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01. Dez. 2005

Veränderung kommt sicher, aber wie?

Baschar al-Assad riskiert den Sturz seines Regimes

Nicht die alte Garde verhinderte eine Demokratisierung Syriens, sondern die Wankelmütigkeit von Präsident Baschar al-Assad. Für die Zukunft sind drei Szenarien möglich: Al-Assad könnte sich entgegen aller Wahrscheinlichkeit doch zu Reformen durchringen. Der syrische Staat verliert weiter an Autorität und versinkt im Chaos. Oder ein Militärcoup würde eine Wandlung herbeiführen und gleichzeitig Stabilität garantieren.

Das Regime Baschar al-Assads ist in seinem Endstadium angelangt, auch wenn es versuchen mag, den Exitus noch einige Monate oder Jahre hinauszuzögern. „Khalas kazoh“, wie die Syrer sagen: Es ist politisch und ideologisch ausgebrannt.

Dass es mittelfristig keine Überlebenschancen für das Regime gibt, ist dabei unabhängig von den Befunden, die die Ermittlungen von Detlev Mehlis zu den Umständen des Mordes am ehemaligen libanesischen Ministerpräsident Rafik Hariri erbringen werden. Sicherlich erhöhen Mehlis’ Zwischenbericht vom 20. Oktober 2005, der eine wahrscheinliche Beteiligung hoher syrischer Sicherheitsbeamter feststellt, und die darauffolgende einstimmig angenommene Resolution des UN-Sicherheitsrats, die im Falle mangelnder syrischer Kooperation mit den Ermittlern ‚weitere Aktionen‘ vorsieht, derzeit den Druck auf das syrische Regime. Mehlis’ Bericht löste bei den Syrern widersprüchliche Gefühle aus: So sahen viele die Untersuchung und die Verhandlung des Themas im UN-Sicherheitsrat als Teil eines internationalen Planes, wenn nicht einer Verschwörung, gegen ihr Land – ein Gefühl, das die syrische Führung nach Kräften zu unterstützen sucht. Andererseits war man durchaus überzeugt, dass der Bericht in der Sache wohl zutreffe. Furcht vor einem Zusammenbruch der Ordnung mischte sich mit Genugtuung darüber, dass einige jener Führungsgestalten, die in Syrien lange über jedem Gesetz gestanden haben, plötzlich zum Objekt einer internationalen Justizoperation wurden.

Selbst wenn der Abschlussbericht am 15. Dezember keinen Beweis einer direkten syrischen Beteiligung erbringen sollte, wird es für das Regime in seiner jetzigen Form nahezu unmöglich sein, seine gegenwärtige Isolation und den Legitimitätsverlust zu überwinden: Die Bush-Regierung bezichtigt es der aktiven Unterstützung des irakischen Aufstands und selbst die durchaus ernsthaften Bemühungen der syrischen Führung, die Friedensverhandlungen mit Israel wieder aufzunehmen, erhalten keinerlei Unterstützung aus Washington.

In Europa hat das syrische Regime seinen wichtigsten Fürsprecher Frankreich verärgert und die Geduld anderer Staaten, die lange versuchten, eine Form des konstruktiven Dialogs aufrechtzuerhalten, überstrapaziert. Das Verhältnis zu seinem wichtigsten regionalen Verbündeten Saudi-Arabien hat Syrien durch seine Libanon-Politik ruiniert. Syriens Isolation ist im Wesentlichen das Ergebnis eklatanter Fehleinschätzungen zentraler regionaler und internationaler Entwicklungen, wie sie erst kürzlich wieder durch die Aussage des syrischen Außenministers, Israel würde wohl niemals aus dem Gaza-Streifen abziehen, bestätigt wurden. Als das kritischste Problem für das syrische Regime mag sich jedoch letztlich der Verlust an Vertrauen und Unterstützung großer Teile der Bevölkerung und der Eliten herausstellen: am Ende einer langjährigen – und langjährig zugunsten privater Interessen ausgenutzten – Dominanz über den Libanon stehen nun ein erniedrigender Rückzug und die erzwungene Kooperation mit einer internationalen Untersuchungskommission, die tief in die Souveränität des eigenen Landes eingreift. Vollkommen versagt hat das syrische Regime auch bei politischen Reformen. Wirtschaftlich sieht es dank des Ölgeschäfts etwas besser aus. Vor kurzem autorisierte die Regierung sogar den Verkauf von Devisen durch die lokalen Banken. Dies war zwar ein willkommener Schritt, kann aber nicht aufwiegen, dass die Syrer nicht mehr wie bislang auf den Libanon als ihre wirtschaftliche Brücke zur Welt bauen können.

Wandel durch Liberalisierung?

Der Wandel wird also kommen, doch in welcher Form? Eine starke und organisierte Oppositionsbewegung fehlt bislang – eine Revolution ukrainischen oder georgischen Typs ist deshalb kaum denkbar. Drei vorstellbare Szenarien bleiben.

 Erstens könnte Baschar al-Assad eine gesteuerte politische Liberalisierung anstreben: Die Fehler der letzten fünf Jahre würden einigen seiner Mitarbeitern zugeschoben und diese dann abgesetzt werden. Er könnte politische Gefangene freilassen, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ankündigen. Diese würden in einem oder zwei Jahren stattfinden, um Parteien und politischen Kräften ausreichend Zeit zur Vorbereitung zu geben. Gleichzeitig müsste sich die Einsicht durchsetzen, dass die Abwendung eines Bürgerkriegs im Irak und des Zerfalls des Nachbarstaats wichtiger für die Wahrung syrischer nationaler Interessen ist als die Befriedigung, die viele in Syrien daraus ziehen mögen, die Amerikaner im Irak scheitern zu sehen. Allerdings würde dieses Szenario eine Führungsstärke voraussetzen, die Assad fehlt. Die geringe Plausibilität dieses Szenarios liegt aber nicht daran, dass Baschar al-Assad von der alten Garde umringt und durch sie beschränkt ist, wie viele ausländische Kommentatoren immer wieder vermutet haben.

Tatsächlich hat sich Assad – hier durchaus strategisch handelnd – darum bemüht, seine eigenen Leute in wichtige Positionen zu bringen und die alte Garde Schritt für Schritt auszubooten. Schon in den ersten zwei Jahren nach seiner Amtsübernahme hatte er gut zwei Drittel der wichtigsten Mitglieder der politischen Elite durch eigene Gefolgsleute ersetzt;1 die letzten einflussreichen Repräsentanten der Führungsriege seines Vaters pensionierte er nach dem Parteikongress im Sommer 2005. Manche der älteren, erfahrenen Führungsmitglieder hatten von bestimmten Entscheidungen abgeraten. Der langjährige Vizepräsident Abd al-Halim Khaddam etwa soll gegen die Verlängerung der Amtszeit des libanesischen Präsidenten Lahoud gewesen sein, die Assad gegen Rafik Hariri und die große Mehrheit der libanesischen Öffentlichkeit erzwang. Das gleiche galt für Ghazi Kanaan, den kürzlich durch Selbstmord ums Leben gekommenen Innenminister. Kanaan, der von 1982 bis 2002 als Syriens Prokonsul im Libanon wirkte, wurde durch Mehlis’ Bericht nicht inkriminiert. Die alte Garde hat Assad nicht daran gehindert, das Richtige zu tun. Im Gegenteil hätte sie ihn vor mancher Fehlentscheidung, insbesondere der Eskalationsstrategie im Libanon, dank derer Syrien nun alle seine Partner gleichzeitig vor den Kopf gestoßen hat, bewahren können. Die traurige Wahrheit ist, dass der Realitätssinn Assads und seiner Gefolgsleute nicht sehr ausgeprägt ist. Dass Assad von seinem ererbten Amt überfordert ist, merken immer mehr Syrer, hochrangige Militärs und Sicherheitsbeamte eingeschlossen.

Chaos statt Wandel?

Deshalb befürchten viele Syrer ein ganz anderes Szenario: die allmähliche Desintegration des syrischen Staates. Auf dieses Szenario muss man sich tatsächlich einstellen, wenn sich nichts ändert. Sollte sich das syrische Regime im Aussitzen versuchen, werden sich seine regionale und internationale Isolation verstärken und seine Legimitationsbasis weiter erodieren. Die lokale „Mafia“ – jene Gruppe einflussreicher Geschäftsleute, die ihren wirtschaftlichen Erfolg der Nähe zu oder ihrer Verwandtschaft mit Repräsentanten des Regimes verdankt – bliebe unangetastet und die politische Entwicklung blockiert. Unabhängig von Konfession und Klasse werden die Syrer kein Regime akzeptieren, das das Land in eine Abschottung weißrussischen Stils manövriert. Da der Raum für die Artikulation politischer Alternativen fehlt, könnte Widerstand gegen das Regime unschöne Formen annehmen. Bereits in den letzten Monaten entstanden aus kleineren lokalen Streitigkeiten ethnisch-konfessionelle Unruhen zwischen Alawiten und Ismailiten in Zentralsyrien sowie zwischen Arabern und Kurden im Nordosten. Der Staat verliert an Autorität.

Sturz statt Chaos

Angesichts des Risikos der Desintegration ist für eine wachsende Zahl von Syrern ein drittes Szenario fast unausweichlich: der Sturz des Regimes durch einen Militärcoup. Aussicht auf Erfolg hätte ein Putsch unter zwei Bedingungen: Um Befürchtungen von Alawiten und den Fußsoldaten des Regimes vor konfessionellen Konflikten und Racheakten einzudämmen, müsste ein solcher Coup von hochrangigen Militärs angeführt werden, die wie Assad der konfessionellen  Minderheit der Alawiten angehören. Eine Chance internationaler Akzeptanz haben Militärcoups im heutigen Nahen Osten wohl nur dann noch, wenn sie an ein glaubwürdiges Versprechen von Demokratisierung gekoppelt werden.

Welcher Offizier auch immer Assad und seine Entourage absetzte, müsste deshalb den vorher beschrieben Weg einschlagen: eine politische Öffnung, die eine Formierung der politischen Kräfte und tatsächliche Wahlen erlauben würde. Ein solches Programm politischer Liberalisierung würde ebenso die unentbehrliche Unterstützung der Bourgeoisie in Damaskus und Aleppo, der Beamten und Intellektuellen und wohl auch eines großen Teiles der Mitglieder der Baath-Partei gewinnen. Die Machtübernahme durch einen syrischen Muscharraf ist nicht der optimale Ausweg, aber vielleicht die beste aller schlechten Lösungen.

Europa und die Vereinigten Staaten haben ein starkes Interesse am Wandel in Damaskus, insbesondere an einem Wandel, der nicht von Staatszerfall und Anarchie begleitet ist. Dieser Wandel sollte von innen kommen. Dass die Syrer einen Regimewechsel von außen begrüßen würden, ist eine Illusion. Solche Wunschvorstellungen einiger schlecht informierter Kräfte würden den syrischen Nationalismus mindestens so unterschätzen wie zuvor den irakischen. Ebenso irrsinnig wäre es, auf Vertreter jener selbsternannten Opposition zu setzen, die sich in den Washingtoner Korridoren besser auskennen als in den Straßen von Damaskus, oder auf Assads exilierten Onkel Rifaat, an dessen repressive Politik sich die Syrer aus seiner Zeit als Vertrauter Hafez al-Assads nur zu gut erinnern können.

Aus der Perspektive einer friedlichen Transformation des syrischen Regimes wäre das erste Szenario das beste für Syrien und die internationale Gemeinschaft. Sollte Baschar al-Assad sich zu einem Kurswechsel durchringen, mit der internationalen Gemeinschaft kooperieren und politische Reformen anstoßen, müssten Europa und die USA ihm dabei zur Seite stehen. Auch – denn nur das gäbe westlicher Politik echte Glaubwürdigkeit – bei der Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen mit Israel. Allerdings gab die Rede, die der Präsident am 10. November 2005 in der Universität Damaskus hielt, keinen Hinweis auf eine Kursänderung. Assad sprach vielmehr von einer Verschwörung gegen sein Land und gegen die arabische Nation, sowie von der Standhaftigkeit Syriens. Ebenso erklärte er ausländische Forderungen nach politischen Reformen für unberechtigt.2Wenn die Syrer erwartet hatten, dass er innenpolitische Liberalisierungsschritte ankündigen würde, sahen sie sich getäuscht. Bleibt Baschar al-Assad weiterhin auf dieser Linie, sollte der Westen sein Regime isolieren – nicht aber die Bevölkerung strafen – und seine Bereitschaft signalisieren, mit Assads Nachfolgern zusammenzuarbeiten.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2005, S. 102 - 105.

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