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01. Juli 2019

Verhaltene Hoffnung

Nach Jahren der Korruption und wirtschaftlichen Rückschritte setzen Südafrikas Wähler ihr Vertrauen in Präsident Cyril Ramaphosa, den sie deutlich im Amt bestätigten. Er steht vor enormen Herausforderungen. Für die immer noch stärkste Wirtschaft Afrikas werden die kommenden Jahre darüber entscheiden, ob das Land seine Führungsposition halten kann.

Südafrika ist nach der jüngsten Wahl Anfang Mai kaum zu vergleichen mit dem Land, das 1994 nach den ersten demokratischen Wahlen unter Nelson Mandela die Zeit der Apartheid hinter sich ließ. Damals war die Unterdrückung der schwarzen Mehrheit durch die weiße Minderheit beendet, es herrschte eine euphorische Aufbruchstimmung. Das gesamte Land fühlte sich getragen von der Idee einer „Regenbogennation“, von einer Gesellschaft, die nach Jahrhunderten der Zerrissenheit in Harmonie zusammenfand.

Von dem vielfarbigen Miteinander spricht heute kaum noch jemand. Vielmehr sind die Spannungen zwischen Schwarz und Weiß wieder gestiegen. Eine gewisse Aufbruchstimmung ist jedoch auch jetzt zu spüren – weitaus verhaltener, aber deutlich realistischer. Nachdem Cyril Ramaphosa als ­Präsident mit 57 Prozent der Stimmen bestätigt wurde, herrscht die Hoffnung, dass Süd­afrika eine schlimme Zeit hinter sich lassen kann: Die „verlorenen Jahre“ unter seinem Vorgänger Jacob Zuma waren geprägt von rücksichtsloser Korrup­tion – der Staat wurde auf allen Ebenen ausgeraubt. Selbst Wähler, die zuvor der marktliberalen Democratic Alliance (DA) ihre Stimme gegeben hatten, haben sich dieses Mal für Ramaphosa entschieden. Die DA bleibt zwar mit 20 Prozent zweitstärkste Partei, aber sie hat Stimmen an den ANC (African National Congress) verloren: Viele Südafrikaner, die sonst dem ANC misstrauen, hoffen, dass Ramaphosa das Land wieder vorwärts bringen kann.

Mit dem Rückhalt der Wähler muss der neue Präsident nun seine Macht im ANC konsolidieren. Denn nach wie vor hat Zuma viele Anhänger innerhalb der Partei. Sie sind in seinen neun Amtsjahren an wichtige Schaltstellen in Ministerien, Staatsbetrieben, Parteistrukturen und in der Verwaltung von Provinzen und Städten vorgerückt. Diese Posten, die Zugang zu Steuermillionen und lukrativen öffentlichen Aufträgen ermöglichen, will niemand freiwillig räumen – erst recht nicht, wenn er auch noch mit einer Anklage wegen Korruption und womöglich einer Haftstrafe zu rechnen hat. Mit welch extremen Mitteln dieser Machtkampf ausgetragen wird, zeigt sich in der Provinz KwaZulu-Natal, Zumas Heimat. Dort sind bei ANC-internen Auseinandersetzungen zahlreiche Parteikader durch Auftragsmörder umgebracht worden.

Erste Konsequenzen

Der 66-jährige Ramaphosa hat seit seiner Amtsübernahme im Februar 2018 eine Handvoll Untersuchungskommissionen eingerichtet, um die Korruption aufzuarbeiten. Die Behörden für Strafverfolgung wurden neu aufgestellt, die geschwächten Steuerbehörden bekamen neue Chefs, um die bisher rückläufigen Einnahmen wieder zu steigern. Sogar das jahrelang verschleppte Korruptionsverfahren gegen Zuma selbst wurde wieder aufgenommen. Kritiker warfen Ramaphosa dennoch vor, immer noch viel zu zurückhaltend vorzugehen. So stellte er bei weitem nicht alle Anhänger seines Widersachers kalt, beließ einige sogar in seinem Kabinett. Nun ist er, gestützt auf die Wahlergebnisse, konsequenter vorgegangen. Er hat die Zahl der Minister stark reduziert, musste die interne Machtbalance aber dennoch berücksichtigen. Ein erster Schritt, mehr nicht.

Die Wahl hat allerdings auch gezeigt, dass die Erwartungen an Ramaphosa und vor allem an den ANC von vielen Zweifeln geprägt sind. Die Regierungspartei kann sich zwar nach wie vor auf die Unterstützung älterer Wähler verlassen, die sich noch lebhaft an die Zeit der Apartheid erinnern. Für sie bleibt der ANC die Partei der Befreiung. Für die jüngere Generation jedoch sind die Freilassung Mandelas 1990 und die ersten demokratischen Wahlen 1994 Geschichte, die wenig mit ihrem Alltag im heutigen Südafrika zu tun hat.

Südafrika ist ein junges Land – fast jeder Zweite der 58 Millionen Einwohner ist jünger als 30 Jahre. Sie haben sich in großen Teilen von der Politik abgewandt, die Mehrheit ließ sich nicht einmal als Wähler registrieren. Das ist wenig überraschend: Für junge Leute hat das Land derzeit wenig zu bieten. Offiziell liegt die Arbeitslosigkeit bei 27 Prozent – schon das ist einer der höchsten Werte weltweit. Unter jungen Südafrikanern ist aber jeder zweite ohne Arbeit. Selbst eine gute Ausbildung ist keine Garantie für ein Auskommen – wobei auch eine gute Ausbildung keine Selbstverständlichkeit ist. Das staatliche Schulsystem ist marode; wiederholte Reformversuche blieben ohne Erfolg. Das Pro-Kopf-Einkommen lag 2017 bei 6100 US-Dollar – vergleichbar mit Serbien, Kolumbien oder Thailand. Schwarze stellen inzwischen zwar die Hälfte der Mittelklasse, und schwarze Multimillionäre (zu denen auch Ramaphosa gehört) haben ihren Lebensstil dem der reichen Weißen angeglichen. Doch das Einkommen ist ausgesprochen ungleich verteilt, das Gefälle zwischen Reichen und Armen bleibt sehr steil – und arm sind fast ausschließlich Schwarze. Auch daran haben 25 Jahre ANC-Herrschaft wenig geändert.

Beschäftigung zu schaffen für das Heer junger Arbeitsloser ist die wichtigste Aufgabe für Ramaphosa und seine neue Regierung. Grundsätzlich sind die Voraussetzungen dafür nicht schlecht. Das Schwellenland Südafrika hat die am weitesten entwickelte Wirtschaft Afrikas, die sich anfangs vor allem auf Bergbau und Landwirtschaft gründete. Der Boden wurde aufgeteilt: 13 Prozent der Fläche für Schwarze, 87 Prozent für Weiße. Die Zahlen sind etwas irreführend, wenn man berücksichtigt, dass fast die Hälfte Südafrikas aus kaum besiedelter, wenig ertragreicher Halbwüste besteht, die den Weißen zugeteilt wurde. Aber weiße Farmer sicherten sich auch den Zugriff auf die wichtigsten fruchtbaren Landstriche. Reservate für Schwarze, die Homelands, sind viel zu dicht besiedelte ländliche Slums, deren Bewohner dort kaum überleben können und gezwungen sind, anderswo Arbeit zu suchen.

Emotional geführte Debatte um Landrechte

Diese räumliche Diskriminierung prägt Südafrika bis heute und ist ein Auslöser für die emotionale Debatte um Landrechte, die auch im Wahlkampf eine Rolle spielte. Tatsächlich hat sich die Landwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten modernisiert und industrialisiert, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Zehntausende weiße Farmer mussten aufgeben, Hunderttausende Landarbeiter verloren ihre Arbeit und drängten in die Städte. Südafrika ist längst kein Agrarstaat mehr, sondern ein weitgehend urbanisiertes Land, in dem Bergbau, Industrie und Dienstleistungen von zentraler Bedeutung sind.

Die Erträge aus dem Bergbau finanzierten eine Infrastruktur, die sonst auf dem afrikanischen Kontinent unerreicht ist: Straßen, Bahnen, Strom-, Wasser- und Telefonnetze in den Ballungsgebieten und Industriezentren mussten jahrzehntelang den Vergleich etwa mit südeuropäischen Ländern nicht scheuen. Dahinter standen staatliche Unternehmen, zum Beispiel Eskom als Stromlieferant oder Transnet für den Schienen- und Schiffstransport, die zu Apartheid-Zeiten vor allem unter Weißen für Vollbeschäftigung sorgten.

Die Entwicklung der Minenindustrie bedingte den Aufbau einer Finanzbranche, die die enormen Mittel für die Förderung der Bodenschätze in den tiefsten Bergwerken der Welt mobilisieren konnte. Bis heute hat Südafrika Banken, Versicherungen, eine Börse und Märkte für Finanzinstrumente auf internationalem Niveau. Auch die juristischen Rahmenbedingungen für die Geschäftswelt sind hoch entwickelt und zuverlässig. Weit entwickelt und vielseitig ist auch Südafrikas Industrie. Mercedes, BMW und Volkswagen, Toyota und Nissan werden hier seit Jahrzehnten gebaut, vor allem für den Export. Nicht nur Bergbau- und Rohstoffkonzerne gehören zur Weltspitze. Auch SABMiller, einer der größten Bierbrauer der Welt, hat südafrikanische Wurzeln; ebenso der Papierproduzent Mondi, der Luxusgüterkonzern Richemont oder das Medienunternehmen Naspers, größter Aktionär des chinesischen Internetgiganten Tencent.

Vom Ende der Apartheid und der Öffnung Südafrikas zum Rest des Kontinents haben zahlreiche Unternehmen profitiert – ein Markt mit mehreren Hundert Millionen Menschen war endlich zugänglich. Südafrikanische Firmen haben in Afrika inzwischen eine starke Präsenz: Standard Bank, die größte Bank des Kontinents, ist in 20 Ländern vertreten und erleichtert damit auch grenzüberschreitende Geschäfte. Der Telekomkonzern MTN ist Marktführer in Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land des Kontinents. Die Supermarktkette Shoprite ist die größte in Afrika und überall im südlichen Afrika, aber auch in West- und Ostafrika etabliert. Der südafrikanischen Wirtschaft insgesamt haben die vergangenen 25 Jahre allerdings weniger Aufschwung gebracht als erwartet. Während bis 2007 noch Wachstumsraten bis zu 5 Prozent erzielt wurden, wächst die Wirtschaft seit der Finanzkrise 2008 nur noch mit durchschnittlich 1,6 Prozent pro Jahr – nur marginal schneller als die Bevölkerung. Und das Verhältnis von Schulden zum Bruttosozialprodukt liegt bei 56 Prozent.

Der Staat hat dennoch viel geleistet: Neue Wasser- und Stromanschlüsse für die Armen, Wohnungsbauprogramme für Millionen haben staatliche Ressourcen in Townships und Homelands gelenkt, die von den weißen Minderheitsregierungen jahrzehntelang vernachlässigt wurden. Allerdings reichen diese Bemühungen bei weitem nicht aus. Nach wie vor erzeugt die rapide Urbanisierung einen Druck, der selbst in kleineren Orten sichtbar ist: Überall entstehen Slumsiedlungen, weil Menschen in den Städten nach Arbeit suchen.

Immerhin ist inzwischen ein rudimentärer Sozialstaat entstanden, der die härteste Armut etwas abmildert. Vor allem Rentner und Kinder werden unterstützt; die Beträge sind für viele der mehr als 17 Millionen Berechtigten und ihre Angehörigen eine Existenzgrundlage.

Schulen und Universitäten, Krankenhäuser und Wohngebiete sind längst nicht mehr nach Ethnien getrennt. Dafür hat sich allerdings eine ausgeprägte Klassengesellschaft etabliert: Staatliche Schulen oder Kliniken sind überlastet, die Versorgung ist unzuverlässig. Wer es sich leisten kann, weicht auf private Schulen und Krankenversicherungen aus – und kann sich in Einrichtungen von internationalem Niveau ausbilden oder behandeln lassen.

Ausgleich soll auch in der Wirtschaft erzielt werden. Alle größeren Unternehmen sind verpflichtet, Schwarze an ihren Geschäften zu beteiligen. Staatliche Aufträge werden nur an Firmen vergeben, die solche Vorgaben erfüllen. Im Zuge des „Black Economic Empowerment“ (BEE – wirtschaftliche Ermächtigung der Schwarzen) sind zum Teil abenteuerliche Konstrukte entstanden, mit denen Unternehmensanteile an politisch gut vernetzte Schwarze ­übertragen wurden, ohne dass diese wirklich am Geschäft beteiligt sind. Auch Gewerkschaften, Verbände von Frauen oder Kriegsveteranen wurden auf diese Weise begünstigt. Die effektive Kontrolle der Unternehmen bleibt aber in den meisten Fällen in den Händen von Weißen.

Linke Kritiker des ANC werfen der Partei deshalb vor, sich vom „weißen Monopolkapital“ abhängig gemacht zu haben. Mit solchen Parolen haben die radikalen Economic Freedom Fighters (EFF) jüngst immerhin 10 Prozent der Stimmen erhalten – vorwiegend von jungen Wählern. Die Frustration der Armen, die auch nach 25 ANC-Jahren kaum eine Besserung ihrer Lebensumstände erkennen, hat die EFF zur drittgrößten Partei im Parlament gemacht.

Der Aufstieg der EFF wurde auch begünstigt durch die politische Unsicherheit unter Präsident Zuma und dessen ungezügelte Korruption. Vor allem staatseigene Konzerne wurden um Milliarden betrogen, sodass heute Transnet-Züge nicht mehr zuverlässig unterwegs sind und der Stromlieferant Eskom die Versorgungssicherheit nicht mehr gewährleisten kann. Immer wieder wird in Teilen des Landes der Strom abgeschaltet, weil die Kraftwerke ihre Kapazitätsgrenzen erreicht haben oder Wartungsarbeiten vernachlässigt wurden. Der Ausbau von Stromerzeugung und -verteilung, dessen Notwendigkeit seit Jahren absehbar war, wurde verschleppt, sodass eine Besserung nur mit erheblichen Anstrengungen zu erreichen ist. Das bremst die gewünschte Expansion der Wirtschaft und macht langfristige Planung, etwa für Kapitalinvestitionen im Bergbau, ausgesprochen schwierig.

Die Ausgangslage für Ramaphosa ist also denkbar kompliziert. Dennoch genießt er einen Vertrauensbonus in der Geschäftswelt, unter internationalen Investoren und in der Bevölkerung. Und er hat begonnen, die Probleme anzupacken. Er verspricht Haushaltsdisziplin, wirbt international um Vertrauen und Investitionen, sagt einen Entwicklungsschub in der Tourismusbranche voraus, will Staatskonzerne umstrukturieren und zum Teil privatisieren. Ramaphosa hat als Geschäftsmann bewiesen, dass er wirtschaftliche Zusammenhänge versteht. Er hat langjährige Erfahrung als Unterhändler, erst als Chef der Bergarbeitergewerkschaft, später als Mandelas Vertreter in Verhandlungen mit den Weißen, die zum Ende der Apartheid führten.

Der Politiker Ramaphosa gilt als langfristig denkender Stratege. So schaffte er es, Zuma in einem jahrenlangen parteiinternen Machtkampf aus dem Amt zu drängen und im Februar 2018 selbst Präsident zu werden, ohne vom Volk gewählt worden zu sein. Er hat das erste Amtsjahr erfolgreich hinter sich gebracht, hat seine Widersacher im ANC in Schach gehalten, die Hoffnungen in der Bevölkerung nicht enttäuscht, sich aber auch nicht zu überzogenen Versprechen hinreißen lassen. Nun, als vom Volk bestätigter Staats- und Regierungschef, hat er mehr Spielraum. Mit Spannung wird erwartet, wie er ihn nutzt.

Hans Brandt ist Redakteur für Meinungen beim Tages-Anzeiger in Zürich. Zuvor war er langjähriger Südafrika-Korrespondent.

Bibliografische Angaben

IP Wirtschaft 02, Juli - Oktober 2019, S. 6-10

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