Umweltschutz? Unter Umständen
In der Klimapolitik gelten Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei traditionell als Bremser. Doch ihre Blockadehaltung scheint zu bröckeln.
Polen wurde vom Grundsatz der Klimaneutralität ausgenommen. Wir werden sie in unserem eigenen Tempo erreichen.“ Diese Sätze, die der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nach den Verhandlungen zur Klimaneutralität auf dem EU-Gipfel im Dezember 2019 sagte, fassen die offizielle polnische Haltung gegenüber dem Klimaschutz zusammen: Klimaschutz ist wichtig, aber wir brauchen noch Zeit.
Während die Staats- und Regierungschefs aller anderen EU-Länder für das Ziel gestimmt hatten, bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu werden, hatte Polen den Schlussfolgerungen des Rates zwar zugestimmt, aber eine Ausnahme durchgesetzt. „Ein Mitgliedstaat kann sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht verpflichten, dieses Ziel für sich umzusetzen“, heißt es nun. Der Europäische Rat werde im Juni 2020 darauf zurückkommen.
Auch Tschechien und Ungarn waren vor dem Gipfel noch kritisch, wurden allerdings im Laufe der Verhandlungsnacht umgestimmt. Auf dem vorherigen Gipfel im Sommer 2019 war die Entscheidung noch an der Blockade Polens, Tschechiens, Ungarns und Estlands gescheitert.
Dass Polen allein oder gemeinsam mit einem oder mehreren seiner Partner der Visegrád-Gruppe Entscheidungen für mehr Klimaschutz auf EU-Ebene blockiert, ist nichts Neues. Allerdings sind sich die Regierungen der V4 auf diesem Gebiet längst nicht so einig wie beim Thema Migration. Die vier Länder haben unterschiedliche Gründe, sich gegen Klimaschutz zu stemmen – oder eben auch nicht.
Der stärkste Klimaschutzgegner innerhalb der V4 ist Polen. Das ist kein Wunder, denn das Land nutzt wie kaum ein anderes in der EU die klimaschädliche Kohle zur Energieerzeugung. Gut drei Viertel des erzeugten Stroms kamen hier im Jahr 2018 aus der Kohle. Zudem ist die Kohle für viele stark mit der polnischen Identität verbunden, und die Gewerkschaften der Kohlearbeiter haben erheblichen politischen Einfluss. Vor der Klimakonferenz 2018 im polnischen Katowice organisierten drei Gewerkschaften eine Gegenkonferenz. Eingeladen war auch ein bekannter Klimawandelleugner aus den USA.
Wenn es nach der nationalkonservativen PiS-Regierung geht, wird der Kohleausstieg denn auch noch auf sich warten lassen. Im Energie- und Klimaplan, den alle EU-Staaten bis Ende 2019 an die EU-Kommission übermitteln mussten, ist jedenfalls vorgesehen, dass die Kohle im Jahr 2040 noch 28 Prozent der Stromerzeugung ausmachen wird. Doch auch in Polen gibt es Zeichen der Veränderung. Das hat damit zu tun, dass die Diskussion um den Klimaschutz durch den Hitzesommer 2018 und die Fridays-for-Future-Bewegung stärker in die Öffentlichkeit gerückt ist.
Seit den Parlamentswahlen im Oktober 2019 hat das Land ein Klimaministerium; der neue Klimaminister ist der frühere Vize-Umweltminister Michał Kurtyka. Ob das eine progressivere Klimapolitik innerhalb Polens bedeutet, ist noch nicht klar – dass sich die PiS überhaupt bemüht, klimafreundlich zu scheinen, ist aber neu.
Trotz der Vorherrschaft der Kohle gehen im Land immer mehr erneuerbare Energien ans Netz – unter anderem, weil durch die höheren Preise im EU-Emissionshandel Kohlestrom unattraktiver wird. So plant der staatliche Energiekonzern PGE Off- und Onshore-Windparks. Durch Förderung von kleinen Photovoltaikanlagen und -auktionen erlebt Polen zudem einen kleinen Solarboom: Anfang 2020 waren laut dem polnischen Netzbetreiber PSE knapp 1,3 Gigawatt an Solarstrom am Netz – eine Steigerung um fast 180 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Daneben will man Kohlestrom durch den Bau von Atomreaktoren mit einer Kapazität von sechs bis neun Gigawatt ersetzen – auch wenn deren Finanzierung noch nicht geklärt ist.
Tschechien fügt sich widerwillig
Auch Polens Nachbar Tschechien ist von der Kohle abhängig, allerdings zu einem geringeren Grad. Neben Kohlestrom, der 2018 etwas mehr als die Hälfte der Stromproduktion ausmachte, produziert das Land an den Standorten Temelín und Dukovany auch viel Atomstrom (35,5 Prozent ).
Aus diesem Grund hat Tschechien darauf bestanden, dass in den Schlussfolgerungen des Rates vom Dezember 2019 die Atomenergie als Mittel, um die Energiesicherheit zu gewährleisten, ausdrücklich erwähnt wird. Außerdem fürchtet die Politik, dass durch strengere Klimaschutzvorschriften die Wettbewerbsfähigkeit ihrer energieintensiven Industrie leidet.
Durch Einspeisevergütungen, die die Regierung 2005 einführte, gab es 2009 und 2010 im Land einen Solarboom, der auch durch gesunkene Installationskosten ermöglicht wurde. Da allerdings infolgedessen die Kosten für die Förderung der Erneuerbaren stiegen und die Politik zögerlich reagierte, werden in der tschechischen Öffentlichkeit die Erneuerbaren zurzeit kritisch diskutiert – und die Einspeisevergütungen wurden wieder abgeschafft.
Dennoch fügt sich das Land beim Ausbau der erneuerbaren Energien den EU-Zielen, wenn auch widerwillig. So will Tschechien laut seinem Energie- und Klimaplan den Anteil der Erneuerbaren bis 2030 auf 22 Prozent ausbauen – die EU-Kommission empfiehlt 23 Prozent. Immerhin hat in Tschechien die Diskussion um den Kohleausstieg begonnen. Eine Kohlekommission nach deutschem Vorbild soll bis September dieses Jahres verschiedene Szenarien für den Kohleausstieg und einen gerechten Strukturwandel erarbeiten.
In Ungarn spielt die Kohle eine weit geringere Rolle: Gegenüber fast 50 Prozent Atomstrom (2018) trägt die Kohle nur 15 Prozent zur Stromproduktion bei, einen weiteren großen Anteil macht mit 22,6 Prozent das Erdgas aus. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán erkennt theoretisch an, dass Klimaschutz notwendig ist. „Wir alle wissen, dass der Klimawandel ein Problem ist“, sagte er vor dem EU-Gipfel im Dezember. Allerdings koste Klimaschutz auch eine Menge Geld. Im eigenen Land hat er denn auch bisher nicht viel getan, um beispielsweise Erneuerbare zu fördern. Diese machten im Jahr 2017 in Ungarn nur 13 Prozent des Endenergieverbrauchs aus.
Diesen Anteil will Ungarn bis 2030 auf 23 Prozent erhöhen, wie es im kürzlich veröffentlichten nationalen Energie- und Klimaplan heißt. Außerdem sollen in zehn Jahren 90 Prozent der ungarischen Stromerzeugung CO2-frei sein. Das soll mit Solarenergie passieren – und noch mehr Atomstrom: Das Land will weitere Reaktorblöcke am Standort Paks eröffnen, gebaut vom russischen Staatskonzern Rosatom.
In der Slowakei trägt die Kohle 11,2 Prozent zur Stromerzeugung bei, während sogar 58,6 Prozent des Stroms aus der Atomkraft kommen. Der hohe Anteil von Erneuerbaren von 23,2 Prozent ist vor allem Wasserkraftwerken wie dem Kraftwerk Gabčíkovo zu verdanken – diese tragen 15,4 Prozent des erzeugten Stroms bei.
Während es im Stromsektor also kein sehr großes Einsparpotenzial für Emissionen gibt, ist das in der Industrie anders: Mit Fabriken von Volkswagen, PSA und Hyundai-Kia spielt in der Slowakei die Autoindustrie eine wichtige Rolle. Außerdem gibt es in der Slowakei energieintensive Stahl- und Chemiewerke. Dennoch gilt das Land als Klimavorreiter innerhalb der V4 – immerhin hat die Slowakei schon im Juni 2019 für die Klimaneutralität gestimmt, als die drei anderen Bündnispartner sich gemeinsam mit Estland querstellten. Das Land will bis 2023 aus der Kohle aussteigen, und seine neue Präsidentin, die Umweltjuristin Zuzana Čaputová, hat sich häufiger für mehr Klimaschutz ausgesprochen.
Langfristig auf Linie?
Werden die V4 also langsam auf die EU-Linie umschwenken? Das Argument, mit dem sich Polen bislang weigerte, war die Forderung nach finanzieller Unterstützung durch die EU. Denn den „Just Transition Fund“ – den Fonds für einen gerechten Übergang – hat die EU-Kommission erst nach dem Gipfel in diesem Januar vorgestellt. Dieser Mechanismus soll dafür sorgen, dass mithilfe von zusätzlichen 7,5 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt, Umwidmungen aus anderen EU-Mitteln und privaten Investitionen von 2021 bis 2027 insgesamt 100 Milliarden Euro für einen gerechten Strukturwandel mobilisiert werden. Polen soll größter Empfänger dieses Fonds werden. Zwar ist noch unklar, ob das versprochene Geld Polen reichen wird. Doch lassen erste Reaktionen der Regierung vermuten, dass man sich überzeugen lassen könnte, im Sommer für Klimaneutralität zu stimmen. „Das ist eine positive Bestätigung der Schlussfolgerungen des Rates vom Dezember“, twitterte Klimaminister Kurtyka, als die Entscheidung bekannt wurde.
Wenn das Thema im Juni wieder auf die Tagesordnung des EU-Gipfels kommt, sind auch die polnischen Präsidentschaftswahlen vorbei. Dass die polnische Regierung derzeit EU-Zusagen vermeidet, die die Ge-werkschaften verärgern, könnte auch Wahlkampftaktik sein. Allerdings heißt das noch lange nicht, dass Polen und auch die anderen Visegrád-Staaten von nun an mit Westeuropa auf einer Linie sein werden, was den Klimaschutz angeht.
In Ursula von der Leyens „Green Deal“ ist vorgesehen, das EU-Klimaziel von derzeit 40 Prozent Emissionsminderung gegenüber 1990 auf 50 oder 55 Prozent bis 2030 zu erhöhen. Während die angestrebte Klimaneutralität 2050 noch in weiter Zukunft liegt, könnte das schon viel früher konkrete Auswirkungen haben. So würden die Preise für CO2-Zertifikate steigen, wenn durch das neue Klimaziel auch weniger Papiere zur Verfügung stünden – und auch der Kohlestrom würde teurer. Dass Polen hier zustimmt, ist wenig wahrscheinlich. Denn wenn das Land nur das 2050-Ziel akzeptiert, ist es in einer weit günstigeren Lage: Damit könnte es Geld aus dem Just Transition Fund erhalten, müsste sich aber trotzdem nicht so bald von der dann teurer werdenden Kohle verabschieden. Alle V4-Staaten werden zudem weiterhin gut darauf aufpassen, dass die EU ihnen nicht den Aus- oder Neubau der Atomkraft verhagelt.
Während die V4 auf EU-Ebene weiter bremsen könnten, wächst bei den Regierungen der Hauptstädte das Engagement für den Klimaschutz – etwa im Rahmen des „Paktes der freien Städte“, dem „kleinen Visegrád“. Die Kooperation der V4 könnte also weitergehen, nur auf anderer Ebene. Und sogar im Sinne des Klimaschutzes.
Friederike Meier ist Redakteurin bei klimareporter.de und freie Journalistin u.a. für die Frankfurter Rundschau.
Internationale Politik Wirtschaft 1, März - Juni 2020, S. 56-59
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