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04. März 2016

Europäischer Lackmustest

Polen, Deutschland und die Zukunft der EU

Wenn wir fragen, wo anzusetzen sei, um Europas liberale Grundordnung zu schützen, dann ist die deutsch-polnische Verständigung der entscheidende Test. Nur wenn es uns gelingt, das europäische Modell zwischen diesen beiden Ländern nicht nur zum wirtschaftlichen, sondern auch zum politischen und gesellschaftlichen Erfolg zu machen, wird echte Einheit zwischen Ost und West in Europa erreicht werden.

Über Polen werden dieser Tage in Deutschland wieder Urteile gefällt. Das Ergebnis der Parlamentswahlen und die ablehnende Haltung der polnischen Regierung zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge in der EU haben für ernsthafte Irritation diesseits der Oder gesorgt. Viele der schnellen Einordnungen der aktuellen polnischen Situation lassen wenig echtes Interesse für unser Nachbarland erkennen.

Leider hilft Kritik aus Deutschland, die keine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Leistungen und Sorgen der Polen zeigt, nur denen im Land, die durchaus kritikwürdige Ansichten vertreten. Es ist beschämend: Noch immer stehen wir mit dem Rücken zur Oder und Neiße und werfen von Zeit zu Zeit gleichsam, ohne uns auch nur umzudrehen, mahnende Worte oder Schulnoten über unsere Schulter.

Zu lange glaubten wir, dass wir mit der ja wesentlich auch durch Deutschland vorangetriebenen Erweiterung des Europäischen Erfolgsmodells auf Polen und die anderen Staaten in Mittel- und Osteuropa unsere historische Schuld an der gewaltsamen Teilung des Kontinents beglichen hätten. Zu lange glaubten wir, damit müsse es dann auch gut sein mit der näheren Beschäftigung mit diesem Teil Europas. Organisatorische Details haben wir an die Europäische Kommission und den EU-Haushalt delegiert.

Der Weg Polens seit 1989 mag von außen betrachtet eine staunenswerte Erfolgsgeschichte sein, die Wirtschaft floriert, die Arbeitslosigkeit liegt unter 10 Prozent, das internationale Ansehen wächst, Donald Tusk ist gar Ratspräsident der Europäischen Union geworden. Aber die Veränderungen der vergangenen fünfundzwanzig Jahre haben für die Menschen in Polen gewaltige Belastungen und Herausforderungen mit sich gebracht. Wie Polen seine Rolle als selbstbewusster Teil des Europäischen Projekts künftig wahrnehmen soll, ist Gegenstand intensiver Diskussion im Land.

Wir müssen hinhören, weil Erfolg oder Misserfolg der Integration Polens und seiner Nachbarn in Europa auch über unsere eigene Zukunft entscheiden. Wir müssen unsere Haltung zum Nachbarland ändern: aus historischen Motiven, aus kulturellen Motiven, aber auch aus aus ökonomischen Motiven. Eine eigenständige deutsche Volkswirtschaft gibt es spätestens seit 1990 in Wahrheit nicht mehr, und dass Unternehmen aus Deutschland der mit weitem Abstand größte Investor und der größte Arbeitgeber in Polen sind, bedeutet Verflechtung in beide Richtungen und keineswegs einseitige Abhängigkeit nur der Polen.

Und mehr noch: Alles, absolut alles steht auf dem Spiel, was uns als liberale Grundordnung und europäisches Friedensmodell seit siebzig Jahren selbstverständlich geworden ist, wenn wir es nicht schaffen, die innere Einheit zwischen West und Ost in dieser Europäischen Union endlich, mit fünfundzwanzig Jahren Verspätung herzustellen. Dafür kann man von uns ein bisschen Einsatz erwarten, zumindest ein paar Grundkenntnisse, die helfen, den polnischen Empfängerhorizont unserer Äußerungen und Handlungen etwas einzuordnen. Wer sich schon nicht aus anderen Gründen für Polen interessiert, sollte zumindest wissen, dass wir ohne Polen weder unsere eigene Geschichte verstehen noch die Zukunft gestalten können.

Zwei Länder, eine Geschichte

Mit minimalem Aufwand, auch bei Durchsicht der dünnsten in deutscher Sprache verfügbaren Büchlein über unser Nachbarland, darf man zum Beispiel folgendes wissen: Polen, heute mit 38,5 Millionen Einwohnern einer der größten Mitgliedstaaten der EU und ihre sechstgrößte Volkswirtschaft, weltweit unter den fünfundzwanzig größten, hat keine Tradition nationaler Abschottung. Seit tausend Jahren Einwanderungsland, war Polen immer offen für andere. In kürzester Zeit haben sich alle Hinzugekommenen stets unterschiedslos als Polen gefühlt.

Überhaupt gibt es kaum eine zweite europäische Nation, die in ihrer Historie so eng mit ihren Nachbarn verflochten wäre wie Polen. Dessen Geschichte beginnt formal im März des Jahres 1000 mit den Vereinbarungen von Gnesen zwischen Kaiser Otto III. und Bolesław I Chrobry. Später schaffen die Polen die ersten Investitionsanreize für ausländische Händler in der Geschichte des Kontinents, als sie lübisches Recht, Magdeburger Stadtrecht und Freiberger Bergrecht einführen, um deutsche Kaufleute anzulocken und ihnen die Eingewöhnung zu erleichtern.

Auch mit anderen Teilen Europas ist der Austausch von Beginn an enger als andernorts. Die „Ungarin“ Jadwiga und der „Litauer“ Jagiełło – von Nationen kann noch keine Rede sein – sind die ersten auf dem polnischen Thron, im 16. Jahrhundert findet sich mit Stefan Batory ein Siebenbürger, im 18. Jahrhundert mit August III. ein Sachse. Lange wird schon vorher am Piastenhof Deutsch gesprochen. Auch im sonst europaweit eher intoleranten Spätmittelalter kennt Polen keine Versuche, die Einbeziehung der nicht-polnischsprachigen oder nicht-katholischen Bevölkerung durch behördliche Beschränkungen einzuengen. Als die polnische Renaissance den schönen Begriff von der Rzeczpospolita entwickelt, zielt sie bezeichnenderweise nicht auf die Republik als Abwesenheit von Monarchie, sondern auf die res publica als „das, was alle angeht.“

Unter polnischer Herrschaft leben Litauer, Armenier, Juden, muslimische Sarrazenen, Podlachen, Wolhynier, Ruthenen, protestantische und katholische Deutsche. Das Land bleibt ohne Religionskriege, es bleibt auch nach Luther überwiegend katholisch, ohne indes eifernd gegen die Reformation vorzugehen. Glauben ist in Polen schon damals Sache der privaten Entscheidung, die es zum einzigen „Land ohne Scheiterhaufen“ in Europa macht. Dass der große Jan III. Sobieski die Unterstützung des Adels für die Verteidigung Polen-Litauens als „Vormauer der Christenheit“ im Abwehrkampf gegen das Osmanische Reich gewinnen kann, erweist ganz Europa und auch den deutschen Herrschern einen großen Dienst.

Ein wichtiger Zug der Polen findet seine ersten deutlichen Ausprägungen in ebendieser Zeit: Schon Mitte des 17. Jahrhunderts zeigt sich eine tiefe Skepsis gegenüber jeder Konzentration von Macht, das berühmte Liberum veto, das auch manche durchaus nützliche Entscheidung im polnischen Reichstag verhindert und den politischen Prozess zum Teil käuflich macht, macht eben vor allem jedes absolutistische Durchregieren unmöglich, weil es einsieht, dass eine Durchsetzung gegen die aus Prinzip störrischen Lokalfürsten (die die Abstimmung durch Verlassen des Reichstags unmöglich machen können) nun einmal nicht funktionieren wird.

Die Paranoia des wirklich Verfolgten

Wenn polnische Gesprächspartner heute auf Empfindlichkeiten hinweisen, was die allzu innige Verständigung zwischen ihren Nachbarn über ihre Köpfe hinweg betrifft, haben sie dafür gute Gründe, die deutlich weiter als bis zum Zweiten Weltkrieg oder auch zu den polnischen Teilungen zurückreichen.

Das Bild vom Land, das noch immer zwischen Hammer und Amboss, zwischen Deutschen und Russen, chancenlos war, geht weit zurück. Am Ende des Nordischen Krieges etwa, der furchtbare Zerstörungen vor allem über das polnische Gebiet gebracht hat, setzt Zar Peter I. bei seinen westeuropäischen Partnern durch, dass Polen nicht einmal an den Friedensverhandlungen von Nystad teilnehmen darf. Als später polnische Gerichte nach Auseinandersetzungen zwischen katholischen und protestantischen Schülern in Thorn die protestantische Stadtverwaltung drakonisch bestrafen und katholische Beamte einsetzen, erklären sich ausgerechnet Preußen und Russland zu Schutzherren der Religionsfreiheit in Polen – wissend, dass in ihren eigenen Ländern nicht ansatzweise so viel Toleranz für religiöse Minderheiten wie in Polen herrscht.

Als der Sachse August III. polnischer König wird, ist es erneut das Zusammenspiel mit Russland, das es Preußen erlaubt, das polnische Schlesien zu erobern und im Siebenjährigen Krieg als dauerhaften Keil zur Abtrennung Sachsens von Polen für sich zu behaupten. Auf die anschließende erste polnische Teilung 1772 folgt nach der Wiedergewinnung der Souveränität 1791 die von Montesquieu und Rousseau inspirierte, älteste geschriebene Verfassung Europas, die ihrerseits erst zum Vorbild für die erste französische Verfassung von 1792 wird. 1793 kommt es erneut zur Teilung des Landes, und nach dem Aufstand unter Führung von Tadeusz Kościuszko, den 1794 die Russen niederschlagen, 1795 zur dritten und diesmal für lange Zeit endgültigen polnischen Teilung. In einem beispiellosen Akt imperienübergreifender Barbarei verleiben sich Preußen, Österreich und Russland polnisches Volk und Land vollständig ein.

Im Jahr 1819 untersagen die Karlsbader Beschlüsse von Preußen und Österreich und die (verfassungswidrigen) Entscheidungen der russischen Besatzer mit der Pressefreiheit zugleich für alle Polen ausdrücklich auch jedes Nachdenken und Reden über die polnische Nation, über das Überleben dieser Nation ohne Staat. Später verbieten die Preußen in ihrem Teil des Landes sogar die Verwendung des Wortes Polen, man muss nun Weichselland sagen.  

Erst 1918, im Chaos der Ostfront des Ersten Weltkriegs, gelingt es der ordnenden Hand von Józef Piłsudski, die Republik zu gründen und nach mehr als einhundert Jahren Polen als Nation wiederherzustellen. Zur Nationalhymne wird die Mazurek Dąbrowskiego, die mit den oben zitierten Worten beginnt („Noch ist Polen nicht verloren“), entstanden bei den Aufständischen, die sich 1794 unter der Führung von General Jan Henryk Dąbrowski der Italienarmee Napoleons angeschlossen hatten.

Die Versuche Piłsudskis, Äquidistanz zu Deutschem Reich und Russland zu halten, helfen nicht. Am 1. September 1939 beginnt ein nicht erklärter Krieg, der von uns Deutschen von Anfang an nicht auf Sieg, sondern auf vollständige Auslöschung der Polen angelegt ist. Von Beginn an, ab Überschreiten der polnischen Westgrenze, werden alle Deutschen zu Mittätern und Gehilfen des größten Verbrechens in der Geschichte der Menschheit. Schon am ersten Tag des Krieges beginnen die Terrorbombardements auf polnische Städte. Probeweise, mit deutscher Gründlichkeit analysiert, erfolgt schon am 1. September die völlige Einäscherung von einzelnen polnischen Kleinstädten ohne jede militärische Bedeutung, wenige Tage später dann auch mit hunderten Tonnen Bomben und Brandbomben auf das wehrlose Warschau.

Die Sowjetunion greift zwei Wochen später von Osten aus an, und ganz zu Recht nennt Stalin den Molotov-Ribbentrop-Pakt in diesen Tagen „mit Blut zementiert.“ Unsere Einheiten – und ich verwende bewusst diese Identifizierung – machen sich von Anfang an an die Umsetzung der „Umvolkungspolitik“: In einer polnischen Ortschaft nach der anderen werden Massenerschießungen durchgeführt, Vertreibungen der restlichen Bewohner und die Umsiedlung sogenannter Volksdeutscher sind säuberlich geplant, die Senkung der Lebensmittelrationen auf Hungerniveau für die vorübergehend am Leben gelassenen Polen ebenso.  

Polen wird zum entscheidenden Ort des Holocaust. Chełmno, Bełżec, Sobibór, Treblinka, Auschwitz sind polnische Orte. Vor den Vernichtungslagern kommen die Ghettos, wir Deutschen wollen die Übersicht gewinnen. Zehn Prozent der polnischen Bevölkerung sind Juden, in Łódź und Warschau sind es rund ein Drittel. Sie werden entweder zum Eigentum der SS-Leute oder zu herrenlosen Sachen; als Menschen werden sie nicht gesehen.

Als im April 1943 der Aufstand im Warschauer Ghetto rasch niedergeschlagen ist, machen wir Deutschen eine der schönsten Städte Europas planvoll und vollständig, Block für Block, dem Erdboden gleich. Insgesamt sterben in dem deutschen Vernichtungskrieg 5,7 Millionen Polen, rund 15 % der Gesamtbevölkerung. Mehr als jedes zehnte Opfer des Zweiten Weltkriegs ist ein Pole. Keine Familie, die nicht einen Angehörigen von deutscher Hand verloren hätte.

Rückkehr nach Europa

Die starrsinnigen Polen sind indes auch später weder durch die sowjetische Massenvertreibung aus dem Osten ihres Landes noch durch die sozialistische Diktatur kleinzukriegen. Der Sozialismus passt zu Polen wie der Sattel auf die Kuh, sagen sie. Kaum einmal machen wir Deutschen uns bewusst, dass die Wiederherstellung der deutschen Einheit und die Überwindung der Teilung Europas nicht 1989 in Leipzig und Dresden ihren Ausgangspunkt genommen hat, sondern 1980 in Danzig. Schließlich führt der Weg von 1980 in gerader Linie zur Bildung des Runden Tischs im Januar 1989, Vorbild für alle anderen Runden Tische in der Region, und zu den ersten freien Wahlen Polens, aus denen am 13. September 1989 Tadeusz Mazowiecki als erster frei gewählter Ministerpräsident der III. Republik hervorgeht. Zum ersten Mal nach sechzig Jahren Fremdherrschaft und brutaler Unterdrückung haben die Polen es selbst in der Hand.

„Rückkehr nach Europa“ hieß ab da der neue Slogan. Die endlich mögliche Selbstbestimmung als Nation und der Schutz vor möglichen neuen regionalen Hegemonie-Ideen Russlands waren dabei von Beginn an entscheidender Treiber für die EU-Begeisterung vieler Polen. Der große polnische Philosoph im Exil Leszek Kołakowski beschrieb dagegen mit anderen enthusiastisch vor allem die Rückkehr Polens in den Schoß der europäischen Geisteswelt und liberalen Werteordnung. Vor allem der deutsche Mittelstand baute andererseits Fabrik nach Fabrik in Polen auf, und die Arbeitslosenzahlen sanken wieder, sogar unter 10 Prozent, das Land erholte sich erstaunlich schnell. Erst als Deutschland ab 2001 wirtschaftliche Schwäche zeigte, erlahmte der Wachstumsschub des mitteleuropäischen „Tigers“, wie sich Polen, als sei es ein zweites Korea oder Taiwan, in Deutschlands euphorischer Wirtschaftspresse inzwischen nennen lassen musste.

Nachdem immerhin mehr als drei Viertel der Bürger dafür gestimmt hatten, wurde schließlich Polen 2004 EU-Mitglied – für uns heute so selbstverständlich, dass kaum zu glauben scheint, wie das erst ein Jahrzehnt her sein kann. Eine der wichtigsten Errungenschaften der Europäer, die Freizügigkeit, blieb den Polen dennoch noch einige Jahre vorenthalten, während westeuropäische Mitgliedstaaten ihre Arbeitsmärkte gegen die polnische Konkurrenz abschotteten. Als auch die Übergangsregelungen dafür endeten, wurde der osteuropäische Handwerker in Ländern wie Großbritannien zum Klischee von Pavel the Plumber. Dass die Integration funktioniert und kein Pole nach Westen strebte, um sich in die soziale Hängematte zu legen, zeigt indes auch die Statistik. Mit Verwunderung dürfen die Briten heute zur Kenntnis nehmen, dass die ethnische Gruppe, die von allen (also einschließlich gebürtigen Engländern, Schotten, Indern, Einwanderern der West Indies usw.) die mit Abstand geringsten Sozialleistungen in Anspruch nehmen, ausgerechnet die Polen sind.

Polen ist heute Weltmarktführer bei Shared Services, also der zentralen Ansiedlung von Unterstützungsleistungen für unterschiedliche interne Prozesse internationaler Unternehmen, lockt auch immer mehr Entwicklungszentren amerikanischer Technologiekonzerne an, ist industrielles Rückgrat für viele westeuropäische, aber auch für immer mehr asiatische Unternehmen in Europa. Selbst als die Lehman-Pleite ganz Europa mit sich zog, kam Polens Wirtschaft erstaunlich gut weg, bis heute zeigt das Land die höchsten Wachstumsraten von ganz Europa. Inzwischen gibt es eine Reihe polnischer Unternehmen, die selbst die Weltmärkte erobern.

Doch alle Euphorie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Polen, nicht anders als vor dem Zweiten Weltkrieg, im Vergleich mit vielen westeuropäischen Staaten noch immer ein armes Land ist. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag im Jahr des EU-Beitritts unter einem Fünftel des entsprechenden Werts von Deutschland und, passender, bei rund einem Viertel des Vergleichswerts für das kaum bevölkerungsreichere Spanien. Bis heute hat sich diese massive Lücke nur zum Teil schließen lassen: 2013 erreichte Polen eine Pro-Kopf-Leistung, die weniger als 30 Prozent der deutschen und 45 Prozent der spanischen entspricht.

Viele Polen fühlten mit steigenden Preisen zusätzlich Nachteile gegenüber den älteren Mitgliedstaaten der EU. Die Lebenshaltungskosten in Polen mögen auch heute zwar 44 Prozent unter den deutschen liegen, aber die Löhne entsprechen eben typischerweise nur einem Viertel deutscher Vergleichsjobs. In weniger als acht Jahren durchlief das Land im Vorlauf zum EU-Beitritt einen radikalen Wandel, für den die westeuropäischen Staaten fünfzig Jahre Zeit gehabt hatten. Kein Stein blieb auf dem anderen: Einfach alles, was die begreifbare Lebenswelt eines Menschen ausmacht, änderte sich, die persönlichen Erwartungen des Einzelnen an sein Fortkommen und an die Gesellschaft, das Familienbild, das gesamte Bildungssystem, der persönliche Lebensstil, das Verhältnis von Mann und Frau, die Haltung zu Arbeit und Freizeit, die Rolle von Minderheiten.

Schnell teilte sich die Bevölkerung scharf in Gewinner und Verlierer der Veränderungen, die sich wechselseitig als Schmarotzer und Faulenzer oder aber als Diebe und Betrüger verachteten. Man glaube nicht, dass auch wir Deutschen diese Spaltung kennen und die Transformation schließlich auch ohne Hilfe geschafft haben; die fünfundvierzigjährige Übung in sozialer Marktwirtschaft und freiheitlicher Demokratie für drei Viertel unseres Landes hatten Strukturen und Prozesse sicher etabliert, in die sich ab 1990 die Ostdeutschen vergleichsweise leicht einfügen konnten. Auch weil wir Deutschen, auf die es für mehr Aufmerksamkeit in Europa entscheidend angekommen wäre, in diesen Jahren ganz mit uns selbst beschäftigt waren, blieben die Polen in der Umwälzung aller Werte allein.

Kollektives Schleudertrauma

Von dem kollektiven Schleudertrauma, das die ökonomischen und sozialen Verwerfungen in Polen auslösen, profitierten seit Beginn der Transformation auch Populisten, ohne indes bisher dauerhaft Nutzen daraus ziehen zu können. Dass das so ist, hat viel mit der skeptischen Grundhaltung der Polen gegenüber allen politisch Verantwortlichen zu tun, die Jahrhunderte zurückreicht. Seit 1989 hat bis heute jede Wahl einen mehr oder weniger radikalen Richtungswechsel ergeben. Im steten Wechsel wurden Regierungen nahezu ausnahmslos abgewählt: 1993 waren die Postkommunisten wieder erfolgreich, 1997 wurden sie von einer bürgerlichen Koalition abgelöst, 2001 siegte erneut die Linke, 2005 die Konservativen.

Präsident Lech Kaczyński bemühte sich ab 2005 um eine national-konservative Umgestaltung Polens: Von der „IV. Republik“ war viel die Rede, aber die Unzufriedenheit vieler Polen mit dem radikalen Populismus und der Uneinlösbarkeit seiner Versprechen führte keine zwei Jahre später zum Auseinanderbrechen der Regierungskoalition und zu Neuwahlen, die wieder konservative, aber gemäßigte Kräfte um den heutigen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk gewannen. 2011 waren die ersten Wahlen seit 1989 überhaupt, in denen die amtierende Regierung bestätigt werden konnte.

Den vollständigen Wahlerfolg von PiS bei den Parlamentswahlen im Oktober 2015 haben dennoch nicht in erster Linie hartgesottene Extremisten möglich gemacht, sondern die unverändert hohe Zahl junger, gut ausgebildeter Polen, die keinen Arbeitsplatz oder keine eigene Wohnung finden, und die vielen Rentner in Altersarmut. Es war die Mitte der Gesellschaft, die einen politischen Wechsel wollte.

Dabei ist auch zu bedenken, dass das scheinbar überwältigende Ergebnis von PiS in Zahlen nur bedeutet, dass 19 Prozent der wahlberechtigten Polen für sie gestimmt haben. Bemerkenswert auch, dass die Linke, deren gesamtes Lager nicht einmal 8 Prozent erreichte, von den sozialen Verwerfungen am Rand der Gesellschaft nicht profitieren kann. Dennoch: Ein Mandat für eine nationalistische Umgestaltung des Landes haben die Polen PiS nicht erteilt.

Im Wahlkampf hatte sich PiS auch durchaus durch ein gewisses Maß an Verzicht auf martialische Rhetorik und Verschwörungstheorien wählbar gemacht. Hinzukommt die Verbindung traditioneller polnischer Skepsis gegenüber etablierten Institutionen der Macht mit der besonders bei jungen Polen vielleicht noch stärkeren Ausprägung einer quasi bedingungslosen Unterstützung für jedwede Veränderung, die für sich in Anspruch nimmt, nicht aus den institutionellen staatlichen Strukturen zu kommen.

Die neue Regierung von Ministerpräsidentin Beata Szydło hat sich wie schon 2005 ein gewaltiges Programm vorgenommen, das mit dem allgegenwärtigen Begriff der „Entwicklung“ offenbar ganz auf eine voluntaristische Umgestaltung Polens setzt: Zu den dreißig Punkten des Plans für diese Legislaturperiode gehören die Unterstützung für Familien mit einem Kindergeld von 500 Zloty für jedes Kind innerhalb der ersten hundert Tage der Regierung, die Senkung des Rentenalters wieder auf 65 Jahre für Männer und 60 Jahre für Frauen, staatliche Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und kostenfreie Medikamente für Patienten, die älter als 75 Jahre sind.

Viele, darunter immerhin der Präsident der Zentralbank Marek Belka, halten diese Versprechen für nicht finanzierbar. Man wird sehen, ob die weiteren Interventionen wie die Neubesetzung des Verfassungsgerichts, die aus Sicht der amtierenden Verfassungsrichter rechtswidrig ist, und die sofortige Neubesetzung anderer angenommener Schlüsselpositionen etwa im Geheimdienst die erwarteten Wirkungen für die „Entwicklung“ eines eigenständigeren nationalen Weges des Landes haben. Es wird auch abzuwarten sein, ob die vielen jungen Wähler, die PiS in diesem Jahr mobilisieren konnte, sich durch rechtsstaatlich problematische Maßnahmen von Regierung und Präsident ebenso schnell wieder abwenden werden.

Deutsch-Polnisches Verhältnis als Kernfrage

Wir Deutsche sind jedenfalls gut beraten, diejenigen in Polen zu unterstützen, die den Weg der europäischen Integration vorangehen und die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche, auch kulturelle Verflechtung mit Deutschland und den anderen Nachbarn stärken wollen. Die Voraussetzungen dafür sind in Wahrheit gut. Ungeachtet der wachsenden Unterstützung für die Veränderungsrhetorik von PiS war schließlich die Zustimmung zur EU zuletzt mit 89 % positiver Antworten in Polen so hoch wie sonst nirgends in Europa. Dieser Haltung helfen wir nicht ohne weiteres, indem wir Pauschalurteile abgeben, Drohungen ausstoßen und ultimative Forderungen von Berlin an Warschau richten. Wir liefern damit gerade denen Argumente, die in Polen ein Klima der Angst vor deutscher Bevormundung erzeugen wollen.

Es wirkt für uns Deutsche möglicherweise überraschend, dass unsere Nachbarn sich im Ergebnis nicht viel anders fühlen – bei ansonsten völliger Unvergleichbarkeit der Situationen – als es das berühmte Bonmot des früheren kanadischen Premiers Trudeau einmal beschrieb, der über das Verhältnis seines Landes zu den USA sagte: Wenn Sie im Bett mit einem Elefanten liegen, kann der Elefant noch so gutmütig sein – wenn er sich im Schlaf umdreht, haben Sie ein Problem. Unabhängig davon, wie wir selbst zu Entscheidungen der deutschen Regierung in der Sache stehen, muss uns so zum Beispiel bewusst sein, dass Polen in den letzten Jahren gleich zweimal von dem Eindruck beherrscht wurde, Deutschland treffe (wieder) für sich selbst Entscheidungen, deren Folgen die Polen hinzunehmen haben, ohne gefragt zu werden.

So war es, als die Bundesregierung nach Fukushima die erneute Energiewende beschloss, ohne auch nur der Frage nachzugehen (heißt es in Polen), welche Folgen diese Entscheidung für die Energieversorgung Polens und anderer Nachbarstaaten im Rahmen der europäischen Energienetze haben würde, welche Folgeinvestitionen etwa die Umstellung auf Erneuerbare Energieträger für den Lastausgleich an den Übergabepunkten auf polnischer Seite auslösen und was dies für die Wettbewerbsfähigkeit Polens als Industriestandort bedeuten würde. Lange kümmerte sich Deutschland offenbar auch nicht darum, wer den polnischen Netzbetreibern die Einbußen ersetzt, die durch das notwendige Abschalten eigener Stromkapazitäten bei Überlastung durch deutschen Windstrom entstehen. Die dafür nachträglich von Deutschland jetzt mit Polen und anderen Anrainerstaaten geschlossenen Abkommen reichen den Polen jedenfalls nicht.

Für unser Nachbarland, dessen Kohlevorkommen bis 2035 erschöpft sein dürften, weckt unser ursprünglich einseitiges Vorgehen die Angst, dass am Ende nur die polnische Industrie beschädigt wird. Nun will die polnische Regierung neue Braunkohlegruben erschließen und sich mit dem Bau von Phasenschiebern die Möglichkeit sichern, die deutsche Überproduktion auszusperren. Das mag man bedauern. Aber der Eindruck deutscher Arroganz lässt sich schwer von der Hand weisen, wenn von den Polen umstandslos erwartet wird, sich mit den komplexen Gegebenheiten des deutschen EEG, seinen lange über viertausend unterschiedlichen Vergütungskategorien für die Energieeinspeisung und den Folgen für die Spannungslast im integrierten europäischen Elektrizitätsnetz nun bitteschön auseinderzusetzen.

Und auch die Entscheidung, angesichts der unwürdigen Lage syrischer Flüchtlinge an der ungarisch-serbischen Grenze die Anwendung der Dublin-Verordnung für sie vorübergehend auszusetzen, empfanden viele Polen als eine Maßnahme, die ohne ihre Zustimmung nachteilige Folgen für alle Mitgliedstaaten und damit auch für sie selbst auslöste. Dabei hat Polen entgegen anderslautender Darstellung in Deutschland sehr wohl einige hunderttausend Migranten (wenn auch in den letzten sechs Jahren zusammen nur rund sechzigtausend formell Asylsuchende) aufgenommen, viele davon auch aus der kriegsgebeutelten Ukraine; und entgegen anderslautender Darstellung hat die Konferenz der katholischen Bischöfe in Polen sehr wohl ihre Gläubigen und die polnische Regierung aufgefordert, sich für die Flüchtlinge zu engagieren, auch wenn sie damit auf Ablehnung vieler Gemeindepfarrer stieß. Aber das ändert nichts an dem Eindruck auch wohlmeinender Polen, dass in Berlin eine einsame Entscheidung gefallen sei, deren Folgen nun auch die Polen tragen sollen.

Es ist dieser Eindruck, der nur Wasser auf die Mühlen derer bringt, die lautstark für die Wiedererringung einer angeblich bedrohten nationalen Souveränität Polens eintreten. Es ist an der Europäischen Kommission als Hüterin der Europäischen Verträge, mit großer Konsequenz die Einhaltung des Europarechts einzufordern und mit den ihr zur Verfügung stehenden Zwangsmitteln auch konsequent durchzusetzen.

Aufgabe der Bundesregierung ist das nicht; sie hat im Rat und im Europäischen Parlament vielmehr um Mehrheiten für solche Rechtsänderungen zu werben, die aus deutscher Sicht wünschenswert sind. Und darauf zu achten, dass sich auch dann, wenn es schwierig wird, Polen und Deutschland ebensowenig wie bisher Frankreich und Deutschland von dritter Seite auseinanderdividieren lassen. Dazu gehört es möglicherweise auch, anzuerkennen, wenn es für das uns Wünschenswerte die nötige politische Unterstützung, im Weimarer Dreieck, in den Mehrheitsentscheidungen des Rates und des Parlaments, einmal nicht gibt, und mit dieser Tatsache umzugehen, anstatt sich über sie hinwegzusetzen.

Auf der Suche nach einer deutsch-polnischen Öffentlichkeit

Für die Aufwertung der deutsch-polnischen Beziehung gab es ein gelungenes Beispiel etwa, als der polnische und der deutsche Außenminister Anfang 2014 gemeinsam zwischen dem Euromaidan und der später flüchtigen Regierung der Ukraine eine Lösung vermittelten. Auf den engen Austausch der polnischen mit der deutschen Gesellschaft müssen wir dennoch weiter achten. Das Deutsch-Polnische Jugendwerk, das 1991 nach deutsch-französischem Vorbild gegründet wurde, hat bis heute nicht weniger als zweieinhalb Millionen Teilnehmer in seinen Austauschprogrammen begrüßen können. Das klingt gut, reicht aber nicht. Die Zahl der Schüler und Studenten, die in Deutschland Polnisch lernen, muss deutlich zunehmen. Wir brauchen überdies eine deutsch-polnische Öffentlichkeit, mit breit zugänglichen Medien, die das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben auf beiden Seiten der Oder beleuchten und wechselseitig vermitteln.

Wenn wir fragen, wo anzusetzen sei, um das Europäische Geschäftsmodell einer liberalen Grundordnung zu schützen, dann ist die deutsch-polnische Verständigung der in Wahrheit entscheidende Test, den dieses Modell bestehen muss. Nur wenn es uns gelingt, zwischen diesen beiden Ländern das Europäische Modell nicht nur zum wirtschaftlichen, sondern auch zum politischen und gesellschaftlichen Erfolg zu machen, wird echte Einheit zwischen Ost und West in Europa erreicht werden. Die aber ist die wichtigste Voraussetzung für die Bewältigung der gegenwärtigen Bedrohungen.

Wenig befriedigende Antworten haben wir, so scheint es, bisher gefunden auf die Frage, wie mit dem Populismus und der Rückkehr des Nationalismus in Europa umzugehen sei. Von einer Politik der Anerkennung ist da die Rede, die verhindern soll, dass die kosmopolitischen Funktionseliten sich in Beschimpfungen der tumben Masse, die das Zielpublikum der immer ganz einfachen Lösungen der Populisten ist, selbst nur weiter von ihr isolieren. Und es stimmt wohl: Will nicht jeder Anerkennung? In der Sprache der Politik hört sich das dann so an, dass „Sorgen ernstgenommen werden“ (müssen). Statt solcher Phrasen wird indes wohl nur helfen, einerseits Führungsstärke zu beweisen – was überall in Europa Politiker erfordert, die erklären können, was sie tun, die mit Courage und Glaubwürdigkeit zu den Grundlagen des Europäischen Modells stehen und ihren Wählern ehrlich nationale Defizite und europäische Leistungen offenlegen – und andererseits die Politik selbst zu ändern, wo sie wachsende Teile der Bevölkerung abhängt.

Weil Europa dafür nicht seine Grundlagen aufgeben kann – die Überwindung einseitiger Abhängigkeiten durch allseitige Verflechtung, die Gleichberechtigung aller seiner Mitgliedstaaten, die Grundfreiheiten und die Prinzipien des freiheitlichen Rechtsstaats – müssen andere Wege gefunden werden, die Überforderung abzumildern. Und wenn Polen und viele andere Menschen in Osteuropa die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU bisher allein oder vor allem als Mittel zur Wiedererlangung nationalstaatlicher Souveränität verstanden haben, dann wird es möglicherweise für die Sicherung der Chance, das Europäische Projekt in späteren Generationen zu dem möglichen und wünschenswerten Maß an Integration zu führen, erforderlich sein, den Polen und anderen erst Gelegenheit zu geben, den Realitätscheck für die Gestaltungsmöglichkeiten eines mittelgroßen Nationalstaats in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts zu machen. Da wird sich schnell zeigen, dass die Nation keine natürliche Lebensform, sondern ein reichlich willkürliches und durchaus junges Konstrukt zur Legitimation einer gegebenen Herrschaftsform ist. Kann diese Herrschaft die Erwartungen der Bürger nicht mehr erfüllen, verliert sie rasch ihre Legitimität.

Wer von den Polen aber Nachweise ihrer europäischen Verbundenheit einfordert und die Streichung Europäischer Haushaltsmittel und deutscher „Transferzahlungen“ (für die die Polen mit ihrer enormen Bedeutung für die deutsche Umsatz- und Körperschaftsteuer einen erklecklichen eigenen Beitrag leisten) öffentlich androht, wird diesem Ziel wohl weniger dienen.

Aus dem Trauma der lange unterdrückten Nation wird Polen sich schwerer befreien, wenn die Deutschen nicht sichtbar anerkennen, dass 1989 der Eiserne Vorhang tatsächlich gefallen und es seit nun mehr als fünfundzwanzig Jahren nicht mehr angemessen ist, Polen und mit ihm die anderen Länder östlich und südöstlich von Deutschland um den Beweis ihrer Zugehörigkeit zu Europa zu bitten. Wir haben schon deshalb Anlass dazu, weil der Kunstbegriff Osteuropa, der in Pariser Salons des 18. Jahrhunderts erdacht wurde für die unbekannten und nicht kennenswerten Weiten jenseits der französischen oder englischen Kultur, für viele durchaus auch das bettelarme Preußen umfasste.

Die Unterscheidung hatte neben ihren unappetitlichen Noten der Distanzierung von einem Teil der europäischen Heimat als kolonialem Übungsgelände den im 18. und frühen 19. Jahrhundert noch zutreffenden sachlichen Kern, dass Polen und die anderen in dem Kunstbegriff „Osteuropa“ gefassten Gebiete (und zeitweise eben auch Preußen) sich von den westlicheren Regionen durch andere Verhältnisse im Landbesitz, in Ernährung und Gesundheit und in der Alphabetisierung klar unterschieden. Seit mehr als hundert Jahren ist das nun Geschichte. Wie aber würde wohl heute ein beliebiges Land Westeuropas bei der Überprüfung seiner kulturellen, politischen oder sozialen Verwurzelung in „Europa“ abschneiden? Die angebliche Randlage der Polen ist nicht randständiger als die der Dänen, Italiener und Spanier, und die Mittellage der Deutschen hat sie nicht daran gehindert, den Blick ganz auf die tiefe Provinz im Innern zu richten. Auch im Zentrum kann man so ganz am Rand stehen.

In Zeiten der gemeinsamen Unterdrückung durch das sowjetische Imperium gab es nicht wenige gebildete Menschen in der Tschechoslowakei, in Ungarn oder der Sowjetunion selbst, die Polnisch lernten, um polnische Bücher lesen zu können, denen überall ein besonderer Ruf vorausging. Es wäre ein schöner Gedanke, wenn wir diese Form wechselseitigen Interesses auf ganz Europa erweitern und zwischen Deutschen und Polen vorleben könnten.

Von Polen her Europa denken“ lautet der Titel einer anregenden Gesprächs- und Bildersammlung, die dennoch sehr von dem Blick der Polen auf ihre Nachbarn geprägt blieb. Künftig müssen auch Deutsche, Briten und Franzosen lernen, ihre europäische Heimat von Polen und anderen Ländern östlich von uns her zu denken. Was uns im politischen Raum als anstrengend erscheinen mag, das Beharren auf Eigenständigkeit, die Ablehnung der eigenen Einordnung in eine (künstliche) Region Osteuropa in steter Zitiergemeinschaft vor allem mit Tschechen, Slowaken und Ungarn, erweist allen Europäern doch den Dienst der Erinnerung daran, dass die unbedingte Gleichberechtigung jedes einzelnen Mitgliedstaats, klein oder groß, lange dabei oder jüngst erst aufgenommen, das entscheidende Erfolgsgeheimnis des Europäischen Projekts ist. Die Polen sind kein Problemfall am Rand des Europäischen Projekts, sie sind, und nicht erst seit fünfundzwanzig Jahren, sein innerster Bestandteil. Nur gemeinsam werden wir die uns allen gestellten Aufgaben meistern.

Dr. Marcus Felsner ist Vorsitzender des Osteuropavereins der deutschen Wirtschaft.

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