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04. März 2011

Verhandeln oder abrüsten?

Wie sich Europa nichtstrategischer Atomwaffen mit Geschick entledigen kann

Nur etwa 200 nichtstrategische Atomwaffen befinden sich noch auf NATO-Territorium. Soll man mit Russland über die Verschrottung dieses Restbestands aus dem Kalten Krieg verhandeln? Oder könnte Moskau dann Differenzen innerhalb der NATO ausnutzen? Die Empfehlung für dieses Dilemma: ein NATO-weites Raketenabwehrsystem.

Am 5. Februar 2011 tauschten US-Außenministerin Hillary Clinton und ihr russischer Amtskollege Sergej Lawrow anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz die Ratifikationsurkunden für das Neu-START-Abkommen über die Begrenzung stationierter strategischer Atomwaffen beider Seiten aus. Mit der Vision einer Welt ohne Kernwaffen, die von US-Präsident Barack Obama angestrebt wird, stellt sich nun die Frage nach den nächsten Abrüstungsschritten. Dabei richtet sich der Blick auf die nichtstrategischen Nuklearwaffen. Die USA haben solche Systeme noch in fünf europäischen Ländern gelagert, darunter auch in Deutschland. Sollen diese Waffen in künftige Verhandlungsprozesse einbezogen werden? Oder sollen besser die politischen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, sie jedenfalls auf NATO-Seite ersatzlos zu streichen?

Im Zuge der Ratifikation des Neu-START-Abkommens regten die US-Senatoren mehrheitlich an, innerhalb eines Jahres mit Russland in Verhandlungen über nichtstrategische Kernwaffen einzutreten. Offenbar macht man sich in der US-Regierung bereits konkrete Gedanken darüber, wie dies geschehen könnte. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz sprach Außenministerin Clinton über die Möglichkeit, nichtstrategische Atomwaffen (von denen Russland wesentlich mehr besitzt) gegen in Reserve gehaltene strategische Nuklearwaffen aufzurechnen, bei denen die USA über eine große zahlenmäßige Überlegenheit verfügen.

Einseitige Abrüstung nichtstrategischer Nuklearwaffen

Dabei gibt es eine lange Tradition einseitiger Abrüstung bei nichtstrategischen Nuklearwaffen. Vor rund 20 Jahren, am 27. September 1991, erklärte der damalige amerikanische Präsident George H.W. Bush, sein Land werde sämtliche landgestützten Kernwaffen mit Reichweiten unterhalb von 500 km von fremden Territorien zurückverlegen. Auch alle seegestützten nichtstrategischen Atomwaffen würden von U-Booten, Überwasserschiffen und Marinefliegern abgezogen. In der Folge begannen die USA mit der Zerlegung von mehr als 3000 Nuklearsprengköpfen, die für den Einsatz durch Artillerie, Kurzstreckenraketen, U-Boote und Überwasserschiffe vorgesehen waren. Ende 1991 beschloss die NATO zudem, die Anzahl der Kernwaffen auf Flugzeugen um die Hälfte zu reduzieren. Am 5. Oktober 1991 kündigte der damalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow an, auch er wolle nichtstrategische Atomwaffen abziehen und zerstören. Die Sowjetunion begann ebenfalls mit der Verschrottung von Tausenden Nuklearwaffen.

Mit diesen sich gegenseitig ergänzenden einseitigen Initiativen warfen die Supermächte des zu Ende gegangenen Kalten Krieges überflüssigen atomaren Ballast ab. Keine der beiden Seiten hielt es für notwendig, Verhandlungen über nichtstrategische Kernwaffen zu führen, mit denen sie sich aufgrund der begrenzten Reichweiten nicht gegenseitig direkt bedrohen konnten. Einig waren sich Washington und Moskau auch über Folgendes: Diese Waffen, deren Träger (wie Flugzeuge oder Artilleriesysteme) oft nuklear wie konventionell einsetzbar waren, würden zu komplexe Probleme aufwerfen – darunter das der Verifikation. Es war also besser, sich ohne beidseitigen Vertrag von ihnen zu trennen.

Auch später wurden nichtstrategische Kernwaffen weiter reduziert, ohne dass je darüber verhandelt wurde. Unter der Präsidentschaft George W. Bushs zogen die USA nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit sogar ihre gesamten Kernwaffen aus Griechenland und Großbritannien ab. In Deutschland wurden US-Atomwaffenlager geschlossen, darunter in Ramstein. Öffentliches Aufsehen erregte dies nicht. 1971, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, hatten die USA etwa 7300 nichtstrategische Atomwaffen in Europa stationiert. Davon sind heute weniger als 200 übrig geblieben. Kein amerikanischer Präsident hat aber je über diese massiven atomaren Reduzierungen verhandelt.

Sind nichtstrategische Atomwaffen schon heute überflüssig?

Eine allgemein anerkannte Definition von nichtstrategischen Kernwaffen gibt es nicht. Im Grunde geht es um jene Waffen, die bisher nicht durch Rüstungskontrollverträge wie die START-Abkommen zu strategischen Waffen und den INF-Vertrag über die Beseitigung von Mittelstreckenwaffen erfasst worden sind. Nichtstrategische Waffen können land-, see- oder luftgestützt sein.

Derzeit sind etwa 200 Flugzeugbomben in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Italien und der Türkei stationiert, die auf NATO-Seite als nichtstrategisch bezeichnet werden können. Ihr rein militärischer Wert gilt als zweifelhaft. Zur Abschreckung Russlands werden sie nicht mehr benötigt. Selbst wenn sich die Beziehungen zu Moskau massiv verschlechtern sollten, könnte man den Kreml mit diesen Waffen, die von älteren Tornado- oder F-16-Maschinen eingesetzt werden sollen, kaum beeindrucken. Hingegen ist die politische Relevanz dieser Waffen nicht zu unterschätzen. Sie binden die USA militärisch an Europa, was vor allem die neuen NATO-Mitglieder sehr schätzen. Über die „nukleare Teilhabe“ – Deutsche, Niederländer, Belgier und Italiener stellen eigene Flugzeuge zur Verfügung, um diese Atomwaffen im Krieg einsetzen zu können – werden diesen Nationen besondere Mitwirkungsrechte eingeräumt. Anders ausgedrückt: Nukleare Angelegenheiten gehen innerhalb der Allianz nicht nur die Atomwaffenbesitzer USA, Großbritannien und Frankreich etwas an.

Schließlich war „nukleare Teilhabe“ auch immer ein Element nuklearer Nichtverbreitungspolitik. In den sechziger Jahren sollte die Bundesrepublik auf diese Weise davon überzeugt werden, keine eigenen Atomwaffen zu bauen. Deutschland steht heute nicht mehr im Verdacht, eigene Atomwaffenpläne zu hegen. Allerdings könnte womöglich die Türkei an eine solche Option ernsthaft zu denken beginnen, sollten alle US-Kernwaffen von ihrem Territorium abgezogen werden, während zugleich ihr Nachbar Iran zur Nuklearwaffenmacht wird.

Auch wenn dies derzeit von vielen NATO-Mitgliedern noch nicht so gesehen wird: Auf ihrem Lissabonner Gipfel hat die NATO bereits selbst den Weg gewiesen, die Bedingungen dafür zu schaffen, nichtstrategische Atomwaffen überflüssig zu machen. Indem sie ein allianzweites Raketenabwehrsystem anvisiert, schafft sie die Perspektive eines Ersatzes für die nukleare Teilhabe. Das wird noch mindestens zehn Jahre beanspruchen, weshalb sich ein schneller vollständiger Abzug nichtstrategischer Kernwaffen verbietet. Ab dem Jahr 2020, wenn die Tornados und F-16 durch neue Flugzeuge ersetzt werden müssten, sollte man aber auf diesen teuren und militärisch nicht begründbaren Schritt verzichten und nichtstrategische Atomwaffen aufgeben. Ihre politische Funktion würde durch die NATO-Raketenabwehr ersetzt: Dieses militärische Großsystem bindet die USA fest an den alten Kontinent; es gibt europäischen NATO-Ländern Mitwirkungs- und Mitsprachemöglichkeiten; schließlich nimmt es jenen Ländern, die auch innerhalb der NATO über eine eigene nukleare Abschreckung nachdenken mögen, den Anreiz, diesen Schritt auch zu gehen.

Verhandlungen würden schwierig und langwierig

Derzeit ist Russland nicht an Verhandlungen über nichtstrategische Atomwaffen interessiert. Zunächst möchte Moskau Klärungen in der aus seiner Sicht strategisch weitaus wichtigeren Frage der Raketenabwehr herbeiführen. Hier geht es darum, für die NATO wie auch Russland akzeptable und zugleich effektive Modelle der Zusammenarbeit zu entwerfen. Das ist ein schwieriges und zeitaufwändiges Unterfangen. Auch die US-Pläne zum Aufbau konventioneller strategischer Kapazitäten sind für Moskau von hohem Interesse. Es will sie zum Bestandteil von Rüstungskontrolle machen – eine Absicht, die von Washington nicht so ohne Weiteres geteilt werden dürfte. Schließlich sieht Russland seine nuklearen Komponenten generell als Ausgleich für die konventionelle Überlegenheit der NATO an und ist schon deshalb nicht an baldigen Reduzierungen seiner Atomarsenale interessiert.

Auf westlicher Seite wird dagegen die numerische Überlegenheit Russlands in dieser Waffenkategorie als ein Argument für Verhandlungen angeführt. Tatsächlich besitzt Russland etwa 2000 nichtstrategische Atomwaffen, die aktuell stationiert sind oder die in kurzer Zeit operationsfähig gemacht werden können. Dabei handelt es sich – wie bei der NATO – um Bomben, die durch Flugzeuge abgeworfen werden. Hinzu kommen jedoch Marschflugkörper und Torpedos auf U-Booten und Überwasserschiffen sowie Sprengköpfe für das Raketenabwehrsystem zum Schutze Moskaus. Überdies besitzt Russland mindestens 2600 eingelagerte nukleare Sprengköpfe für nichtstrategische Waffen.

Manch einer meint, die US-Kernwaffen in Europa könnten als Verhandlungsmasse dienen. Dieses Argument aber überzeugt wenig: Die russische Regierung weiß, dass einige europäische Regierungen und Bevölkerungen diese Waffen nicht mehr wollen. Wie kann die NATO sie dann als so genannte „Bargaining Chips“ einsetzen, wenn im Westen offen zugegeben wird, dass sie militärisch nutzlos sind?

Abgesehen davon kann man aus der russischen zahlenmäßigen Überlegenheit kein Argument für Verhandlungen ableiten. Denn erstens sind diese Waffen für die NATO keine unmittelbare Bedrohung. Warum soll man vor ihnen Angst haben, wenn man doch während des NATO-Gipfels in Lissabon ausdrücklich beschloss, kooperative Beziehungen mit Russland anzustreben? Und selbst, wenn dies politisch fehlschlagen sollte: Was könnte der Kreml mit seinen nichtstrategischen Atomwaffen wirklich ausrichten? Zweitens wird Moskau seine zahlenmäßige Überlegenheit im Zuge von Verhandlungen ohnehin nicht aufgeben wollen. Derzeit spricht wenig dafür, dass sich Russland zu einer solch massiv asymmetrischen und deshalb unvorteilhaften Abrüstung bereitfinden könnte.

Eine Reduzierung in Reserve gehaltener US-Sprengköpfe als Ausgleich, wie von Hillary Clinton in München angeregt, könnte grundsätzlich interessant für Moskau sein – zumal es selbst kaum über entsprechende Bestände verfügt. Aber zwei Punkte sprechen gegen einen solchen Handel: Erstens würden sich insbesondere Russlands Admiräle kaum darauf einlassen, einsatzbereite nukleare Marschflugkörper und Torpedos – die einzigen Waffen, mit denen sie im Bedarfsfall die US-Marine in Schach halten könnten – gegen nicht einsetzbare US-Sprengköpfe aufzurechnen. Zweitens ist es Moskau gleichgültig, wie viele eingemottete nukleare Sprengköpfe in Amerika lagern, solange nicht die Möglichkeit besteht, sie auf strategischen Trägern zu platzieren. Daher ist es für Russland wichtiger, die Anzahl amerikanischer Trägerwaffen zu minimieren, statt eingelagerte Sprengköpfe wegzuverhandeln.

Gelingt kein Handel, der nichtstrategische gegen eingelagerte Sprengköpfe aufrechnet und somit zu gleichen Obergrenzen führt, müssten ungleiche Obergrenzen nur für nichtstrategische Waffen festgelegt werden. Ein Abkommen jedoch, das Russlands numerische Überlegenheit festschreibt, dürfte wohl kaum vom US-Senat ratifiziert werden. Ein vom Senat zurückgewiesener Vertrag würde wiederum die Beziehungen der NATO zu Russland schwer belasten.

Hinzu kommt die Verifikationsproblematik, die sich bei nichtstrategischen Kernwaffen sehr schwierig gestalten dürfte. Inspektionen müssten sich auf die Sprengköpfe selbst konzentrieren, da die Trägersysteme auch konventionell nutzbar sind und somit nicht notwendigerweise außer Dienst gestellt werden. Die damit verbundene Intrusivität ist bis jetzt noch nie in der nuklearen Rüstungskontrolle probiert worden. Es ist auch fraglich, ob Russland bereit wäre, amerikanischen Inspektoren Zutritt zu Atomwaffenlagern zu gewähren.

Für die NATO könnten Verhandlungen politisch gefährlich werden

Doch nicht nur wären Verhandlungen über nichtstrategische Atomwaffen äußerst langwierig und komplex. Sie könnten sich für die Allianz sogar als gefährlich erweisen, schließlich böten sie Moskau die Gelegenheit, interne NATO-Differenzen weidlich auszunutzen. Moskau hat bei verschiedenen Gelegenheiten sein Ziel bekräftigt, alle US-Atomwaffen aus Europa zu entfernen. Nuklearwaffen sollten nur noch auf den Territorien ihrer Besitzer lagern, so das von Moskau propagierte Prinzip. Dies entspricht einer alten Forderung noch aus sowjetischer Zeit, bei der es darum geht, den Einfluss der USA auf Europa so weit wie möglich zurückzudrängen. Es ist schwer vorstellbar, dass Russland ein Abkommen unterzeichnet, das dieses Ziel nicht verwirklicht.

Für die Allianz ist dies jedoch höchst problematisch. Moskau könnte es zum Vorteil gereichen, dass es innerhalb der NATO sehr unterschiedliche Interessen gibt: Viele Westeuropäer hätten schon heute nichts gegen den vollständigen Abzug der US-Atomwaffen; neue NATO-Mitglieder wiederum widersetzen sich eben genau Moskaus Ziel, die USA aus Europa herauszudrängen. Aber auch Italien und die Türkei wollen US-Atomwaffen nicht unbedingt aufgeben, weil sie Status- und Einflussverlust fürchten. Angesichts der Tatsache aber, dass die Waffen rein militärisch kaum noch Sinn ergeben und jedenfalls nicht mit der notwendigen nuklearen Abschreckung Russlands begründet werden könnten, dürfte es Moskau leicht fallen, zumindest die deutsche sowie die Öffentlichkeit in anderen westeuropäischen Ländern in seinem Sinn zu beeinflussen. Die NATO hätte größte Schwierigkeiten, über einen längeren Verhandlungszeitraum stringent aufzutreten. Vielmehr wäre zu erwarten, dass Russland die Widersprüche innerhalb der Allianz ausnutzt.

Überdies möchte Russland die französischen und britischen Atomwaffen einbeziehen. Auch dies ist ein altes Ziel Moskaus aus sowjetischer Zeit, und auch dies würde die NATO in Schwierigkeiten bringen, lehnt es doch auf jeden Fall Frankreich vehement ab, seine Force de Frappe in Rüstungskontrollverhandlungen zur Disposition zu stellen.

Verhandeln oder einseitig abziehen?

Die NATO läuft Gefahr, sich in langwierigen Verhandlungen über nichtstrategische Atomwaffen zu verstricken, die zugleich Russland jede Gelegenheit gäben, die bestehenden Widersprüche innerhalb der Allianz zu seinen Gunsten auszunutzen. Stattdessen wäre die NATO mit den folgenden Schritten besser beraten: Erstens sollte die Allianz mehr Transparenz bei nichtstrategischen Atomwaffen herzustellen versuchen. Es wäre gut zu wissen, über wie viele dieser Waffen Russland wirklich verfügt und welcher Art sie sind. Denn anders als die USA, die ihre einseitigen Reduzierungen offiziell bestätigten, besteht Unsicherheit darüber, ob Russland seine seinerzeitigen Abrüstungsankündigungen wahr gemacht hat. Daher sollten mit Russland Gespräche über einen Datenaustausch und möglicherweise über gegenseitige Transparenzbesuche aufgenommen werden. Zweitens sollte durch den Aufbau des geplanten NATO-weiten Raketenabwehrsystems innerhalb der nächsten zehn Jahre ein Ersatz für die nur militärpolitisch noch relevanten nichtstrategischen Kernwaffen geschaffen und diese dann einseitig komplett aufgegeben werden.

Dr. OLIVER THRÄNERT ist Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

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