Unzuverlässiger Bündnispartner
Ist Deutschland außenpolitisch isoliert?
Erstmals stimmte Deutschland im März dieses Jahres anders ab als alle anderen im UN-Sicherheitsrat vertretenen NATO- und EU-Partner: Es enthielt sich bei der Libyen-Resolution 1973. Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Entscheidung für die Positionierung der deutschen Außenpolitik in einem breiteren strategischen Kontext?
Zunächst: Von einer Mittelmacht wie Deutschland wird zu Recht erwartet, dass sie eigene Vorstellungen zu aktuellen und strukturellen Problemen der internationalen Politik entwickelt und diese versucht durchzusetzen. Deutschland gehört zu den wichtigsten Mitgliedern in den Vereinten Nationen, in der NATO und der EU und hat nicht zuletzt aufgrund seiner hohen Exportabhängigkeit eine Verantwortung und auch ein Interesse an einer stabilen und offenen internationalen Ordnung.
Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik war jahrzehntelang vom Ost-West-Konflikt und der damit verbundenen geografisch-politischen Frontlinie geprägt, die entlang der Grenze zwischen BRD und DDR mitten durch Deutschland verlief. Die außen- und sicherheitspolitische Kultur der Bundesrepublik während des Ost-West-Konflikts war mit drei zentralen Elementen zu kennzeichnen: Erste Leitlinie war das Bekenntnis zum Westen. Daraus resultierte als zweite Leitlinie die Bereitschaft zur Abgabe der nach der Besatzungszeit schrittweise wiedererlangten staatlichen Souveränität und die enge Zusammenarbeit mit den Partnern im Rahmen von internationalen Organisationen. Dritte Leitlinie der politischen Kultur war die deutliche Ablehnung jeder Form von nationalstaatlicher militärischer Machtpolitik. „Never again“ und „never alone“ war die außenpolitische Doppellogik der Bonner Republik.
Alles in allem kann Deutschland in den zwei Jahrzehnten seit der Vereinigung unabhängig von der parteipolitischen Zusammensetzung der jeweiligen Bundesregierung eine aktive Politik zur Festigung einer multilateralen Orientierung bescheinigt werden. Dies dürfte zum einen an der fortwirkenden historischen Erfahrung der alten Bundesrepublik liegen, die sich auch unter dem Schlagwort „Souveränität durch Integration“ zusammenfassen lässt, womit es zum anderen erfolgreich gelang, nationale Interessen zu wahren. Die nationale Interessendurchsetzung war für eine vom Weltmarkt extrem abhängige Exportnation sogar besser und wirksamer im multilateralen Zusammenhang zu erreichen. Insofern ist Deutschland tatsächlich vom Konsumenten zu einem wichtigen (Mit-)Produzenten internationaler Ordnung geworden.
Der prinzipielle Multilateralismus Deutschlands hat sich allerdings seit Ende der neunziger Jahre sukzessiv verändert. Die Äußerungen des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder im Bundestagswahlkampf 2002 hinsichtlich eines „deutschen Weges“ in der Außenpolitik haben diese Beobachtungen bestätigt. Auch die frühzeitige Festlegung Schröders, Deutschland werde als nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats im Jahr 2003/04 unabhängig vom Ergebnis der Waffeninspekteure eine gewaltsame Entwaffnung des Irak nicht unterstützen, deutete auf eine Veränderung hin.
Der Fall Libyen ist eine weitere Zäsur in der deutschen Außenpolitik, die aus allen Parteien heraus heftig kritisiert wurde. Die Aussage von Außenminister Guido Westerwelle: „Eine solche Entscheidung kann man nicht alleine deswegen treffen, weil andere sie so getroffen haben. Eine solche Entscheidung muss in einer eigenen, sorgfältigen Abwägung des Für und Wider, der Risiken und Gefahren getroffen werden. Das haben wir getan“ ist nichts anderes als die Schrödersche Haltung, nach der über deutsche Außenpolitik in Berlin, und nirgendwo sonst, entschieden werde. Formal mag das stimmen, aber für eine europäisch und transatlantisch eingebundene, multilateralisierte Mittelmacht wie Deutschland klingt diese Haltung mehr wie die eines pubertierenden Jugendlichen als die eines verantwortungsvollen Erwachsenen.
Es handelt sich, so etwa der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe, „um einen Bruch mit den bewährten und wichtigsten Traditionslinien deutscher Außen- und Sicherheitspolitik“. Joschka Fischer, ehemaliger Außenminister, nannte die Libyen-Entscheidung einen „skandalösen Fehler“. Der Leiter der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Harald Müller, sieht die deutsche Reputation schwer beschädigt und bewertet die deutsche Entscheidung als „das größte diplomatische Desaster seit Jahrzehnten“.
Entscheiden beinhaltet immer die Abwägung von Handlungsalternativen, die Vor- und Nachteile aufweisen. Im Falle der deutschen Haltung zur Resolution 1973 handelte es sich gewiss um eine „40:60-Entscheidung“, bei der es für unterschiedliche Haltungen gute Argumente gab. Das deutsche Argument, dass die Errichtung einer Flugverbotszone eine militärische Intervention von außen bedeute, die nur dann Erfolg haben könne, wenn zur Not auch massiv militärisch interveniert würde, war durchaus richtig. Dazu sei man entweder nicht bereit oder nicht in der Lage. Das Eskalationspotenzial sei mithin enorm und niemand wolle Partei in einem sich abzeichnenden Bürgerkrieg werden.
Ob aber der von der deutschen Politik betonte gründliche Abwägungsprozess tatsächlich stattgefunden hat und alle Folgen des Handelns richtig eingeschätzt wurden, und zudem der politische Kompass richtig justiert war, lässt sich mit ebenso guten Argumenten bezweifeln. Denn gab es wirklich eine zwingende Begründung, sich gegen die traditionelle Grundrichtung deutscher Außenpolitik zu stellen und die USA, Frankreich und Großbritannien gleichzeitig zu verprellen? Der Flurschaden in NATO (die als politisches Bündnis schwer beschädigt ist) und EU (die so genannte „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ liegt geradezu in Trümmern) ist beträchtlich.
Die deutsche Haltung und die Betonung des „Respice finem“-Gedankens („Bedenke das Ende“) hat zudem keine Antwort auf die Frage, was passiert wäre, wenn Bengasi gefallen wäre („Srebrenica 2“ mit allen absehbaren Folgen). Anders formuliert: Auf die Ungewissheiten der Interventionszukunft zu verweisen, die relativen Gewissheiten einer Nichtintervention aber auszublenden, ist fragwürdig. Die auch von deutscher Seite seit langen Jahren geförderte Debatte um die so genannte Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) der internationalen Gemeinschaft bei schwersten innerstaatlichen Verbrechen steht in Kontrast zur aktuellen deutschen Haltung.
Vereinfacht gesprochen sucht die Welt seit Langem nach Grenzen für das Verbot der Nichteinmischung und lotet Mittel gegen das Recht von Diktatoren zum Massenmord aus. Die Resolution 1973 ist in diesem Geist verfasst, weshalb sich Deutschland eben nicht nur seinen etablierten Partnern verweigert, sondern auch die „humanization“ des Völkerrechts beschädigt. Der Sonderberater des UN-Generalsekretärs, Edward Luck, antwortete auf die Frage, welches Szenario in Libyen drohte, wie folgt: „Es schien zu Verbrechen gegen die Menschheit zu kommen, also zu ausgedehnten und systematischen Angriffen auf die Bevölkerung mit Wissen der Obrigkeit. Trotzdem hat es der Sicherheitsrat zuerst mit Sanktionen versucht, aber das Gaddafi-Regime blieb auf dem Vormarsch. Schließlich wurde klar, dass ein Blutbad in Bengasi bevorstand.“ Wenn Deutschland sich durchgesetzt hätte und 1973 nicht zustande gekommen wäre (das war ja wohl das deutsche Ziel!), dann hätte die ohnehin noch fragile Debatte um die Responsibility to Protect Schaden genommen. Möglicherweise hätten einige Mächte zudem auch ohne Sicherheitsratsmandat interveniert – und der Scherbenhaufen wäre noch größer gewesen.
Kurzum: Die deutsche Haltung im Falle Libyens glich der sprichwörtlichen Redewendung vom „wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“. Anders formuliert: Die Betonung der Zivilmachttraditionen der Bonner Republik brach sich in der Libyen-Entscheidung mit der Einbindung in traditionelle Bündnisstrukturen und der multilateralen Ausrichtung deutscher Außenpolitik. Deutschland hat sich für ein „ohne mich“ entschieden, mit dem Zweifel an der außenpolitischen Zuverlässigkeit des Landes einhergingen.
Ob die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik für die Herausforderungen, die mit einer stärker global ausgerichteten Rolle einhergehen, gewappnet ist, kann bezweifelt werden. Im Grunde genommen, so Hanns W. Maull bereits vor zehn Jahren, leiste sich die deutsche Öffentlichkeit ein „schizophrenes Verhältnis zur Außenpolitik“: Sie solle Gefahren abwenden und Chancen schaffen, „aber dies möglichst zum Nulltarif“. Die politischen Prioritäten liegen – jedenfalls wenn nicht gerade eine außenpolitische Krise die öffentliche Aufmerksamkeit bestimmt – fast ausschließlich bei innenpolitischen Zielsetzungen. So sind die Haushaltsansätze für die drei großen außenpolitischen Ressorts (Verteidigung, Entwicklung und Auswärtiges) von gut 16 Prozent des Bundeshaushalts in 1990 auf gut 13 Prozent im Jahr 2011 zurückgegangen, und nur noch wenige Parlamentarier sehen in der Außen- oder Sicherheitspolitik ein vorrangiges Karrierefeld.
Die Globalisierung erzwingt eine konsequente Neuorientierung der Politik auf weltpolitische Zusammenhänge. Deutschland kann es sich nicht leisten, Außen- und Sicherheitspolitik vorwiegend als Pflichtübung oder gar als Verlängerung innen- und wahlpolitischer Kalküle zu betreiben. Auch eine Konzentration auf die eigene Region und die Stabilisierung des europäischen Umfelds wird, so wichtig sie ist, den Anforderungen einer globalen Perspektive nicht gerecht.
Prof. Dr. JOHANNES VARWICK lehrt Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.