Verpasste Gelegenheit
Vor allem die USA haben den UN-Reformgipfel torpediert
Keine verbindliche Verpflichtung zur Entwicklungsfinanzierung, keine Nennung des Internationalen Strafgerichtshofs, kein Bezug zum Kyoto-Protokoll, kein Auftrag an die UN, Menschenrechtsverletzungen notfalls mit Gewalt zu unterbinden: Mit Änderungsvorschlägen in letzter Minute hat die Supermacht das anspruchsvolle Reformprojekt Kofi Annans verwässert. Ein Ende der Vereinten Nationen bedeutet das dennoch nicht.
60 Jahre nach Gründung der Vereinten Nationen und fünf Jahre nach der Millenniumsversammlung sollte das Millennium+5-Treffen der Staats- und Regierungschefs vom 14. bis 16. September 2005 in New York zwei Dinge leisten: Es sollte eine Zwischenbilanz zum Stand der Millenniumsentwicklungsziele ziehen und weitere Schritte zur Erreichung der Ziele bis 2015 verankern.
Zweitens sollte die Weltorganisation den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts angepasst werden. Der Sicherheitsrat sollte, vor allem durch eine Erweiterung, neue Legitimität bekommen. Die in Fragen der Implementierung von Menschenrechtsstandards sichtlich schwache Menschenrechtskommission sollte durch einen permanent tagenden, neu zusammengesetzten Menschenrechtsrat ersetzt werden. Zudem sollte die Staatengemeinschaft bei schwersten Menschenrechtsverletzungen zu einer Intervention verpflichtet werden, wenn der betreffende Staat nicht willens oder in der Lage wäre, diesen Einhalt zu gebieten. Ferner lag seit Dezember 2004 erstmals eine Definition von Terrorismus auf dem Tisch, die weltweit hätte akzeptiert werden können. Im Bereich der Abrüstung sollten nach dem Misserfolg der Nonproliferationsverhandlungen wieder erste politische Zeichen gesetzt und für die immer umfassender werdenden Mandate der Friedenstruppen eine Kommission für Friedenskonsolidierung eingesetzt werden, um den Aufbau eines stabilen Friedens nach dem Ende von Kampfhandlungen zu ermöglichen.
Die Reformdiskussion in Vorbereitung des Gipfels
UN-Generalsekretär Kofi Annan hatte der seit Ende des Ost-West-Konflikts virulenten Reformdiskussion mit seiner Rede zur Generalversammlung 2003 neuen Auftrieb gegeben. Vor dem Hintergrund des gegen den Willen der Mehrheit im Sicherheitsrat geführten Irak-Kriegs forderte er dazu auf, den Gründungskonsens der Weltgemeinschaft zu erneuern. Er sprach davon, dass die Vereinten Nationen am Scheideweg stünden: Entweder sie stellten sich den Herausforderungen des neuen Jahrtausends oder sie drohten bedeutungslos zu werden.1
Um eine Arbeitsgrundlage für die Diskussion zu haben, setzte der Generalsekretär eine hochrangige Expertengruppe ein, die ihm bis Ende 2004 einen Bericht zu den aktuellen Bedrohungen und Herausforderungen liefern sollte, gekoppelt mit Vorschlägen für eine angemessene institutionelle Reform. Der Bericht des „High Level Panel on Threats. Challenges and Change“2 lieferte im Dezember 2004 eine Analyse der aktuellen Weltlage, die von einem enthierarchisierten Bedrohungsbegriff ausgeht. Anknüpfend an das früher bereits diskutierte Konzept der Human Security werden die Bedrohungen menschlichen Lebens durch zwischenstaatliche Kriege, zerfallende Staaten, die Pandemie HIV/Aids, Hunger und den internationalen Terrorismus als gleichwertige Gefahren analysiert. Dementsprechend werden auch die Handlungsfelder der Weltorganisation gleichgewichtiger angelegt.
Neben der Friedenssicherung (in zerfallenden Staaten, zwischenstaatlich und gegenüber terroristischen Bedrohungen) wird die Überwindung von Krankheit, Hunger und extremer wirtschaftlicher Not zum zweiten, gleich bedeutenden Handlungsfeld erhoben. Zwar ist von vielen Kritikern zu Recht angemerkt worden, dass dieser Ansatz im operativen Teil des High Level Panel-Berichts nicht durchgehalten wurde, aber dennoch schien das Papier das Potenzial für einen neuen Gründungskonsens im Keim in sich zu tragen. Die Mitglieder3 der Hochrangigen Gruppe waren schon so gewählt, dass der Kompromiss unter den Mitgliedern des Beratergremiums eventuell auf die Vereinten Nationen übertragbar sein könnte. Außerdem war inhaltlich ein Reformpaket geschnürt worden, das für einen Kompromiss zwischen Nord und Süd hätte taugen können. Den armen Ländern des Südens wurde ein ernsthafteres Engagement der Weltorganisation in der Armuts- und Krankheitsbekämpfung in Aussicht gestellt. Terrorismus als eine der wichtigen gegenwärtigen Bedrohungen zu beschreiben – und dazu noch eine vom Generalsekretär der Arabischen Liga mitgetragene Definition von Terrorismus anzubieten –, schien die Brücke zu US-amerikanischen Interessen bilden zu können.
Im Bereich Entwicklung wurde noch nachgelegt. Hier ging es nicht in erster Linie um eine Organisations-reform. Entsprechende Versuche, die Vielfalt der Programme und Sonderorganisationen zu reduzieren, hatten sich ja bereits in der Vergangenheit als aussichtslos erwiesen. Hier sollte aber eine weitere Bekräftigung der Verbindlichkeit der Millenniumsentwicklungsziele die unterschiedlichen UN-Akteure noch eindeutiger als bisher auf eine gemeinsame Zielperspektive festlegen: Eine Organisations-reform von den Politikzielen her also. Deshalb wurde zur Vorbereitung des Weltgipfels auch der im Januar 2005 vorgelegte Bericht des Millenniumprojekts4 unter Leitung von Jeffrey Sachs herangezogen.
Der Bericht ist eine groß angelegte ökonomische Studie, die klären sollte, ob die Millenniumsentwicklungsziele noch wie vorgesehen bis 2015 erreicht werden können. Bei den Zielen geht es konkret darum, die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut lebt und kein sauberes Trinkwasser zur Verfügung hat, weltweit zu halbieren. Außerdem soll durchgesetzt werden, dass alle Kinder der Welt bis 2015 zumindest die Grundschulbildung abschließen können. Gleichzeitig sollen die Müttersterblichkeit erheblich reduziert und eine Trendumkehr bei der Ausbreitung von HIV/Aids und Malaria erreicht werden. Der Sachs-Bericht hat den weltweiten Finanzbedarf errechnet, der zur Erreichung der sieben Entwicklungsziele aufgebracht werden muss: Es wird darin kalkuliert, dass die Ziele weltweit erreichbar sind, wenn die staatliche Entwicklungshilfe in einem festen Stufenplan bis 2015 auf 0,7 Prozent des Bruttonationalprodukts (BNP) der reichen Länder steigt. Die über 25 Jahre alte UN-Forderung an die reichen Staaten, 0,7 Prozent ihres BNP in Hilfe zu investieren, wird hier erstmals von der Ergebnisseite her gerechtfertigt: Wenn die Mittel entsprechend hochgefahren würden – so der Sachs-Bericht – dann könnten die gesetzten Ziele erreicht werden.
Beide Berichte nahm Annan zur Grundlage für seinen Vorschlag an die Generalversammlung zur Vorbereitung des Gipfels. Das Ende März 2005 erschienene Dokument trägt den sprachlich an die amerikanische Verfassung anknüpfenden Titel „In Larger Freedom“.5 Annan formulierte darin drei Leitgedanken für die Arbeit der Vereinten Nationen: Es gehe um die Freiheit, ohne Angst und ohne Not ein Leben in Würde zu führen. Entsprechend gliederte Annan die Arbeitsstrukturen der UN auch in den Sicherheitsrat, den Wirtschafts- und Sozialrat und einen neuen Menschenrechtsrat. Indem er Frieden und Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte nebeneinander stellte und organisationspolitisch auch drei entsprechende Räte vorsah, erweiterte Annan den Vorschlag der Expertengruppe sogar noch.
Nachdem der Generalsekretär der Generalversammlung seinen Bericht übergeben hatte, begann dort die Diskussion des groß angelegten Reformprojekts. Ziel war, eine Abschlussdeklaration für den Jubiläumsgipfel im September zu erarbeiten, die wesentliche Reformprojekte im Paket auf den Weg bringen sollte. Da bei der Frage der Sicherheitsratsreform nicht von einer Konsensentscheidung ausgegangen wurde, sollte diese vorgezogen und durch eine Initiative in der Generalversammlung zur Entscheidung gebracht werden. Sie wurde zunächst getrennt von interessierten Staaten bzw. Staatengruppen verhandelt. Für das Gipfeldokument, das alle anderen Themenbereiche der Reform beinhalten sollte, begann der Präsident der 59. Generalversammlung, der Außenminister Gabuns Jean Ping, einen Entwurf zu verhandeln.
Ergebnis: enttäuschend
Das Ergebnis6 ist gemessen an der Erwartung, einen neuen Gründungskonsens zu etablieren und die Welt-organisation in ihren Strukturen wesentlich weiter zu entwickeln, sehr enttäuschend. Von der Anlage des großen Reformvorhabens her schienen insgesamt nur zwei Möglichkeiten denkbar: ein Gelingen, weil die Welt nach dem 11. September doch anders geworden ist und die Einsicht in die langfristigen Vorteile eines weltpolitischen Interessenausgleichs gewachsen sind – oder ein Scheitern, weil die Welt durch den 11. September 2001 doch nicht nachhaltig verändert wurde. Der Terrorangriff war eben doch nicht der große politische Schock, der – wie der Erste oder der Zweite Weltkrieg, die ja jeweils nach ihrem Ende einen neuen Konsens zur multilateralen Zusammenarbeit, den Völkerbund und die UN hervorbrachten – die Kooperationsbereitschaft der Weltgemeinschaft nachhaltig hätte fördern können. Das ist jetzt, fast genau vier Jahre später, endgültig klar geworden.
Im Bereich Frieden und Sicherheit ist das wichtigste Reformthema die Erweiterung und Reform des Sicherheitsrats. Da der Rat – der 1945 explizit nach machtpolitischen Erwägungen zusammengestellt wurde – der heutigen Machtstruktur nicht entspricht, haben Entscheidungen des Rates ein systemisches Legitimationsproblem, das dringend behoben werden muss.
Die Erweiterung des Rates war schon vor dem Gipfeltreffen weitgehend gescheitert. Zwar hat Kofi Annan, als klar wurde, dass mit einer Initiative vor dem Gipfel nicht mehr zu rechnen sei, dazu aufgerufen, die Frage bis Dezember zu einem Abschluss zu bringen, doch erscheint eine grundlegende Reform in kurzer Frist sehr unrealistisch. Bereits das High Level Panel konnte sich nicht auf ein Reformmodell einigen, sondern legte zwei Alternativmodelle vor. Japan, Indien, Brasilien und Deutschland erklärten sich daraufhin als Kandidaten für Modell A und ergriffen die Initiative für eine Rahmenresolution der Generalversammlung zur Durchsetzung des Modells, das insgesamt sechs neue ständige Mitglieder des Sicherheitsrats vorsieht (zwei für Afrika, zwei für Asien/Pazifik, eines für Amerika, eines für Europa). Ferner sollten drei neue nichtständige Sitze hinzukommen.
Da dieser Vorstoß sowohl von China als auch den USA offen abgelehnt wurde und auch keine Mehrheit der afrikanischen Staaten (53 Stimmen in der Generalversammlung) fand, ist die Resolution nicht zur Abstimmung gestellt worden. Das Abschlussdokument des Gipfels unterstützt jetzt nur noch einmal den Wunsch nach einer Sicherheitsratsreform und fordert die Generalversammlung auf, die Fortschritte in dieser Frage am Jahresende zu überprüfen. Außerdem enthalten die drei mageren Paragrafen zum Sicherheitsrat nur die richtige, aber organisationspolitisch konsequenzlose Forderung nach mehr Transparenz der Arbeit des Sicherheitsrats gegenüber Nichtmitgliedern.
Ein Fortschritt im Bereich der Friedenskonsolidierung ist durch die Etablierung einer Kommission gleichen Namens als zwischenstaatlichem Beratungsorgan erreicht worden, die bereits zum 31. Dezember 2005 ihre Arbeit aufnehmen soll. Der Hauptzweck dieser Kommission besteht darin, alle Akteure, die mit der Konfliktnachsorge im militärischen und zivilen Bereich befasst sind, an einen Tisch zu bringen, um gemeinsam die erforderlichen Maßnahmen zu beraten. Neben Mitgliedern des Sicherheitsrats sollen u.a. auch die größten Zahler von UN-Pflichtbeiträgen (und damit Deutschland), große Truppensteller und die Weltbank vertreten sein.
Die Millenniumsentwicklungsziele werden im Abschlussdokument des Gipfels zwar als Zielperspektive bekräftigt, aber die angestrebte Verantwortung der Geberländer, ihre Hilfe schrittweise auf bis zu 0,7 Prozent des BNP zu erhöhen, konnte auf US-amerikanische Intervention hin nicht aufgenommen werden. Ohne einer genaueren Analyse der zwischenstaatlichen Verhandlungen vorzugreifen, lässt sich schon jetzt sagen, dass die offene Weigerung der USA, sich auch auf ein Finanzierungsversprechen für die Ziele einzulassen, mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu geführt hat, dass das sorgfältig geschnürte Reformpaket völlig zerfiel und das Ergebnis insgesamt so enttäuschend ausgefallen ist. Nachdem die Weltmacht USA die Erreichung der Ziele den anderen Staaten und privater amerikanischer Initiative überlassen hat, war natürlich für viele G-77-Staaten der Anreiz weggefallen, zum Beispiel die angestrebte Neugründung eines Menschenrechtsrats, der ein effektiveres Monitoring problematischer Menschenrechtssituation versprach, mit zu tragen.
Dennoch hat der UN-Gipfel, was Entwicklungsziele und Schuldenabbau betrifft, einen gewissen Erfolg bereits im Vorfeld gehabt. Sowohl die Festlegung der EU-Staaten auf einen Stufenplan zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels als auch der an gute Regierungsführung gebundene Schuldenerlass durch das G-8-Treffen im Sommer 2005 sind wohl dank der politischen Dynamik der Gipfelvorbereitung zustande gekommen.
Kommt der Menschenrechtsrat?
Der Beschluss zur Etablierung eines Menschenrechtsrats ist dagegen komplett missglückt. Ursprünglich hatte Kofi Annan in seinem Vorschlag „In Larger Freedom“ ein Modell des Schweizer Menschenrechtsexperten Walter Kählin aufgegriffen und einen Menschenrechtsrat gefordert, der entweder ein UN-Hauptorgan oder – falls dies mit der zugehörigen Charta-Änderung nicht möglich wäre – einen direkt von der Generalversammlung gewählten Rat vorsah. Neben einer symbolischen Aufwertung der Menschenrechte durch eine höherrangige Verankerung in der UN-Organisationsstruktur zielte der Vorschlag darauf, die Zusammensetzung des Rates deutlich zu ändern. Da derzeit die Mitglieder der Menschenrechtskommission nicht direkt gewählt, sondern von den Regionalgruppen ernannt und dann per Akklamation bestätigt werden, ist es in der Vergangenheit vorgekommen, dass Staaten wie Libyen oder der Sudan sogar den Vorsitz übernahmen. Auch war die Arbeit in der Kommission nicht hauptsächlich davon geprägt, einen möglichst effektiven Menschenrechtsschutz weltweit durchzusetzen. Oft dominierten Koalitionen, die gerade dies im jeweils eigenen Interesse verhinderten.
Obwohl der Vorschlag, die Menschenrechtskommission in einen Menschenrechtsrat umzugründen, erst Ende März von Kofi Annan in die Diskussion eingebracht wurde, hat er schnell viel Zustimmung erfahren. Die USA, die EU, aber auch fast alle lateinamerikanischen und karibischen Staaten sowie Staaten aus Afrika und Asien unterstützten die Idee, die Mitglieder des neuen Rates künftig mit Zweidrittelmehrheit in der Generalversammlung zu wählen. Außerdem sollte ein obligatorisches Menschenrechtsmonitoring der jeweiligen Mitgliedsstaaten dafür sorgen, dass künftig keine Staaten mit allzu schlechter Menschenrechtsbilanz mehr für das Gremium kandidieren.
Doch Mandat, Größe und Zusammensetzung der Mitglieder, Arbeitsmethoden und Verfahren sind für das mit der Gipfelerklärung neu geschaffene Gremium offen geblieben und der weiteren Beratung der 60. Generalversammlung anheim gestellt worden. Diese Art der Beschlussfassung, die zwar eine neue Struktur etabliert, aber so gut wie gar keine Aussagen zu Inhalt und Form der Arbeit macht, birgt die Gefahr, dass die Ausführung des Beschlusses hinter den erreichten Status quo der Menschenrechtskommission zurückfällt. Besonders gefährlich erscheint diese Offenheit in jede Richtung, da Kompromisse zwischen Nord und Süd im Bereich Menschenrechte oft schwer zu finden sind.
Erfreulich ist die im Gipfeldokument festgehaltene Verdoppelung der Mittel aus dem regulären Haushalt für das Hochkommissariat für Menschenrechte in den nächsten fünf Jahren. Allerdings ist dieser Beschluss an einen gleichgewichtigen Zuwachs der freiwilligen Mittel gebunden. Ohne Konsequenz werden die viel zu vagen Formulierungen zur Reform der Menschenrechtsvertragsorgane bleiben.
Bis zuletzt wurde über die Erwähnung des Internationalen Strafgerichtshofs im Gipfeldokument verhandelt. Im Ergebnis wurde der Gerichtshof zur Ahndung schwerster Menschenrechtsverbrechen auf Wunsch der USA (und sicher noch einiger anderer Staaten) nicht erwähnt. Zwar ging es hier nicht unmittelbar um eine institutionelle Reform. Dieser Vorgang soll aber dennoch erwähnt werden. Obwohl gegen den expliziten Willen des Sicherheitsratsmitglieds USA auf Basis eines separaten internationalen Vertrags gegründet, hat der Internationale Strafgerichtshof, der mittlerweile von rund 100 Staaten getragen wird, einen wichtigen Ermittlungsauftrag vom Sicherheitsrat zu Darfur (Sudan) erhalten und hat vor einigen Monaten auch ein Kooperationsabkommen mit den Vereinten Nationen geschlossen.
Der Gerichtshof kann als eine wichtige Ergänzung des UN-Menschenrechtsschutzes gesehen werden. Da in den neunziger Jahren dazu kein Kompromiss innerhalb der Weltgemeinschaft möglich war, ist der Weg eines separaten internationalen Vertrags gewählt worden. Eine wichtige Reform-anstrengung seitdem ist es, den Strafgerichtshof schrittweise fester in das UN-System einzubinden. Nach der Überweisung eines ersten Falles und der Tatsache, dass mittlerweile keine Ausnahmen von der Strafverfolgung für amerikanische Soldaten im Sicherheitsrat beschlossen werden, war die Hoffnung berechtigt, mit einer positiven Erwähnung des Gerichtshofs im Abschlussdokument aller 191 Staaten den Gerichtshof noch ein wenig fester an die UN zu binden. Dieser Reformschritt ist nicht gelungen.
Es ist auch nicht gelungen, sich auf eine weltweit akzeptierte Definition von Terrorismus festzulegen. Vorgeschlagen war, „jede Handlung … die den Tod oder eine schwere Körperverletzung von Zivilpersonen oder Nichtkombattanten herbeiführen soll, wenn diese Handlung auf Grund ihres Wesens oder der Umstände darauf abzielt, die Bevölkerung einzuschüchtern oder eine Regierung oder eine internationale Organisation in einem Tun oder Unterlassen zu nötigen“7 als Terrorismus zu bezeichnen. Diese Formulierung aus dem High-Level-Panel-Papier, mit getragen von Amr Mussa, dem Generalsekretär der Arabischen Liga, macht noch einmal deutlich, was für vom Terrorismus bedrohte Staaten bei einem Hinverhandeln auf eine Paketlösung zu gewinnen gewesen wäre: eine Festlegung auf einen Terrorismusbegriff, der die Diskussion um vorgeblich legitime Gewalttaten von Befreiungsbewegungen beendet hätte.
Die Rolle John Boltons
Die Bilanz ist also mehr als ernüchternd. Versagt haben aber nicht die Vereinten Nationen, sondern die Vertragsstaaten, die, zum Teil in letzter Minute, einen wirklichen Reformgipfel der Vereinten Nationen verhindert haben. Besonders aufgefallen sind in diesem Zusammenhang die USA, die sich offensichtlich erst seit der Benennung ihres neuen UN-Botschafters John Bolton Mitte August ernsthaft auf den Verhandlungsprozess eingelassen haben. Als wären zuvor die USA in die Verhandlungen nicht einbezogen gewesen, brüskierte Bolton seine Botschafterkollegen mit mehreren hundert, zum Teil sehr grundlegenden Anmerkungen zu dem fast fertigen Papier.
Da die Vorentwürfe des Gipfeldokuments in jeder Verhandlungsstufe im Internet veröffentlicht wurden und auch der Anmerkungskatalog von Bolton jedem zugänglich war,7 kann mit Sicherheit identifiziert werden, welche Änderungen auf expliziten Wunsch der USA durchgesetzt wurden. Die Liste reicht von den verbindlichen Verpflichtungen zur Entwicklungsfinanzierung über die Nennung des Internationalen Strafgerichtshofs, die Bezüge zum Kyoto-Protokoll bis zur Ablehnung einer Verantwortung der UN, gravierende Menschenrechtsverletzungen notfalls mit Gewalt zu unterbinden. Alle Punkte spiegeln eine kompromisslose Durchsetzung der erklärten Außenpolitik der USA wider, die offensichtlich über die politisch noch zu schwache Terrorismus-Definition nicht zu beeinflussen war. Dass eine Welt mit weniger Hunger und Not auch eine sicherere Welt wäre, hat bei der gegenwärtigen amerikanischen Regierung ebenfalls nicht verfangen.
Dabei wurde die UN-Reform in den Vereinigten Staaten diskutiert, und durchaus auch rechtzeitig. Bereits im Juli 2005 legten die Senatoren Gingrich und Mitchell dem Kongress einen UN-Reformbericht vor, der allerdings eine völlig andere Agenda aufwies als die bei den UN diskutierten Themen. Im Mittelpunkt stand die Forderung nach einer umfassenden Sekretariatsreform. Das UN-Sekretariat sollte aus Sicht des US-Kongresses wie ein Unternehmen mit einer externen Kontrolle in Form eines Aufsichtsrats geführt werden. Dass eine solche, an sich nicht unvernünftige Lösung aber einen unverhältnismäßigen Einflussverlust für kleine (Entwicklungs)-Länder bedeutet und dass Schritte in die von den Amerikanern gewünschte Richtung daher nur hätten erzielt werden können, wenn auf der Basis wechselseitiger Vorteile verhandelt worden wäre, scheint im US-Kongress nicht verstanden worden zu sein. Eine inhaltliche Debatte, was handlungsfähige UN auch für die USA wert wären, muss in den USA noch begonnen werden.
Ausblick
Mit den USA haben aber auch andere Staaten in der letzten Verhandlungsrunde nationale Interessenswahrung betrieben. Es mag durchaus sein, dass sich einige Staaten hinter dem Rammbock Bolton nur versteckt haben und ohne dieses „Feigenblatt“ ihrerseits eine ähnliche Obstruktionspolitik betrieben hätten.
Das Scheitern des Reformgipfels bedeutet auch nicht das Ende der Vereinten Nationen als Weltorganisation. Die Notwendigkeit, gemeinsam gegen Terrorismus vorzugehen, den Hunger in der Welt zu bekämpfen und für Abrüstung einzutreten, ist nach wie vor groß. Verpasst ist zunächst die Chance für einen schnellen Wandel.
Veränderungen und Reformen bei den UN haben sich in der Vergangenheit immer langsam und graduell vollzogen. Die Charta beispielsweise ist nur einmal in den sechziger Jahren (in zwei Schritten) im Zuge des enormen Mitgliederzuwachses durch die Entkolonialisierung angepasst worden. Reform fand meist nicht durch Veränderung des Bestehenden, sondern durch Ergänzung, durch Gründung einer neuen Struktur statt. Einmal bestehende Gremien sind bisher noch nie binnen Jahresfrist grundlegend umstrukturiert worden (wie es im Falle der Umgründung der Menschenrechtskommission in einen Menschenrechtsrat angestrebt war). Der Sicherheitsrat ist in der 60-jährigen Geschichte überhaupt noch nie um neue permanente Mitglieder erweitert worden.
War somit die umfassende Reforminitiative des Generalsekretärs illusionär? Musste dieser Ansatz schon allein wegen seiner schieren Dimensionen auf jeden Fall scheitern? Nein.Umgekehrt lässt sich argumentieren, dass der Generalsekretär eine Situa-tion, in der die Notwendigkeit einer Reform sehr offen und dringlich zutage getreten war, für einen umfassende Initiative genutzt hat. Auch wenn der Ansatz gescheitert ist, so war es doch richtig, die politischen Möglichkeiten für eine große Reform mit großer Ernsthaftigkeit und unter Einsatz aller Möglichkeiten des Sekretariats auszuloten. Es ist sogar zu vermuten, dass der „Oil for Food“-Skandal entscheidend mit dazu beigetragen hat, dass sich die USA jeglichen Anforderungen multilateraler Politik erfolgreich verschließen konnten; das war ein politischer, mediengemachter Skandal, der in erster Linie den entsprechenden Ausschuss des Sicherheitsrats (und dessen Mitglieder) hätte treffen müssen, wie so oft aber primär „den UN“ und damit dem Generalsekretär angelastet wurde.
Nach den nur kleinen Teilerfolgen bleibt auch nach dem Gipfel die Reformagenda Annans politisch präsent. An der Durchsetzung der Millenniumsziele als verbindlichem Leitbild der UN-Entwicklungsanstrengungen kann auf der Basis des vagen Gipfelbeschlusses weiter gearbeitet werden. Die Erweiterung und weitergehende Reform des Sicherheitsrats bleibt auf der Tagesordnung. Die Kommission für Friedenskonsolidierung muss kurzfristig etabliert werden. Der Menschenrechtsrat, bereits beschlossen, aber vollkommen ohne Inhalt, wird die Reformdiskussion im Menschenrechtsbereich das nächste Jahr stark prägen. Außerdem liegen für 2006 Vorschläge zur besseren institutionellen Verankerung von Umweltfragen für eine bessere Handhabung globaler Migrationsprozesse auf dem Tisch. Da historische Chancen nicht zweimal hintereinander kommen, geht es in den nächsten Jahren sicher mehr um einzelne Reformschritte als um ein großes Paket. Die Herausforderungen sind nicht kleiner geworden.
1 Vgl. die Dokumentation in Internationale Politik (IP), November 2003, S. 116–118 sowie www.un.org/News/Press/docs/2003/sgsm8891.doc.htm
2 Auszüge aus dem High Level Panel-Bericht (A/59/565) sind dokumentiert in IP, Januar 2005, S. 133–137, der gesamte Report ist erhältlich unter http://www.un.org/apps/docs/ws.asp?m=A/59/565.
3 Eine Liste der Mitglieder findet sich in A/59/565, (Anm. 2), S. 105.
4 United Nations Development Programme (UNDP): UN-Millenniumsprojekt: In Entwicklung investieren. Ein praktischer Plan zur Erreichung der Millenniums-Entwicklungsziele, New York 2005. Vgl. Auszüge daraus in der Dokumentation in IP, Februar 2005, S. 138–141 sowie den vollen Bericht unter http://www.unmillenniumproject.org/reports/fullreport.htm
Internationale Politik 10, Oktober 2005, S. 76 - 83