Unternehmen Einigung
Europa ist uns selbstverständlich geworden. Doch das ist gefährlich
Die deutsche Wirtschaft profitiert wie niemand sonst von der europäischen Integration. Aber genau dieser Binnenmarkt ist heute bedroht. Höchste Zeit, dass deutsche Unternehmer sich einmischen, um die Einheit Europas gegen Mutlosigkeit und offene Feindschaft von innen und außen zu verteidigen. Eine unternehmerische Betrachtung.
Als erfolgreiche Unternehmer und umsichtige Kaufleute verbringen wir einen wesentlichen Teil unserer Zeit mit Risiken, ihrer Ermittlung, Bewertung und Abwehr. Jenseits der betrieblichen, intrinsischen Gefahren beschäftigen uns zum Beispiel Länderrisiken – so etwa, wenn Staaten die Investitionen in Infrastruktur und Bildung, den Marktzugang für ausländische Investoren oder die Entwicklung arbeitsteiliger Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft nicht so gestalten, wie es gerade für mittelständische Unternehmen zumindest aus der EU für ein weiteres Engagement erforderlich wäre. Unternehmen reagieren dann, indem sie liquide Mittel abziehen, Investitionen streichen und in andere Märkte verlagern. Das geht heute schnell, einfach, emotionslos. Als gute Kaufleute gehen wir in besonderer Weise mit bestandsgefährdenden Risiken um: solchen, gegen die kein „Hedging“, keine andere Form der Minimierung und schon gar kein Hoffen hilft, sondern nur die Beseitigung der Gefahrenquelle.
Im vergangenen Jahr haben wir gelernt, dass wir deutschen Unternehmer in weiten Teilen, nicht viel anders vielleicht als die deutsche Politik, mit technologischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Risiken ganz gut umgehen können, mit geopolitischen dagegen nicht. Was die meisten von uns hier an Analyse leisten, ist einfach nicht gut genug. Viele tausend Unternehmen aus Deutschland sind heute global engagiert, in China und Russland, den Vereinigten Staaten, Indien und andernorts. Und obwohl diese Märkte für viele von uns sehr wichtig sind, gibt es doch bei uns kein einziges Unternehmen, das auf den Binnenmarkt der Europäischen Union verzichten könnte. Dieser offenkundige Aspekt spielt in unseren Risikoanalysen aber eine schockierend geringe Rolle. Denn genau dieser Binnenmarkt ist heute bedroht.
Erstaunlich, dass wir überhaupt daran erinnern müssen: Die EU ist die größte Volkswirtschaft der Welt, sie ist ihr größter Exporteur und ihr größter Importeur, der führende Investor in allen Drittstaaten und ebenso größter Empfänger ausländischer Investitionen weltweit. Übrigens gehören mit Bratislava und Prag zwei Städte der Länder, die man früher pauschal „Osteuropa“ nannte, heute zu den zehn Ballungsräumen mit dem höchsten Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt der EU. Unsere Europäische Union ist auch für rund 60 Prozent aller Gelder verantwortlich, die weltweit für die Entwicklungszusammenarbeit aufgewandt werden, auch das ein zentraler Wirtschaftsfaktor. Unser Handelsvolumen mit der restlichen Welt hat sich zwischen 1999 und 2010 verdoppelt. Für 59 Länder ist die EU der wichtigste Handelspartner, während das für China nur auf 36 und für die USA nur auf 24 Länder zutrifft.
Ein Wunder, das wir als viel zu selbstverständlich empfinden
Der reichste Wirtschaftsraum der Erde mit seinen 507 Millionen Bürgern und einer weltweit einzigartigen Verflechtung seiner Unternehmen zwischen den Mitgliedstaaten wurde seit 1951 in immer weiteren Stufen verfeinert; aber er funktioniert seit den Tagen von Jean Monnet und Robert Schuman, weil er auf der strikten Einhaltung mehrseitiger Verträge der Staaten, auf der unbedingten Gleichberechtigung aller, auch kleinerer Staaten, auf strenger Beachtung eines fairen Wettbewerbs und auf praktisch unbegrenzter unternehmerischer Freiheit beruht. Einer Freiheit, die durch unabhängige Gerichte, unabhängige Medien und eine kritische Öffentlichkeit, auch durch Verbände, beschützt wird. Der Grund all dieser komplexen Bemühungen ist sehr einfach: Wir wissen heute, dass kein europäischer Nationalstaat allein, heiße er nun Estland, Ungarn oder Deutschland, die Rahmenbedingungen aufrechterhalten kann, mit denen wir auch künftig leben und arbeiten wollen. Diese Union der Freiheit und des Rechts, die das alte Nullsummenspiel mächtiger, „starker“ Staaten durch den bewussten allseitigen Verzicht auf Souveränität zugunsten einer übernationalen Gemeinschaft überwunden hat, ist nichts weniger als das ökonomisch und politisch erfolgreichste Experiment der Geschichte seit der Besiedlung unseres Kontinents durch den homo georgicus vor 1,8 Millionen Jahren. Ein Wunder.
Wer sich in Deutschlands Unternehmen umhört, spürt vor allem, wie selbstverständlich wir dieses Wunder inzwischen finden. Dass es eine eigenständige „deutsche“ Volkswirtschaft spätestens seit der friedlichen Wiedervereinigung Europas im Grunde nicht mehr gibt, kommt uns erstaunlicherweise dennoch kaum in den Sinn. Dabei wird etwa das deutsche Vorzeigeprodukt par excellence – das Auto – heutzutage zu 74 Prozent außerhalb Deutschlands produziert, unter anderem in Rumänien, Serbien, in Ungarn und der Slowakei. Und genau das hat unser Land nicht etwa ärmer, sondern reicher gemacht. Weil Unternehmen aus Deutschland höhere Wertschöpfungsanteile in ihren Nachbarländern erwirtschaften als Unternehmen aus praktisch jedem anderen Land, ist der Wohlstand hierzulande, und übrigens auch das Geld unseres oft zitierten Steuerzahlers, eben zu einem besonders großen Teil auch von Polen, Tschechen und anderen Europäern verdient.
In unserer Wahrnehmung spielt das eine untergeordnete Rolle, weil neue Produktionsstandorte zuletzt vor allem in China, Brasilien und Mexiko und in neuen Wachstumsmärkten wie Indonesien und Thailand entstanden sind. Die europäischen Nachbarländer, Mitglieder der Euro-Zone oder nicht, gelten den meisten Unternehmen mit Hauptsitz in Deutschland dagegen schlicht als Inland. Das empfinden unsere Unternehmer so ohne jeden politischen Hintergedanken, ohne hegemoniales Bewusstsein. Verblüffend der Gegensatz zwischen der völligen Selbstverständlichkeit, die uns im unternehmerischen Zusammenhang dieser durch und durch friedlich und gänzlich unimperial gemeinte Satz bedeutet, und dem Unwohlsein, den er, auf seine politischen Konsequenzen betrachtet, bei vielen Deutschen auslösen würde. Die Triumphgefühle des Wir-sind-wieder-wer, die deutschen Politikern so gern unterstellt werden, klingen wohl auch deshalb wenig plausibel, weil sie deutschen Unternehmern ebenso vollständig abgehen. Die betrachten Europa als Inland und gehen davon aus, dass belgische und slowenische Unternehmer das genauso tun. Für Werke und Märkte in den USA, Russland oder China haben wir oft direkte Ansprechpartner auf Ebene der Unternehmensleitungen – für Polen erschiene uns das so unnötig wie für Hessen.
In der Tschechischen Republik wird mit Leidenschaft über die Frage diskutiert, warum so viele Tschechen ihre Heimat als 17. Bundesland Deutschlands wahrnehmen und dies gleichzeitig in Deutschland selbst niemand auch nur ansatzweise zur Kenntnis nimmt. Unternehmen mit Hauptsitz in Deutschland sind mit ihren Tochtergesellschaften und Zulieferern für ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts der Slowakei, ein Viertel desjenigen Ungarns verantwortlich. 8 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung Tschechiens und 7 Prozent der von Ungarn werden allein durch Nachfrage nach Vorleistungsgütern aus dem deutschen verarbeitenden Gewerbe erzielt – so viel wie nirgendwo sonst. Nirgendwo in Europa sind andererseits so viele Arbeitsplätze von der deutschen Wirtschaft und ihren Importbedürfnissen abhängig wie in Polen. Dass unsere deutsche Energiewende die Wettbewerbsfähigkeit solcher Mitgliedstaaten als Industriestandorte unmittelbar berührt, fällt uns dennoch nicht einmal auf.
Für tausende deutsche Unternehmen hat mit der Eröffnung von Produktionsmöglichkeiten in Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn vor 25 Jahren der Wandel vom regionalen Anbieter, der als Investor kaum über Ostwestfalen oder die Schwäbische Alb hinausblickte, zum weltweit agierenden Global Player erst begonnen. Ungern werden wir daran erinnert. Doch auch wenn es unserem Selbstbild nicht gefallen mag: Den außergewöhnlichen Wohlstand, den Deutschland gerade in den vergangenen 25 Jahren erreicht hat, haben wir nicht dem Umstand zu verdanken, dass Niedersachsen härter arbeiteten als Lothringer, dass Sachsen erfindungsreicher als Katalanen oder Schwaben disziplinierter als Litauer seien, sondern vor allem solchen Dingen, für die wir, zumal wir Heutigen, herzlich wenig können: unserer geografischen Lage mit guten Häfen und mit besonders vielen Nachbarn, der schieren Größe der hier lebenden Bevölkerung, übrigens gleich welcher Herkunft – und der europäischen Integration in einem von uns aus ideal zu bedienenden Binnenmarkt und einer Währung mit einem besonders vorteilhaften Außenwert. Es gibt noch eine deutsche Sozialversicherungsgemeinschaft, aber es gibt keine „deutsche“ Wirtschaft mehr, die benachbarte Volkswirtschaften zu nationalen Konkurrenten oder aber zu abhängigen Klienten gemacht hätte: Unternehmen aus Deutschland sind so über EU-Grenzen verflochten, dass sie im Binnenmarkt aufgehen. Das war die Idealvorstellung der Väter der europäischen Einigung. Sie ist wahr geworden.
Zum ersten Mal in ihrem Bestand gefährdet
Was sagt nun eine ehrliche Risikoanalyse? Diese Grundlage unseres unternehmerischen Erfolgs ist in ihrem Bestand gefährdet. Erstmals seit 1951 droht das Ende der Europäischen Union, wie wir sie kennen. Als Kaufmann lernt man zumindest dies: Risiken verschwinden nicht dadurch, dass man sie nicht benennt – so wenig, wie Kinder unsichtbar werden, wenn sie sich die Hände vor die Augen halten. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren oft zitierten, aber wohl selten verstandenen Satz „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ äußerte, hat sie eben vor allem dies gesagt, und völlig zu Recht: Europa kann scheitern. Erstmals ist unsere Union heute Risiken ausgesetzt, die unwiederbringlich und vollständig die Grundlagen unserer Arbeit als Unternehmer verändern können. Uns muss es darum gehen, gerade aus der Perspektive der Einheit der west- und osteuropäischen Teile unseres bedrohten Heimatmarkts zu fragen, was zu tun ist.
Die Gefahrenquellen kommen dabei ja keineswegs nur aus einer Richtung. Von vielen sind wir gleichzeitig unmittelbar berührt: Erstens, die Euro-Krise, die sich inzwischen wesentlich als Wachstumskrise zeigt und neben Deutschland, Frankreich oder Italien ja auch Slowenien, die Slowakei, Lettland und Litauen betrifft, aber mittelbar eben auch alle anderen. Zweitens der Kampf der Ukrainer um die endgültige Überwindung eines vollständig diskreditierten Erpresserstaats mitten in Europa. Gleichzeitig Krieg, nicht irgendwo, sondern gegen ebendiese Ukraine, ein Land von 45 Millionen Europäern. Drittens schließlich und vor allem ein erneut aufkeimender Nationalismus und Chauvinismus – und das keineswegs nur in den am wenigsten wohlhabenden Regionen der Union. Neben diesen drei Risiken, die unsere Region besonders berühren, treten noch ausreichend weitere Herausforderungen: Im Inneren die Energiewende und die Frage nach dem sicheren Zugang zu natürlichen Ressourcen und bezahlbarem Strom; die Diskussion um das euro-atlantische Freihandelsabkommen, das polnische und ungarische Unternehmer nicht anders berührt als deutsche oder französische. Im Äußeren die vollständig ungelöste Frage, wie Europa dauerhaft mit dem erwartbaren Zustrom von Millionen Menschen aus ärmeren oder von Krieg und Hoffnungslosigkeit bedrohten Teilen der Welt umgehen soll; der Terrorismus als Bedrohung der Sicherheit auch unserer Wirtschaft in der EU; das relativ sinkende Gewicht Europas im Verhältnis zu Ostasien und so fort. Das ist alles ein bisschen viel auf einmal, und wenn das schon unsere Politiker sagen, ist nachvollziehbar, dass sich auch mancher Unternehmer überfordert fühlt.
Verstehen wir überhaupt, worum es geht?
Wir leben dabei in Deutschland – und das mag der Grund dafür sein, dass wir viel kostbare Zeit und Energie auf die falschen Debatten und auf rein symbolische Reaktionen vergeuden – wie im Auge eines Orkans. Da ist es bekanntlich gespenstisch still, man könnte meinen, alles sei friedlich, aber wir sehen überall um uns herum: etwas stimmt nicht. Vielen unserer eigenen Unternehmen geht es blendend, es ist uns fast peinlich. Denn wir spüren deutlich, dass vor allem an der Art, wie wir Deutschen uns bisher aus der Euro-Affäre ziehen, etwas faul ist. Wenn vor wenigen Monaten im reichsten Land der Erde ganz normale Bürger, Männer mit Hut und ältere Damen in Funktionskleidung, plötzlich ein paar Schreihälsen auf die Straßen folgten, lag das wohl vor allem an dem Unwohlsein, dass sie unsere eigenen Maßstäbe nicht mehr zu verstehen glaubten. Mancher fragte dann in einem entsetzlichen Kurzschluss: Wenn wir, wir! das Recht nicht mehr achten, Verträge biegen und brechen, ist dann nicht alles erlaubt? Welche Regeln sollen dann überhaupt noch gelten?
Die Demokratie selbst gerät in ernste Gefahr, wenn Bürger der Union glauben, dass Finanzinstitutionen oder Regierungsmitglieder anderer Länder offenbar ohne überzeugende Rechtsgrundlage ihren gewählten Vertretern Anweisungen erteilen, Entscheidungen über ihr Leben treffen, weil Not nun einmal kein Gebot kenne. Nur schemenhaft erkennen wir, was wir anderen Unionsbürgern dabei gleichzeitig zumuten: Es stand zu lesen, dass die Einsparungen, die etwa Griechenland allein im ersten Jahr der Rettungsmaßnahmen im öffentlichen Dienst und bei Sozialleistungen vorgenommen hat (ein Land, dessen Krise wegen seiner Bedeutung als Exportziel übrigens gerade auch osteuropäische Unternehmen trifft), dass diese Einsparungen, im Verhältnis auf Deutschland angewendet, Kürzungen von 320 Milliarden Euro bedeutet hätten. Mehr als eine Bankfiliale würde da wohl hier brennen.
Die in weiten Teilen unwürdige Debatte in Deutschland über die griechischen Staatsschulden nahm andererseits auch auffallend befriedigt zur Kenntnis, dass gerade osteuropäische Mitglieder des Euro-Raums wütend auf Hinweise aus Griechenland reagierten, man könne von ihnen doch nicht erwarten, auf das Lebenshaltungsniveau von Ländern wie Lettland zu fallen. Ein nüchterner Blick auf diese beiden Länder hätte leicht die Unsinnigkeit des so beliebten Vergleichs erkennen lassen: hier die erfolgreichen Einschnitte der still leidenden Letten, da das ungebremst pralle hellenische Leben im EU-Fördersumpf. Die lettische Gesellschaft hatte in ihrer schwersten Wirtschaftskrise seit der Unabhängigkeit keine populäre Beamtenkaste, die für den Schutz ihrer Privilegien öffentliche Unterstützung gefunden hätte. Andere Elitenangehörige lebten noch von weitverbreiteter Subsistenzwirtschaft aus Sowjetzeiten. Ein massives Investitionsprogramm, hohe Sozialleistungen und den in- und ausländischen Banken staatlicherseits aufgezwungene Stundungen von Verbraucherkrediten etwa für Wohneigentum verhinderten soziale Spannungen. Für Lettland stand das Ausscheiden aus dem Euro-Raum nicht zur Debatte, dessen Verteidigung um jeden Preis („whatever it takes“) später EZB-Präsident Mario Draghi zur Unterbindung der Spekulation gegen einzelne seiner Mitgliedstaaten erklären musste (eine Erklärung, die im Fall des Ausscheidens Griechenlands als unrichtig erkennbar werden würde).
So wie in diesem Beispiel geht auch sonst manches durcheinander. Auch viele Gutwillige verstehen nicht mehr die Maßstäbe. Über alle Mitgliedstaaten hinweg, über reiche und arme, langjährige und jüngere Mitglieder der Union reagieren Menschen auf den Eindruck der Überforderung nicht, wie es der Kaufmann in seinem Geschäft tun würde: Komplexität reduzieren durch Analyse und Gewichtung von Risiken, Gewichtung von Interessen und Setzen von Prioritäten bei den Gegenmaßnahmen. Sie reagieren mit dem hässlichsten Reduzierer von Komplexität, dem Ressentiment. Da ersetzen Feindbilder die nüchterne Betrachtung der Interessen und niemand kann die Dynamik kontrollieren, die allzu einfache Antworten auf komplizierte Fragen in Gang setzen können. Ein nüchterner Kaufmann mag auf das Risiko hinweisen, dass die fehlende Verteidigung des eigenen Geschäftsmodells gegen überschaubare, beherrschbare Bedrohungen nur mehr und größere Bedrohungen auf den Plan rufen kann, bis eine Dynamik – für die EU etwa eine aus Grexit, Brexit, einem Scheitern der ukrainischen Reformen, einem „illiberalen“ Ungarn, einem von Rechtsextremen regierten Frankreich – entsteht, an deren Ende plötzlich alles verloren sein kann, was wir bislang für die selbstverständlichen Grundlagen unseres europäischen Modells hielten. Er erntet dann oft den wahlweise mit höflicher Amüsiertheit oder offenem Spott angebrachten Hinweis: „Ich glaube nicht, dass das passiert.“ Kaufleute reagieren indes irritiert, wenn sie Einschätzungen zu Risiken für die vitalen, unverzichtbaren Grundlagen ihres eigenen Geschäftsmodells hören, die mit „Ich glaube“ beginnen. Jeder Vorstandsassistent, der auf solche Glaubenssätze seine Risikoanalyse stützte, würde vor die Tür gesetzt.
Unbekanntes Osteuropa
Diese Gefahr berührt Mittelosteuropa noch unmittelbarer, weil sie mit einem anderen gewaltigen Defizit zusammentrifft: Die Osterweiterung der EU, deren Beginn vor zehn Jahren wir 2014 feierten und die heute von den neuen Gegnern der EU zu unserem erheblichen Erstaunen als ein aggressiver, sozusagen neokolonialer Akt angefeindet wird, ist in Wahrheit bei uns bis heute auch nicht ansatzweise in ihren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen für die beigetretenen Staaten und für die Union insgesamt verstanden. Vor allem wir deutschen Kaufleute und Ingenieure haben uns den Zugang zu diesem Teil Europas, seinen Arbeitnehmern und Kunden, verschafft. Dennoch sind heute, wenn wir ehrlich sind, viele von uns empfänglich für die Frage, ob es denn klug war, den so genannten Einflussbereich der EU überhaupt ausdehnen zu wollen. Wer aber in der Union einen expansiven Machtapparat sieht, einen angeblichen Moloch, der in Wahrheit über weniger Beamte gebietet als die Stadtverwaltung München, versteht nicht, was unsere Union eigentlich ist. Vor allem machen wir uns aber, wenn wir solchen Fragen auf den Leim gehen, offenbar auch nicht ansatzweise bewusst, wie diese Infragestellung unseres europäischen Einigungsprojekts in den Ohren unserer Geschäftspartner und eigenen Mitarbeiter in Polen und Rumänien, in Kroatien und der Slowakei klingen muss; in den Ohren der mutigen Menschen, die in Danzig und Budapest, in Prag und Riga unsere Freiheit und Einheit erkämpft haben. Und eigentlich eben auch in Dresden.
Wir alle müssen helfen, die Ignoranz zu überwinden. Über Osteuropa, dieses Gebiet, das ja in westeuropäischen Geisteszentren im 18. Jahrhundert künstlich und durchweg frei von eigener Ortskenntnis definiert wurde, ist unser Unwissen bis heute beschämend. Der große polnische Dichter Cesław Miłosz hat gesagt: „In Westeuropa genügt es, aus den weitgehend unbereisten Gebieten im Osten und Norden zu kommen, um als Besucher aus Septentrion angesehen zu werden, über das nur eines bekannt ist: Es ist kalt.“ Und in Wahrheit ist von den vielen Definitionen von Osteuropa, die ja nur Westeuropäer brauchen, die einzig ehrliche diese: der Teil Europas, in dem man noch nie war. Das Europa, über das man nichts wissen muss. Es ist derselbe Geist, den der unselige Neville Chamberlain in die berüchtigten Worte fasste: „A quarrel in a far-away country among people of whom we know nothing.“ Beschämend und gefährlich ist es, welch abgrundtiefes Unwissen wir über die Geschichte und gegenwärtige Lage der östlichen Teile unseres Heimatmarkts so oft zur Schau stellen. Lange glaubte man, von der DDR habe im vereinigten Deutschland nur das Ampelmännchen überlebt. Heute wissen wir: Erhalten hat sich auch die Vorstellung, dass nur in Moskau verlässliche Freunde wohnen; das unzuverlässige „Zwischeneuropa“ dagegen stört für viele bis heute die Harmonie. Dieses Gefühl wirkt in Politik, Medien und Wirtschaft gesamtdeutsch nach. Wie auf Knopfdruck reagieren so auch heute manche deutschen Politiker beim Stichwort Osteuropa nicht etwa mit einem Bericht von ihrem letzten Urlaub in Rumänien (denn den machen sie nie) oder ihrem Austausch mit tschechischen Amtskollegen (denn den haben sie kaum), sondern mit einem Bekenntnis zur Wichtigkeit deutsch-russischer Verständigung für Frieden und Wohlstand in Europa. Was räumlich dazwischen liegt, wird gerade von denen, die zu Zeiten des Kalten Krieges sozialisiert wurden, noch heute ohne weiteres einer Sphäre zugeschlagen, die mangels eigener Befassung jedenfalls nicht unsere sein kann.
Unsere vollständig fehlende Auseinandersetzung mit dem, was seit 1991 in Osteuropa passiert ist, und zwar in Polen und den anderen mittelosteuropäischen Staaten ebenso wie in Russland oder Georgien, erklärt auch den Erfolg, den lange schon verrentete Ex-Journalisten und Ex-Politiker in Deutschland seit 2014 als Autoren und Talkshowgäste haben: Wie Kryokonservierte nach dem Abtauen glauben sie das heutige Russland von Gorbatschow und dem jüngeren Jelzin regiert; mit Entspannungsformeln von 1973 wollen sie den Weltfrieden retten. Neue Konservative, oft ältere gutsituierte Männer aus Westdeutschland, gehen unappetitliche Allianzen mit SED-Altkadern ein und vermuten im Bund des hart arbeitenden deutschen Ingenieurs mit der Tiefe der russischen Seele und der Weite des russischen Raumes gewaltige Möglichkeiten für den menschlichen Fortschritt – Möglichkeiten, die leider durch den amerikanischen Plastikkapitalismus und die störenden „Kleinvölker“ zwischen Deutschen und Russen noch stets sabotiert wurden. Regelrecht verärgert wischt man den Hinweis beiseite, dass in dem Aufstieg Polens zum führenden Shared-Services-Standort Europas, zum europäischen Wachstumsstar trotz allseitiger Finanzkrise, entscheidenden Meinungsführer der EU und mit weitem Abstand (auch vor dem um ein Vielfaches größeren Russland) zum wichtigsten Wirtschaftspartner Deutschlands in der Region das wahre Wunder der Geschichte liegt – ein weiteres Wunder nach dem verbrecherischen Vernichtungskrieg, den wir Deutschen vor gerade zwei Generationen gegen Polen geführt haben. Von diesem Kapitel ihrer Geschichte wissen die sonst so selbstkritisch-aufgeklärten Deutschen heute eigenartig wenig.
So unbedarft geht es im Grunde mit jedem Land östlich von uns. Aber woher soll es auch kommen? Was lernen unsere Kinder über litauische oder tschechische Geschichte, über die große ungarische Literatur? Wie steht es bei uns mit dem Unterricht slawischer Sprachen? Welches Gewicht messen wir unserem Jugendaustausch mit Frankreich und den USA bei, wieviel dem mit Polen? Die Mittelstreichungen für Slawistik-Lehrstühle an deutschen Universitäten sind nur ein Beispiel für den nicht nur wissenschaftspolitisch skandalösen Umgang mit dem östlichen Teil unseres europäischen Heimatmarkts. Wissen gilt bei alldem allerdings eben nicht als Voraussetzung für klare Meinungen über die östlichen Nachbarländer, im Gegenteil: Erschreckend war es 2014 mitanzusehen, wie viele der eilfertigen selbsternannten deutschen Kenner der neuen Geopolitik ihre vollständige Unkenntnis von den tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort regelrecht mit Stolz vor sich hertrugen. So, als schade zu viel Faktenwissen geradezu beim Blick auf das angebliche Grand Design.
Täuschen wir uns nicht: Unser gegenwärtiger Umgang mit den genannten Risiken, mit den wirtschaftlichen und politischen Erwartungen und Herausforderungen vor allem Osteuropas birgt die große Gefahr, dass wir uns des historischen Geschenks, das vor rund 25 Jahren die Überwindung der Teilung unseres Kontinents bedeutete, nachträglich als unwürdig erweisen. Das kann unabsehbare Folgen für uns selbst haben. Unsere europäische Heimat weigert sich offenbar noch immer, um nochmals Miłosz zu zitieren, sich selbst als Ganzes zu begreifen. Es stimmt: Wir Deutschen vor allem waren es, die für die EU-Osterweiterung warben, wohl zum Teil auch mit der Vorstellung, wir beglichen damit eine historische Schuld an der bisherigen gewaltsamen Teilung des Kontinents. Eine nicht eben hilfreiche Vorstellung, weil sie zu der Annahme verleitet, damit sei es dann auch gut, weitere Veränderungen bei uns selbst seien nicht erforderlich. Wir müssen aber mehr tun, und wir können das auch. Denn ob wir unser europäisches Geschäfts- und Gesellschaftsmodell insgesamt erhalten – und um nicht weniger geht es –, hängt nicht vom Schicksal oder von dunklen Mächten ab. Sondern von uns.
Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
Ja, unsere ökonomische und gesellschaftliche Geschäftsgrundlage hat Feinde, innere und äußere; zum ersten Mal seit 1951, als das europäische Projekt begann, tritt das deutlich hervor. Damit meine ich nicht die, die darüber streiten, welcher Weg die Union langfristig am erfolgreichsten macht: Die Vereinigten Staaten von Europa, die „immer engere“ Verbindung, die Vollendung der Währungsunion durch eine Politische Union oder aber ein starker Binnenmarkt, wenige, aber strikt beachtete Regeln und viel Subsidiarität (was sich im Übrigen nicht ausschließen muss). Wir müssen uns dieser Frage stellen und sie beantworten, wir haben auch die Kraft dazu. Ich meine vielmehr die Nationalisten, die den (meist imaginierten) starken Staat des 19. Jahrhunderts zurückwünschen, seien sie nun Ataka-Verehrer eines angeblich heiligen Bulgarentums, vulgäre Antisemiten und Neonazis wie Jobbik und Goldene Morgenröte, französische Rassisten oder britische Neoimperialisten, linke Verfechter des ganz starken Nationalstaats ebenso wie die neokonservativen Spießbürger, die sich Deutschland als orts- und geschichtsloses Friedensparadies erträumen. Egal ob hasserfüllt oder ganz bieder: Das Gift des Nationalismus, das von unserer Union wie keiner Institution vor ihr bekämpft – und besiegt! – worden war, dieses Gift wird uns heute wieder ins Ohr geträufelt. Karl Popper, der hellsichtigste Verteidiger unserer offenen Gesellschaft, hat schon vor der Zeit gewusst, dass ein solcher Sieg keine Ewigkeitsgarantie besitzen würde: „Je eher wir zum heroischen Zeitalter der Stammesgenossenschaft zurückkehren, desto sicherer landen wir bei Inquisition, Geheimpolizei und einem romantisierten Gangstertum.“
Reformen unter erschwerten Bedingungen
Diese Art von Gangstertum ringt in Europa noch immer um Einfluss und Kontrolle. Deutsche Unternehmer und der Osteuropaverein als ihr Verband ermutigen genau deshalb immer wieder diejenigen, die in der EU und in den ihr als Beitrittskandidaten und Assoziierungspartner eng verbundenen osteuropäischen Staaten für die Entwicklung von Rechtsstaat, Freiheit und arbeitsteiliger Wirtschaft und Gesellschaft kämpfen. Und sie sind genau deshalb an der Seite auch derer, die auf dem Maidan ein kleptokratisches System zu Fall gebracht haben, das neben dem eigenen Volk eben auch deutsche Investoren systematisch bestohlen und betrogen hat. Eine junge Regierung, ein in Teilen junges Parlament kämpfen heute in Kiew für die offene Gesellschaft, für die Rahmenbedingungen, die auch unsere Unternehmen dort brauchen.
Die Ukraine, 1991 noch wirtschaftlich gleichauf mit Polen, galt bis 2014 als das mit Abstand am schlechtesten regierte Land des früheren RGW-Raums. Heute verteidigt sich die Ukraine nicht nur in einem Krieg, der ihr eine Region des eigenen Landes unzugänglich gemacht hat, die bislang für 10 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung stand, sondern auch gegen ein bei uns kaum zur Kenntnis genommenes Wirtschaftsembargo des bislang wichtigsten Handelspartners Russland. Unter diesen erschwerten Bedingungen erfüllt die Ukraine die ihr von der EU gemachten ökonomischen Auflagen mit Mühen, aber doch alles in allem erstaunlich gut: Still erduldeten die Bürger die von der EU geforderte Vervierfachung der Gaspreise, die korruptionsanfälligen Kohlesubventionen wurden gestrichen, oligarchische Strukturen wurden erstmals ansatzweise in die Schranken gewiesen. Die Regierenden machen Fehler, wie sollte es anders sein. Deshalb müssen wir helfen, und zwar nicht ein bisschen, damit wir uns besser fühlen, sondern in genau dem Umfang, der erforderlich ist, damit die Aufgabe gelingt. Das nicht zu tun, ist für Europa keine Option. Es ist für den klugen Unternehmer, der Risikomanagement betreibt, keine Option.
Diesen nüchternen Kaufmann erstaunt, wie wir stattdessen mit der Gefährdung umgehen: Wir verschwenden viel Energie auf die Diskussion über Sanktionen, tun zugleich aber alles, um die Adressaten der Botschaft, die solche Sanktionen senden sollen, keinesfalls ernsthaft zu verärgern. Wir sehen uns ganz als Diplomaten, spielen das Minsker Spiel, wir vermeiden sorgfältig jeden Eindruck, Partei zu sein. Die offen zutage liegenden Aufgaben der Ukraine selbst: den umgehenden Verkauf wesentlicher Betriebe und Infrastruktureinrichtungen an erfahrene europäische Unternehmen, die Schaffung eines transparenten öffentlichen Vergabewesens, den vollständigen Neuaufbau der Justiz, des Zolls und Grenzschutzes und der Finanzverwaltung – all das unterstützen wir eher symbolisch, denn wir halten die Aufgabe für sehr schwierig. Es sind aber nur unsere Zweifel am Gelingen, die das Gelingen unwahrscheinlich machen. Bei einem meiner Besuche in Kiew sagte man mir, die Bundesregierung habe immerhin zwei Beamte des Bundesfinanzministeriums entsandt, davon einer pensioniert, tadellose Leute bestimmt. Mein verblüffter Hinweis, ich hoffte eigentlich nicht auf zwei, sondern vielleicht auf 2000 Beamte, wurde mit schallendem Gelächter quittiert. Als Unternehmer und Risikomanager überrascht mich die Reaktion. Wenn wir die Gewalt beenden und weitere verhindern wollen, werden uns keine Symbolhandlungen dorthin bringen, sondern nur dieses eine: der vollständige Erfolg der Reformbemühungen dieses europäischen Landes. Dafür können wir ohne weiteres sorgen, wir haben auch die Kraft dafür.
Wenn diese Aufgabe nicht gelingt, und wenn es uns damit nicht gelingt, die Union zu erhalten und in Teilen wiederherzustellen als das, was sie sein muss: als Verrechtlichungsgemeinschaft, werden ihre Mechanismen unwiederbringlich verlorengehen. Nullsummenzyniker, so genannte Real- und Machtpolitiker und andere, die auf das unentrinnbare Recht des Stärkeren setzen, werden auf Dauer wieder die Oberhand gewinnen, indem sie Glieder der Union jederzeit gegeneinander ausspielen, einzelne herausbrechen und ganze Staaten wie Mitglieder der erwähnten Clans und Stammesgenossenschaften führen. Dabei haben sie dem Wunder, das bei allen aktuellen Problemen und Fehlern der jüngeren Vergangenheit in diesem europäischen Modell liegt, nichts, aber auch gar nichts Attraktives entgegenzusetzen. Was macht ein Geschäftsmodell, eine ganze Wirtschaftsordnung denn anziehend? In der Logik eines Vito Corleone wäre es wohl ihr Erpresserpotenzial, die Möglichkeit, Abhängigkeiten zu schaffen und für die eigenen Ziele auszunutzen, die Durchsetzung der Ordnung durch Drohung und notfalls Gewalt. Im Denken eines Unternehmers der Europäischen Union, der seinen Wohlstand dem 70-jährigen Funktionieren eben des europäischen Modells verdankt, sind es gerade die positiven Anreize: seine Freiheit, Wachsstumsstärke und Innovationskraft, die Belohnung von Leistung, die starke Verflechtung über Ländergrenzen, die Lauterkeit des Wettbewerbs, die Herrschaft des Rechts, der soziale Ausgleich und Zusammenhalt, den es schafft, die kulturelle Vielfalt, die es ermöglicht. Wenn einer genau diese Anziehungskraft als Bedrohung empfindet – wie kann man dem in der Sache entgegenkommen? Den Unternehmern nur die Hälfte der Freiheiten geben? Rechtsstaat nur ein bisschen? Und bis zu welcher geografischen Linie denn?
Interessen oder Werte?
Es ist paradox: Deutschland ist offenbar zu reich, als dass wir uns vorstellen könnten, ernsthafte Opfer für die Verteidigung unserer Geschäftsgrundlage zu erbringen.
Seufzend räumt manch einer ein, dass die Untergrabung des europäischen Projekts bei einem Scheitern der ukrainischen Reformbemühungen um ein Vielfaches schwerer wiegen würde als beim Scheitern Griechenlands – um hinzuzufügen, dass niemand ernsthaft von unseren Politikern erwarten könne, diese bittere Wahrheit den Bürgern auch zu eröffnen. So ergreift man dankbar jeden argumentativen Strohhalm. Wir bleiben undeutlich in unserer Reaktion auf die Bedrohung und wollen lieber denen glauben, die uns erklären, dass unser unsicheres Reden von europäischen „Werten“ in Wahrheit leere Worte ohne innere Überzeugung seien und es nun, nach Jahren im weltpolitischen Biosphärenreservat namens Old Europe, Zeit werde, der harten Wirklichkeit wieder ins Auge zu blicken: Nicht von Werten, sondern von Interessen werde die Welt da draußen regiert, und so sei nun einmal anzuerkennen, dass ein großes Land (dessen Wirtschaftspolitik es allerdings in die ökonomische und soziale Sackgasse geführt hat und junge Menschen und Kapital in Scharen in die Emigration treibt) ein Interesse daran habe, seine Nachbarstaaten als Einfluss- und Pufferzone gegen das Näherrücken eines attraktiven Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells zu sichern. Manch kluger und gebildeter Mensch, darunter auch deutsche Politiker und Kaufleute, stellt in seinem Verständnis für dieses Bedrohungsgefühl dann gern höhnisch die Frage, was wohl die USA täten, würde Mexiko sich mit China verbünden. Dass die Mexikaner dazu, aus guten Gründen, nicht die geringste Lust verspüren, spielt für das Argument offenbar keine Rolle. Nur ist genau das der springende Punkt. Die für diese Sicht der Realitäten paradigmatische, scheinbar geschäftsmäßige, weil so interessengeleitet nüchtern klingende Antwort ist die, die der Grand Old Man der Realpolitik, Henry Kissinger, ganz offen gab, als er auf die ungläubige Nachfrage, man könne doch den Ukrainern, einem Volk von 45 Millionen Europäern, nicht die Wahl verweigern, in welcher Gesellschaftsordnung sie leben wollten, ein schlichtes Why not? erwiderte. Und genau dies wollten ja auch diejenigen sagen, die all ihre Energie auf die Verhinderung, dann auf die Beseitigung der EU-Sanktionen gegen Russland richteten. Auf die Frage, was bitte die EU zur Verteidigung des Rechts ihrer Mitgliedstaaten, ihrer Kandidaten und Assoziierungspartner, was sie zur Verteidigung der ukrainischen Transformationsbemühungen anderes unternehmen solle, hätte ihre einzig ehrliche Antwort gelautet: nichts. Rein gar nichts. Dankbar greift da manch einer, um das dröhnende Schweigen zu übertönen, auch das Wort auf von der „Wirtschaft, die Brücken baut“ – und kleistert mit Phrasen zu, dass es nicht aufs Reden, sondern auf den Inhalt ankommt.
Wer angesichts dieser Auseinandersetzung eine Dichotomie von werte- und interessengeleiteter Politik erkennen will, sieht nicht, worin unsere ökonomischen Interessen liegen. Unternehmen aus Deutschland haben ein überragendes, gegenüber allen Zielen für andere Regionen unbedingt vorrangiges Interesse daran, dass die europäische Integration gesichert und ausgebaut wird. Das ist keine Ideologie, sondern nüchterne unternehmerische Erfolgsrechnung. Angesichts der wachsenden Bedeutung der asiatischen, amerikanischen und übrigens auch afrikanischen Märkte wird Europa nur dann die Heimat vieler Unternehmen bleiben können, wenn das europäische Projekt weitergeht und die Kraft hat, äußere Gegner abzuwehren und die notwendigen Verbesserungen im Innern anzugehen – eine starke, stabile Währungsunion mit einem dem Ideal zumindest näherkommenden Währungsraum, eine Energieunion für Europas Industriestaaten, ein Raum einheitlicher Standards von Rechtsstaat, fairem Wettbewerb und kritischer Öffentlichkeit, die ihn beschützt. Das ist das überragende betriebswirtschaftliche Interesse der Unternehmen, die von dem Zugang zu diesem einen Markt, aus dem sie kommen, elementar abhängen.
Mit diesem Interesse ist es unbedingt vereinbar, Investitionen und Handel mit Staaten außerhalb dieses Raumes zu entwickeln, die selbst nicht diesen Standards folgen wollen und dennoch gute Geschäftschancen bieten – in Russland zumal, aber ebenso in China oder im Nahen Osten. Wirtschaft hat keinen Missionsauftrag. Wo Wirtschaft und politische Führung Hand in Hand arbeiten, ist der Weg heraus aus der offenen Gesellschaft, der Weg in den Totalitarismus nie weit. Unternehmer sind nicht dazu da, einer politischen Agenda zu dienen. Wenn wir aus der Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU und Russland irgendetwas lernen können, dann wohl dies: Es war naiv, anzunehmen, man könne einem großen Land eine arbeitsteilige Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung von außen vermitteln, wenn dem in Wahrheit kein innerer Wunsch der dort lebenden Menschen entspricht; man könne durch Reden, Diplomatie, vor allem aber durch die „Wirtschaft, die Brücken baut“, sanften Druck auf den inneren Wandel einer Gesellschaft ausüben und solche Staaten nach dem eigenen Bilde formen. Wirtschaft muss hinsichtlich solcher Staaten nur eines: in dem gegebenen Rahmen unserer eigenen Gesetze und unserer Vorstellungen von guter Unternehmensführung so gewinnträchtige Geschäfte abschließen und so sicheren Zugang zu natürlichen Ressourcen und Produktionskapazitäten erhalten wie irgend möglich, um den Bestand und das Wachstum unserer europäischen Unternehmen auf unserem Heimatmarkt und im globalen Wettbewerb zu sichern.
Klares Bekenntnis zu unseren Interessen
Wer aber Demütigungslegenden bemüht und behauptet, die EU oder sonst irgendjemand habe ein Interesse daran, den Nachbarn Russland kleinzuhalten oder zu erniedrigen, redet vor allem auch aus schlichter kaufmännischer Logik Unsinn und sagt zweifellos bewusst die Unwahrheit. Die EU ist gemeinsam mit ihren Kandidaten und Assoziierungspartnern vorrangig an der Sicherung des eigenen Heimatmarkts interessiert, zugleich aber auch daran, dass die ihr am nächsten liegenden Staaten wie Russland wirtschaftlich florieren und politisch stabil sind. Nur das lässt unsere eigenen Unternehmen von den logistischen Vorteilen naher Produktionsstandorte und Absatzmärkte und von (eben auch aus ökonomischer Sicht benötigten) sicheren Außengrenzen für den europäischen Wirtschaftsraum profitieren. Als Kaufleute wollen wir ein ökonomisch starkes, politisch stabiles Russland. Jedes deutsche Unternehmen, das Chancen für Handel und Investitionen im gesetzlich gegebenen Rahmen in Russland sieht, verdient unsere volle Unterstützung.
In einer sonst destruktiv und hochemotional geführten Debatte haben wir so die Möglichkeit, klare Linien zu ziehen und gleichzeitig Chancen für ein allseits nutzbringendes Nachbarschaftsleben zu zeigen: Mit dem alle anderen überragenden Interesse an der Sicherung unseres Heimatmarkts ist es unvereinbar, das eigene Geschäftsmodell Abhängigkeiten und Erpressungsversuchen auszusetzen, indem ein dritter Staat, der der erfolgreichen Integration des Heimatmarkts EU feindselig gegenübersteht, gleichzeitig zu einem maßgeblichen Faktor für die innere Organisation und weitere Entwicklung dieses Heimatmarkts wird. Hier hilft nur die klare Artikulierung der eigenen Interessen und ein unmissverständliches Bekenntnis dazu, dass wir alles Erforderliche tun werden, um diese Interessen auch gegen Widerstände durchzusetzen. Aber dabei müssen wir eben nicht stehenbleiben: Für ein mit dieser Maßgabe mögliches friedliches Nebeneinander, das getragen ist von wechselseitigem Respekt für die jeweils unterschiedlichen Wertvorstellungen, bietet sich mit der Eurasischen Wirtschaftsunion der EU ein Gegenüber, das ernstgenommen werden sollte als eine große Chance, zwei benachbarte Wirtschaftsräume durch Handel und Investitionen beiderseits zu stärken. Die EU hat die Gelegenheit, diese Eurasische Wirtschaftsunion, bei aller Unterschiedlichkeit im Verständnis ihrer Institutionen und Mechanismen, als einen Weg zu einem konstruktiven Austausch zu verstehen – zum Nutzen aller Mitgliedstaaten, und zwar beider Wirtschaftsräume. Bedrohungsszenarien sind dann fehl am Platz.
Nein, nur Verzagtheit kann die Sicherung unseres Geschäftsmodells innerhalb Europas gefährden, und zu solcher Verzagtheit besteht gar kein Anlass. Die Aufgaben, die der risikobewusste Kaufmann angesichts der geschilderten drei wesentlichen Risiken sieht, sind gewaltig, aber sie liegen doch immerhin klar zutage. Wir müssen erstens die Union, die unsere wesentliche, existenziell wichtige Geschäftsgrundlage ist, im Inneren stärken und sie dafür auf eine erneuerte verfassungsmäßige Ordnung aller ihrer Bürger stellen. Als risikovorsorgende Unternehmer müssen wir das von unserer Politik einfordern und helfen, dass alle Bürger sich als Teil dieser Verfassung verstehen. Die zügige Herausbildung homogenerer Ebenen unterschiedlicher Integrationstiefe – ein Europa konzentrischer Kreise oder unterschiedlicher Geschwindigkeiten – wird dafür den Weg weisen.
Zweitens müssen wir, mit diesem realistischeren Blick auf Zusammenpassendes, die europäische Einheit zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten, insbesondere zwischen West und Ost, stärken oder herstellen. Da sind sehr konkrete Dinge zu tun: Die Entwicklung der mittelosteuropäischen Länder zu Forschungs- und Entwicklungsstandorten für europäische Unternehmen ist eine solche gemeinsame Aufgabe, ebenso die Vollendung der transeuropäischen Netze gerade in Osteuropa, die Sicherung oder Wiederherstellung fairen Wettbewerbs in besonders erfolgskritischen Wirtschaftszweigen wie der Medienwirtschaft, eine echte Energieunion und enge Abstimmung der Energieversorgung im Interesse produzierender Unternehmen in Mitgliedstaaten wie Deutschland, der Slowakei, Frankreich oder Ungarn. Drittens müssen wir diejenigen in Europa stärken und schützen, die ihr Land nach denselben Grundsätzen unseres Geschäftsmodells gestalten wollen. Jede dieser Aufgaben ist außergewöhnlich schwierig. Aber die, in der Sprache der Risikomanager, mit hoher Wahrscheinlichkeit katastrophalen Folgen des Nichthandelns und die weitgehende Alternativlosigkeit der Maßnahmen, die den Ausweg bieten, haben doch diesen Vorteil: Sie setzen große Kräfte frei. Die deutsche Wirtschaft wird ohne Zweifel ihren Beitrag leisten, und der größte Wirtschaftsraum der Erde gibt uns dafür die Mittel.
Dr. Marcus Felsner ist Vorsitzender des Osteuropavereins der deutschen Wirtschaft. Der Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2015, S. 110-125