht um die Würde, sondern um die Ehre. Sie wollen vor allem die Schmach auslöschen, die Hosni Mubarak der Gemeinschaft, der ägyptischen Nation, der islamischen Umma, durch einen Friedensvertrag mit dem Erzfeind zugefügt hat. Solche Demonstranten wünschen nicht die Eingliederung der arabischen Welt in die westliche Zivilisation, damit endlich auch die Araber, Kurden, Berber usw. individuelle Freiheitsrechte genießen können. Sie streben vielmehr die komplette Abriegelung der arabischen Halbinsel an. Wer sich dort am Ende durchsetzen wird – die Verteidiger der Ehre oder die Kämpfer für die Würde – das ist noch sehr offen.

HANNES STEIN ist Korrespondent der Welt in New York. Zuletzt erschien von ihm „Tschüss Deutschland! Tagebuch eines Ausgewanderten“.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2011, S. 122-127

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