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01. Juli 2006

Ukrainische Wünsche an die G-8

Plädoyer für einen weltweiten Dialog über Energiesicherheit

Die Ukraine als großer europäischer Staat muss versuchen, auf die Agenda der G-8 Einfluss zu nehmen. Denn mit der früheren G-7 hat das Land schlechte Erfahrungen gemacht. Nachdem die Ukraine 1991 die Unabhängigkeit errungen hatte, interessierte die westlichen Industrienationen auf dem G-7-Gipfel 1994 in Neapel nur die schnellstmögliche Schließung des Atomkraftwerks von Tschernobyl. Kiew musste große Verluste in Kauf nehmen. Der Rückgang der Stromerzeugung schwächte die Wirtschaftskraft. Tschernobyl wurde 2000 abgeschaltet, daraufhin blieben viele Regionen ohne Strom. Die G-7 hatte Kiew 700 Millionen Dollar für die Umwandlung des Sarkophags von Tschernobyl in ein umweltverträglicheres Objekt in Aussicht gestellt. 185 Millionen Dollar wurden bereits verbraucht – für Dienstreisen westlicher Experten. Fast ein Drittel der Mittel aus dem Sarkophag-Fonds, die im Verfügungsbereich der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung lagen, wurden für projektfremde Zwecke ausgegeben. Es gab noch weitere unerfüllte Versprechen der G-7 an die Adresse der Ukraine. Ein Projekt zum Bau eines Endlagers für verbrauchte nukleare Brennelemente wurde auf 2008 verschoben, für einen Kredit zur Errichtung von zusätzlichen Energieblöcken in den Atomkraftwerken Chmelnitzkij und Rowno wurden zu hohe, letztendlich unerfüllbare Bedingungen gestellt. Kurzum, die Geschichte der Beziehungen der Ukraine und der G-7 im Energiebereich ist kläglich verlaufen.

Heute ist die G-7 zu einer G-8 geworden, doch wie die Gaskrise im Winter gezeigt hat, hilft niemand dem Energietransitland Ukraine, sich gegen den stärkeren Energielieferanten Russland zu behaupten. Die Ukraine appelliert nun an den G-8-Gipfel in Sankt Petersburg, allgemeine, stabile, präzise und berechenbare Spielregeln aufzustellen. Die Ukraine selbst ist von internationalen Standards, was die Transparenz ihrer Gaspolitik angeht, weit entfernt. Verträge zwischen den beteiligten Unternehmen allein reichen heute nicht mehr aus, um reibungslose Energielieferungen zu garantieren. Die Ukraine sollte der G-8 folgende Vorschläge unterbreiten: Erstens brauchen wir ein international einheitliches Herangehen an Fragen der Energiesicherheit. Zweitens muss die Politik auf eindeutigen Prinzipien beruhen. Antworten müssen auf die Frage gefunden werden, was Marktpreise für Energieträger unter den Bedingungen der Existenz natürlicher Monopolisten bedeuten. Welches Niveau der Abhängigkeit von einem Lieferanten ist zumutbar? Wie kann sich ein Land gegen einen Missbrauch einer Monopolstellung schützen? Drittens sollte die G-8 ein völkerrechtlich verankertes Dokument annehmen, in dem die Rechte von Produzenten, Verbrauchern und Vermittlern festgeschrieben sind. Die Energiecharta wäre ein solches verbindliches Dokument, doch selbst westliche Länder haben sie nicht unterschrieben. Das Völkerrecht braucht einen neuen festen Begriff: das Recht der Energiesicherheit! In diesem Dokument wären die Regeln festgehalten, nach denen auch der Transit von Energieträgern zu bewerkstelligen wäre. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Energietransit für viele mittelosteuropäische Staaten eine Haupteinnahmequelle ist.

Manch einer im Westen könnte der Ukraine naiven Romantizismus vorwerfen. Natürlich ist den ukrainischen Politikern bewusst, dass solche Dokumente Jahre brauchen, bis sie wirklich ausgefeilt sind und ratifiziert werden können. Doch wenn Terroristen Menschen töten, wie es heute überall geschieht, hat die internationale Staatengemeinschaft auch keine Zeit, Jahre über das Problem zu debattieren, sondern muss sofort entschlossen handeln. Wenn ein Staat gegen die Regeln des internationalen Handels verstößt, werden Sanktionen gegen ihn verhängt. So muss auch das Problem der Energie-sicherheit gehandhabt werden: Die Welt braucht eine „internationale Energie-Verfassung“, die so inhaltsreich ist wie die UN-Charta. Streitigkeiten im Energiebereich müssen nach klaren Regeln gelöst werden können. Viertens muss eine besondere internationale Schiedsinstanz geschaffen werden, die Konflikte im Energiebereich schlichtet und die Interessen der Produzenten, Abnehmer und auch der Transitländer schützt. Das schon bestehende Stockholmer Schiedsgericht könnte diese aufgewertete Rolle übernehmen. Fünftens müssen die oben gestellten Fragen von der internationalen Staatengemeinschaft unverzüglich diskutiert werden. Eine maximale Anzahl von interessierten Ländern sollte sich zusammentun.

Warum ist Eile geboten? Weil es innerhalb der EU keine Gemeinsamkeiten zu Fragen der Energiesicherheit gibt. Manche Staaten sprechen von der Notwendigkeit einer einheitlich regulierten europäischen Energiepolitik, andere Länder bevorzugen bilaterale Verträge über vertrauliche Kanäle. Der Gaskon-flikt um die Ukraine sollte die EU aufrütteln und die Vielfalt der Positionen beenden. Die EU hat sich immer für die globale Einhaltung von Menschenrechten eingesetzt. Angenommen, sie würde jetzt sagen, Fragen der Medienfreiheit oder Folter sollten mit jedem Land separat reguliert werden. Dies wäre absurd, doch in der Energiepolitik verhält sich die EU genau so. Wer am lautesten von einem Gasdiebstahl spricht, dem wird geglaubt. Andererseits finden Gaserpressungsversuche kaum Widerhall, weil ihnen kein Rechtssystem zugrunde gelegt werden kann.

Die G-8, in der die weltgrößten Energiekonsumenten und der weltgrößte Energieproduzent versammelt sind, ist das geeignete Forum für den Beginn des konkreten Dialogs über weltweite Energiesicherheit. Die größten Transitländer dürfen dabei aber nicht außen vor bleiben. Die G-8 hat die Chance, ihre Führungsqualitäten und ihre Durchsetzungsfähigkeit in einer global so bedeutenden Frage unter Beweis zu stellen. In der Ukraine würde ein solches Engagement der G-8 für die Energiesicherheit mit großem Optimismus aufgenommen werden. Damit könnte die G-8 die alte moralische Schuld gegenüber der Ukraine abbüßen, die als Folge der systematischen Verletzungen von Versprechen entstanden ist.

Die Regulierung der Energieprobleme würde das Vertrauen zwischen denjenigen Ländern steigern, die heute noch mit alten Stereotypen aus dem Kalten Krieg zu kämpfen haben. Eine Konfrontation innerhalb der G-8 birgt große Gefahren für Staaten wie die Ukraine. Die Regionalmacht Ukraine ist kein Objekt geopolitischer Spiele zwischen Ost und West, sie sollte eher als Brücke zwischen Russland und der EU betrachtet werden. Natürlich sind Fragen der Energiesicherheit nicht die einzigen Themen auf der G-8-Agenda. Den Kampf gegen Seuchen wie die Vogelgrippe müssen die G-8-Staaten mit gleicher Intensität angehen wie die Energieprobleme.

ANATOLIJ K. OREL, geb. 1943, war u.a. Botschafter der Ukraine in Italien und Malta und Mitglied des Exekutivkomitees der UNESCO. Seit 2005 ist er Berater der „Partei der Regionen der Ukraine“ in internationalen Fragen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2006, S. 36‑37

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