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01. Mai 2008

Unfriedensstifter

Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr

Israels Demokratie sieht sich einer doppelten Bedrohung ausgesetzt. Von außen durch Terror und Gewalt, von innen durch die radikale jüdische Siedlerbewegung. Dass sich die Demokratie gegenüber den Siedlern behaupten kann, ist eine der entscheidenden Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden mit den Palästinensern.

Israel gilt vielen als „die einzige Demokratie im Nahen Osten“. In den Indizes der Demokratieforscher erzielt der israelische Staat im Unterschied zu seinen arabischen Nachbarn regelmäßig hohe Werte.1 Dass Israel so gut abschneidet, ist angesichts seines Entwicklungspfades nicht selbstverständlich. Über Jahrzehnte hinweg sah sich der junge Staat einer feindseligen Umgebung gegenüber. Sechs Kriege hat die Armee seit der Staatsgründung im Mai 1948 geführt. Erst in den Friedensverträgen mit Ägypten (1979) und Jordanien (1994) wurden die Streitigkeiten mit zumindest zwei der Nachbarstaaten beigelegt. Mit Syrien und Libanon gibt es bis heute keinen Frieden.

Kultureller Schmelztiegel

Aber nicht nur in der Außenpolitik hatte die israelische Demokratie mit erschwerten Bedingungen zu kämpfen, auch innenpolitisch waren erhebliche Lasten zu stemmen. Die Einwanderung von Juden aus aller Welt nach Israel ist Programm des jüdischen Staates – doch die Integration der kulturell und sozial heterogenen Immigranten aus so unterschiedlichen Ländern wie Äthiopien, den Vereinigten Staaten oder Russland stellt den Staat vor immense Herausforderungen und birgt ein hohes gesellschaftliches Konfliktpotenzial. Dennoch hat es Israel geschafft, eine parlamentarische Demokratie zu etablieren, in der eine Vielzahl von Parteien regelmäßig um die Gunst der Wähler wetteifert. Auch die arabischen Einwohner mit israelischem Pass haben das Wahlrecht, gleichwohl sie in anderen Bereichen deutlich benachteiligt sind. Weitgehend freie und kritische Medien begleiten das politische Geschehen, und zu Zeiten des Osloer Friedensprozesses erlebte Israel einen Boom an Neugründungen zivilgesellschaftlicher Organisationen und Bewegungen. Der Oberste Gerichtshof hat auf die Stärkung der bürgerlichen Grundrechte hingearbeitet und genießt den Ruf, als Korrektiv zur mitunter leidenschaftlich geführten politischen Auseinandersetzung zu dienen.

Doch der Blick auf den Konflikt mit den Palästinensern trübt die Erfolgsbilanz. In den vergangenen Jahren ließ sich beobachten, wie die israelische Demokratie so manche Chance für ein Vorankommen im Friedensprozess verstreichen ließ, wie sie mit massiven militärischen Vergeltungsschlägen auf palästinensischen Terror reagierte und gezielte Tötungen, Kollektivstrafen, Ausgangssperren und Häuserzerstörungen in den besetzten Gebieten anordnete.2 Dass ein Staat die Pflicht hat, seine Bürger vor Terroranschlägen und Raketenbeschuss zu schützen, ist unbestritten. Die Art und Weise, wie Israel diese Aufgabe wahrnimmt, hat jedoch nicht nur die Kritik der internationalen Gemeinschaft auf sich gezogen3 – sie hat auch den Terror nicht wirksam eindämmen können, sondern die Gräben weiter vertieft. Der ernsthafte Wille der israelischen Demokratie, mit den Palästinensern einen fairen und dauerhaften Frieden zu schließen, wird von einem weiteren Aspekt israelischen Handelns in Frage gestellt: der Siedlungspolitik. Vom Beginn des Friedensprozesses im September 1993 bis zum Jahr 2006 ist die Zahl der Siedler im Westjordanland von rund 100 000 auf über 260 000 angestiegen. Was einmal das Territorium eines palästinensischen Staates werden soll, gleicht bislang einem Flickenteppich, durchsetzt von Siedlungen, militärischen Stützpunkten, Checkpoints und Straßen, die den Siedlern vorbehalten sind.

Hinter der Räumung des Gaza-Streifens im Sommer 2005 stand nicht zuletzt das Kalkül, im Gegenzug die Präsenz im Westjordanland und in Ostjerusalem auszubauen und zu festigen. So hat Premierminister Ehud Olmert jüngst deutlich gemacht, dass die umstrittene jüdische Siedlung Har Homa im Osten Jerusalems in künftigen Verhandlungen nicht zur Disposition stehe – vielmehr solle dort trotz Protesten aus der Palästinensischen Autonomiebehörde und vehementer Kritik der Vereinigten Staaten weiter gebaut werden.4 Und die Friedensbewegung Peace now schlug Ende März Alarm, dass die Bautätigkeit im Osten Jerusalems seit dem Gipfel in Annapolis ein zuvor unerreichtes Tempo aufgenommen habe.5

Von einer Demokratie erwartet man in der Regel ein anderes Verhalten: kooperativ, kompromissbereit, mit einem langen Atem für friedliche Konfliktlösungen. Militärische Gewalt sollte letztes Mittel der Selbstverteidigung sein und die Kriterien von Notwendigkeit und Angemessenheit erfüllen. Zum einen sind es die grundlegenden liberalen Normen wie gewaltfreier Konfliktaustrag, Rechtsstaatlichkeit, Achtung von Minderheiten, gleiche und faire Partizipationsmöglichkeiten für den Einzelnen und Respekt vor den Menschenrechten, die innerhalb der Demokratie gelten und über die eigenen Grenzen hinaus in eine tendenziell friedliche Außenpolitik münden; zum anderen sorgen sich Bürger schlicht um Leib und Leben. Sie wollen die Opfer und Kosten des Krieges vermeiden und ihren eigenen Wohlstand und den des Landes sichern.

Ein „neuer Naher Osten“?

Zu Beginn der neunziger Jahre waren es just diese liberalen Argumente, die sich in den Reden von Politikern wie Jizchak Rabin, Schimon Peres oder Jossi Beilin widerspiegelten, wenn sie die Anerkennung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und den Eintritt Israels in den Osloer Friedensprozess vor ihrer Wählerschaft rechtfertigten. In der zermürbenden ersten Intifada war deutlich geworden, dass das „palästinensische Problem“ militärisch nicht zu lösen war.

Nun warben diese Politiker dafür, mit den Palästinensern zu verhandeln, um nicht noch mehr Opfer auf beiden Seiten beklagen zu müssen. Rückenwind erhielt der Impuls für eine friedliche Konfliktlösung von den internationalen Verschiebungen der vorausgegangenen Jahre. Das Ende des Ost-West-Konflikts, die durch den drastischen Rückgang der Erdöleinnahmen ausgelöste Krise des Petrolismus in den arabischen Ländern und der Irak-Krieg von 1990 hatten die Region in einer Weise verändert, dass die diplomatische Offensive der US-Regierung 1991 zur multilateralen Friedenskonferenz in Madrid führte und später die direkten Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern ermöglichte. Doch die politische Führung Israels jener Jahre ging in ihrer Argumentation über eine bloße Kosten-Nutzen-Rechnung hinaus. Sie beschwor die liberalen, universalistischen Anteile des jüdisch-zionistischen Erbes, um daran anknüpfend die israelische Identität neu zu formulieren: Aus einem international gemiedenen Einzelgängerstaat, der stärker auf seine militärische Stärke denn auf Kooperation vertraute, sollte eine moderne, liberale Demokratie werden, ein ganz normaler Staat der westlichen Welt; ein Staat, der seinen Nachbarn die Hand zu Frieden und Zusammenarbeit reicht. Schimon Peres erträumte gar einen „neuen Nahen Osten“,6 in dem Frieden, Demokratie und ökonomische Entwicklung sich wechselseitig befruchten und die gesamte Region erfassen würden.

Auf die Euphorie der ersten Oslo-Jahre folgte bald die Ernüchterung. Die Friedensdividende erschöpfte sich in einem kurzlebigen Wirtschaftsaufschwung, die Verhandlungen stagnierten, und die Gewalt kehrte zurück. Ein israelischer Arzt aus der Siedlung Kirjat Arba tötete 1994 29 betende Muslime in der Grabstätte der Patriarchen in Hebron; im November 1995 wurde Jizchak Rabin in Tel Aviv von einem israelischen Extremisten erschossen; und im Frühjahr 1996 erschütterte eine Serie von Selbstmordattentaten der palästinensischen Hamas die israelische Gesellschaft – der Friedensprozess geriet in den Würgegriff der radikalen Gegner auf beiden Seiten.

In dieser Situation wählten die Israelis einen Premierminister ins Amt, der ihnen Sicherheit als oberste Priorität versprach. Unter der Führung Benjamin Netanjahus wurde das Rad des Friedensprozesses in den folgenden Jahren sukzessive zurückgedreht. Doch es ging nicht allein um Sicherheit: Der Erfolg der nationalistischen und religiösen Parteien in den Knesset-Wahlen von 1996 war Ausdruck des tiefen Unbehagens vieler Israelis angesichts des liberalen, säkularen, um

Normalität und internationale Anerkennung bemühten Kurses der linken Regierungskoalition von Arbeitspartei und Meretz. Rabin, Peres und Beilin hatten ihre Bereitschaft, territoriale Konzessionen einzugehen, eng mit einer Neudefinition der israelischen Demokratie verknüpft. Doch in Umfragen wurde deutlich: Eine Mehrheit der Bevölkerung sprach sich zwar ebenfalls für Friedensverhandlungen aus – aber nicht um den Preis, den besonderen jüdischen Charakter ihres Staates aufzugeben. Die Nationalreligiöse Partei traf den Nerv mit ihrem Wahlkampfslogan, der „Zionismus mit Seele“ versprach.

Dass der Versuch einer Neuformulierung israelischer Politik entlang liberaler, universalistischer Ideale so rasch scheiterte, liegt zum einen in der Geschichte begründet. Der Liberalismus hat in Israel keine tiefen Wurzeln. War die Gründergeneration noch von sozialistischen und egalitären Ideen beseelt, so ergriff nach der Eroberung von Ostjerusalem und dem Westjordanland im Juni-Krieg von 1967 eine Welle ethnisch-nationalistischer, teils religiöser Begeisterung das Land, als sich überraschend die Kerngebiete der biblischen Erzählungen in der Hand des modernen israelischen Staates wiederfanden. Zum anderen ist der Liberalismus selbst in seinen Bastionen wie den Vereinigten Staaten nicht frei von Ambivalenzen und widersprüchlichen Wirkungen. Die Schattenseite demokratischer Friedlichkeit ist der demokratische Krieg, geführt um liberaler Gründe willen: Wenn Demokratien die internationale Ordnung gefährdet sehen, wenn sie Diktatoren zur Räson bringen wollen oder wenn Terror und Massenvernichtungswaffen ihre liberale Lebensweise bedrohen, scheint der Einsatz militärischer Gewalt legitim.7

Diese Ambivalenz war ein tragendes Motiv in der Politik von Benjamin Netanjahu, aber auch in der seines Nachfolgers Ehud Barak, als sich mit der zweiten Intifada ein neuer Aufstand gegen die Besatzung erhob: Israel strebe nach Frieden, sei verhandlungsbereit und stehe fest auf dem Boden demokratischer, westlicher Werte, so argumentierten beide Premierminister – doch die palästinensische Führung lasse ihnen keine andere Wahl, als mit harter Hand zu reagieren, weil sie sich bewusst dem Frieden verweigere und überdies die Terroristen unterstütze. Diese Doppeldeutigkeit der liberalen Ideale, gepaart mit ihrer ohnehin schwachen Verankerung in der israelischen Gesellschaft, eröffnete zudem Spielräume für die Akteure einer politischen Strömung, die seit den siebziger Jahren die Geschicke Israels stark beeinflusst hat: die radikale jüdische Siedlerbewegung in den besetzten Gebieten samt ihrer Vertreter in den politischen Parteien. Als die Ergebnisse der geheimen Verhandlungen zwischen Israel und der PLO an die Öffentlichkeit kamen, waren sie zunächst überrumpelt und geschockt – immerhin schickte sich die Regierung an, Teile jener Gebiete zurückzugeben, die vom ideologischen, religiösen Kern der Siedlerbewegung als von Gott selbst verheißenes und 1967 befreites Land angesehen werden. Ihr erbitterter Protest und mitunter gewaltsamer Widerstand gegen den Friedensprozess verschärfte die gesellschaftliche Polarisierung über die Zukunft der palästinensischen Gebiete. Vor allem aber verstanden es die Siedler, sich auf eine Weise in der israelischen Demokratie zu positionieren, die ihnen vielfältige Einflussmöglichkeiten bot. So nutzten Parteien wie die Nationalreligiöse Partei oder die Nationale Union ihre Position als „Zünglein an der Waage“ in Regierungskoalitionen im fragmentierten israelischen Parteiensystem, um die Machtbalance zu ihren Gunsten zu wenden – oder, wie kurz vor dem Gipfel von Camp David im Sommer 2000, um einer friedenswilligen Regierung die Mehrheit zu entziehen. Außerdem gelang es den Siedlern, sich tief in Institutionen und Bürokratie vorzuarbeiten. Vor allem im dezentralen, undurchsichtigen System der Verwaltung der besetzten Gebiete kooperieren Siedleraktivisten mit den Behörden oder sitzen selbst in Schlüsselpositionen und kanalisieren Geld und Ressourcen in die Siedlungen und ihre Infrastruktur – nicht selten im Widerspruch zu offiziellen Verlautbarungen. Ein weiteres Beispiel ist das Militär: Als Meilenstein für die Siedlerbewegung gilt die Einrichtung so genannter Hesder-Toraschulen seit den siebziger Jahren, an denen die Rekruten ihren Armeedienst mit dem religiösen Studium verbinden können.8 Als Folge drängten immer mehr ultra-nationalistische Religiöse in die Eliteeinheiten der Armee. Als Mitte der neunziger Jahre Rabbiner der Siedlerbewegung die Soldaten aufriefen, bei der Evakuierung von Siedlungen den Dienst zu verweigern, spekulierte der Soziologe Uri Ben-Eliezer, dass in Israel ein Militärcoup aus diesem Milieu heraus durchaus denkbar wäre.9

Die israelische Demokratie hat trotz vieler Widrigkeiten eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte vorzuweisen. Doch diese Errungenschaften sind besonderen Gefährdungen ausgesetzt. Konfrontiert mit der Bedrohung durch Terrorismus und Gewalt würden die liberalen Normen und Überzeugungen der meisten demokratischen Gesellschaften bis an die Grenzen strapaziert.

Doch in Israel ist die Demokratie zusätzlich von innen heraus gefährdet. Ob sich die Demokratie gegenüber ihren Gegnern aus der radikalen jüdischen Siedlerbewegung behaupten kann, davon hängt nicht zuletzt der Ausgang der wieder aufgenommenen Friedensverhandlungen mit den Palästinensern ab.

CLAUDIA BAUMGART-OCHSE, geb. 1974, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt/M.

  • 1Vgl. die sehr häufig für die Einstufung von politischen Regimen verwendeten Indizes von Freedom House: www.freedomhouse.org/template.cfm?page=363&year=2007 und Polity: www.cidcm.umd.edu/polity/data/.
  • 2B’Tselem, das israelische Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten, unterhält eine regelmäßig aktualisierte Internetseite mit Daten und Informationen zur israelischen Besatzung und zu Menschenrechtsverletzungen in den palästinensischen Gebieten. Vgl. http://www.btselem.org.
  • 3Vgl. etwa die Resolution 1435 des UN-Sicherheitsrats vom 24.9.2002.
  • 4Israel will Hunderte neue Häuser bauen, Focus Online, www.focus.de/politik/ausland/nahost/ost-jerusalem_aid_237531.html.
  • 5Peace Now: Momentum for Jewish construction in E.J’lem „unprecedented“, Haaretz, www.haaretz.com/hasen/spages/970234.html.
  • 6Schimon Peres: Die Versöhnung. Der neue Nahe Osten, Berlin 1993.
  • 7Anna Geis, Harald Müller und Wolfgang Wagner (Hrsg.): Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Zur Kritik einer Theorie liberaler Außen- und Sicherheitspolitik, Frankfurt, New York 2007. Siehe für den Fall Vereinigte Staaten jüngst Michael C. Desch: America’s Liberal Illiberalism. The Ideological Origins of Overreaction in U.S. Foreign Policy, International Security, Nr. 3 2007/08, S. 7–43.
  • 8Die Ultraorthodoxen lehnen hingegen die Teilnahme am Wehrdienst ab.
  • 9Uri Ben-Eliezer: Is a Military Coup Possible in Israel? Israel and French-Algeria in Historical-Sociological Perspective, Theory and Society, Nr. 3, Juni 1998, S. 311–349.