Essay

01. März 2015

Überrumpelt, zögerlich, lethargisch

Der Westen leidet unter einer tiefen Krise seines Selbstwertgefühls

Skepsis ist das Urelement der Demokratie. Doch längst schon hat westlicher Selbstzweifel selbstzerstörerische Züge angenommen. Eine solche Grundhaltung trifft sich mit der Herrschaftsideologie des Putinismus, die Menschenrechte und demokratische Freiheiten zu Propagandaerfindungen und Camouflage westlicher Vormachtsinteressen erklärt hat.

Es war ein Moment euphorischer Hoffnung inmitten tiefster Erschütterung. Als am 11. Januar in Paris als Reaktion auf die terroristischen Morde dreieinhalb Millionen Franzosen auf die Straße gingen, um die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit sowie den gesellschaftlichen Pluralismus zu verteidigen, machte dies für einen Moment eindrucksvoll klar: Die so oft ideologiekritisch geschmähten oder gar totgesagten universalen Werte des Westens sind höchst lebendig. Die enorme Anteilnahme, die das angegriffene Frankreich nicht nur in anderen westlichen Gesellschaften erfuhr, zeigte, dass diese Werte von ihrer Leuchtkraft für die gesamte Menschheit nichts eingebüßt haben.

Was den freien Westen ausmacht, ist nicht mit Kategorien von Geografie oder „Kulturkreisen“ zu fassen, aber auch nicht mit ideellen Abstraktionen. Die westlichen Werte gelten nicht nur für Angehörige des „Abendlands“, für die Anhänger bestimmter Nationen, Stämme, Religionen oder philosophischer Schulen. Wie kostbar sie sind, wird in vollem Umfang erst bewusst, wenn ihre Todfeinde sich anschicken, sie auszulöschen.

Doch wie lange hat die Zuversicht gehalten, die westlichen Gesellschaften würden sich angesichts des dschihadistischen Mordfeldzugs wieder entschiedener auf ihre eigentliche innere Stärke, die Strahlkraft ihrer freiheitlichen politisch-gesellschaftlichen Errungenschaften besinnen? In Frankreich tendiert die Diskussion bereits wieder zu der Frage, ob die Ursache der terroristischen Exzesse nicht doch primär in den sozialen Missständen des Landes zu suchen sei – der französische Innenminister sprach sogar von einer „Apartheid“ der französischen Gesellschaft gegenüber muslimischen Einwanderern. Und im EU-Staat Griechenland ist eine denkwürdige Koalition aus Links- und Rechtsnationalisten an die Regierung gekommen, die durch ihre Affinität zu Wladimir Putins autoritärem Herrschaftsmodell ebenso miteinander verbunden sind wie durch ihren antiamerikanischen Affekt gegen die transatlantische Bindung Europas. Die Fähigkeit zu Selbstkritik und Selbstkorrektur gehört zweifellos zum Wesenskern des westlichen Demokratiemodells. Doch hat der westliche Selbstzweifel längst selbstzerstörerische Züge angenommen. Im weltpolitischen Kräftespiel verliert der Westen weiterhin an Boden, zeigt sich gegenüber wachsenden globalen Bedrohungen häufig überrumpelt, reagiert zögerlich bis lethargisch.

Halbherziges Engagement

Die USA haben sich zwar nach langem Sträuben doch noch zu einem militärischen Engagement gegen die sich im Irak und in Syrien ausbreitende Terrormiliz „Islamischer Staat“ durchgerungen. Doch wurde bald klar, dass durch Luftschläge allenfalls die weitere Ausbreitung der Horrormiliz eingedämmt, diese aber nicht im Ganzen zerschlagen werden kann. Der IS hat stattdessen ein regelrechtes staatsähnliches Gebilde in weiten Teilen Syriens und des Irak etablieren können. Ein gleichsam aus dem Boden gestampfter dschihadistischer Terrorstaat, der sich nicht zuletzt durch hemmungslose kriminelle Aktivitäten finanziert: Das ist eine neue, bislang nicht für möglich gehaltene Qualität in der Geschichte des Terrorismus wie im Prozess des Zerfalls jeglicher Stabilität im Nahen Osten. Die Austrocknung der weltweiten islamistischen Terrorfront ist jedenfalls in weitere Entfernung gerückt denn je.

Profiteure des halbherzigen Engagements der USA (um von den Europäern gar nicht zu reden) sind der Iran und Russland. Denn ihr Verbündeter und Günstling Baschar al-Assad konnte im Windschatten der Konzentration der Weltöffentlichkeit auf den IS seine diktatorische Macht festigen – wenn auch nur noch über einen Teil des Landes. Es gibt hier eine Art unausgesprochenen Deal: Dafür, dass Assad vom Westen nicht mehr angetastet wird und seinen Vernichtungsfeldzug gegen die eigene Bevölkerung ungestört weiterführen kann, dulden der syrische Diktator und seine Hintermänner in Teheran und Moskau die US-Luftangriffe auf syrisches Gebiet, ohne deshalb wegen einer vermeintlich völkerrechtswidrigen amerikanischen Aggression Zeter und Mordio zu schreien. Dabei wurden nach gut belegten Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte im Laufe des vergangenen Jahres 2100 Menschen von den Schergen des Assad-Regimes zu Tode gefoltert. In den vergangenen vier Jahren sind 12 000 Inhaftierte durch Hunger, fehlende medizinische Versorgung und Folter in den Gefängnissen des Regimes umgekommen.

Der Unterschied zwischen Assad und IS: Letzterer mordet in aller Öffentlichkeit und brüstet sich in Videos vor aller Welt mit seinen horrenden Untaten. Das vom Iran und Russland gestützte Regime in Damaskus dagegen begeht seine Verbrechen im Verborgenen. Deshalb nimmt die westliche Öffentlichkeit davon kaum Notiz, geschweige denn, dass sie sich in auch nur annähernd ähnlicher Weise darüber empören würde wie über die Gräuel des IS. Schlimmer noch, es häufen sich im Westen die Stimmen, die erklären, es sei doch besser, sich mit Assad als dem „kleineren Übel“ und der Islamischen Republik Iran als vermeintlichem Stabilitätsfaktor zu arrangieren.

Faktisch scheint Washington unter Obama diesen Weg bereits eingeschlagen zu haben. Ein Abkommen mit dem Iran über dessen Atomprogramm zu erzielen, ist eine der obersten Prioritäten des US-Präsidenten. Die Wahl des vermeintlichen Reformers Rohani zum iranischen Präsidenten hat bei ihm wie in der gesamten westlichen Welt die Illusion genährt, die Islamische Republik könne zu einem verantwortlichen Partner in einer neuen Sicherheitsarchitektur für den Nahen Osten geläutert werden.

Tatsächlich aber setzt das iranische Regime nicht nur seine brutale Repressionspolitik im Inneren, sondern auch seine aggressive, auf Vorherrschaft in der Region zielende Außenpolitik fort. Die nicht vom IS besetzten Teile des Irak werden heute von proiranischen Milizen beherrscht, die ihrerseits seit Jahren massiv die sunnitische Bevölkerung terrorisieren. Eine proiranische Miliz hat jüngst im Jemen die Macht ergriffen. Die Atomverhandlungen führt das Teheraner Regime nach wie vor unter der Prämisse, sein Potenzial zum Bau nuklearer Waffen auf keinen Fall aufzugeben und für einige scheinbare Zugeständnisse dennoch die Aufhebung der Sanktionen der Weltgemeinschaft zu erreichen.

Während der Westen selbst eine wegweisende Perspektive für den Nahen Osten vermissen lässt, schmiedet der Iran in der Region eine antiwestliche Allianz. Unter diesem Vorzeichen haben der Iran und Russland soeben ein Militärabkommen geschlossen. Und das just zu dem Zeitpunkt, da Teheran Israel offen mit Angriffen drohte, die von der libanesischen Hisbollah dann auch prompt ausgeführt wurden. Diese vom Iran gesteuerte Miliz mordet in Syrien auf Seiten Assads und dürfte dadurch in den Besitz von Raketen mit mehreren hundert Kilometern Reichweite gelangt sein – aus chinesischer und russischer Produktion. Gleichwohl klammert man sich im Westen an die Vorstellung, außer dem Iran sei vor allem Russland als Verbündeter bei der Restabilisierung der Region unverzichtbar – was oftmals sogar als Argument dafür angeführt wird, Putin im Ukraine-Konflikt nicht zu hart anzugehen. Die destruktive Rolle, die Moskau auch im Nahen Osten spielt, wird kaum thematisiert.

Ratloses Lavieren des Westens

Die weltpolitische Desorientierung des Westens ist nicht allein mit seiner nachlassenden Bedeutung in Relation zu anderen, aufstrebenden Mächten in der viel beschworenen multipolaren Weltordnung zu erklären. Sie ist auch Ausdruck einer tiefen Krise seines Selbstwertgefühls, eines immer weiter um sich greifenden tiefen Zweifels daran, ob die universalen Werte, für die er steht, auf „fremde Kulturkreise“ überhaupt anwendbar seien. Nach den schmerzhaften Erfahrungen im Irak und in Afghanistan – die zu einem übereilten, zu frühzeitig angekündigten westlichen Rückzug geführt haben – und der grausamen Enttäuschung der euphorischen Erwartungen, die der „Arabische Frühling“ kurzfristig geweckt hatte, hat die Demokratisierung als strategische Perspektive für den Nahen Osten im Westen kaum noch Anhänger. Ein simples Zurück in die Komplizenschaft mit etablierten Despotien ist jedoch auch nicht möglich. Das mehr oder weniger ratlose Lavieren des Westens wird von seinen Feinden in der Region genauestens registriert und ermutigt sie zu immer ungehemmteren Offensiven.

Wie sehr der Westen derzeit von globalen Entwicklungen überrollt wird, hat sich drastisch an der Reaktion namentlich der Europäer auf die russische Aggressions- und Annexionspolitik gegen die Ukraine gezeigt. Gegen Putins immer weiter verschärften militärischen Hybridkrieg rang sich der Westen zwar immerhin zu wirtschaftlichen Sanktionen durch, doch die viel beschworene Einheit der EU gegenüber Russland begann in dem Maße zu bröckeln, wie sich die Kreml-Führung trotz des Einbruchs der russischen Wirtschaft davon unbeeindruckt zeigte. Tickt der Putinismus doch keineswegs nach der west­lichen Logik der Wohlstandsmehrung als höchstem Ziel aller Politik. Vielmehr schwört er sein Volk systematisch auf unbegrenzte Opferbereitschaft im Dienste der Mehrung russischer Macht ein.

Ausgerechnet als Putin im Januar seinen verdeckten Krieg massiv intensivierte, konnten sich die Europäer zu keiner weiteren Verschärfung der Strafmaßnahmen mehr durchringen. Was die deutsche Bundesregierung betrifft: Gewiss nimmt Berlin gegenüber Putin im Grundsatz eine klare Position ein, indem es die Annexion der Krim und die Aufrüstung der ostukrainischen Separatisten als völkerrechtswidrig verurteilt. Doch in der Praxis pflegte die Bundesregierung seit Beginn des Konflikts eine Sprache der Äquidistanz statt einer klaren Unterscheidung zwischen Aggressor und Angegriffenem. Die zahllosen Appelle namentlich des sozialdemokratischen Außenministers an „beide Konfliktparteien“, zum Dialog zurückzukehren, suggerieren, hier stünden sich zwei Akteure auf der gleichen politischen und moralischen Ebene gegenüber. Dass es sich bei den russischen militärischen Aktivitäten in der Ostukraine jedoch nicht „nur“ um die Verletzung der Souveränität des Nachbarstaats, sondern in Wahrheit um eine Invasion handelt, die zu verschleiern sich die Kreml-Propaganda nicht einmal besondere Mühe gibt – diese Tatsache auszusprechen, meiden die Verantwortlichen in Berlin wie der Teufel das Weihwasser.

Das Mantra der Bundeskanzlerin, es gebe „keine militärische Lösung“ des Konflikts – als führe Putin diese militärische Lösung nicht seinerseits längst herbei – , ist die Folge einer offenbar durch keine Erfahrung mit Putins Ruchlosigkeit zu erschütternden Illusion, der Kreml-Herr sei durch beharrliches gutes Zureden doch wieder auf den Pfad des internationalen Rechts zu führen. Handfeste Konsequenzen zeitigte diese Haltung in Angela Merkels kategorischer Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine und ihrer öffentlichen Feststellung, Putin werde sich durch eine Bewaffnung des Landes nicht beeindrucken lassen. Zunächst einmal liegt die Kanzlerin damit inhaltlich falsch: Putin, der kein anderes Prinzip respektiert als das von Macht und Übermacht und der den Westen für dessen „dekadente“ Schwächlichkeit verachtet, ist durch nichts anderes zu beeindrucken als eindeutige Demonstrationen von Stärke und Entschlossenheit. Seine Logik entspricht der Stalins, der einst höhnisch bemerkte: „Der Papst? Wie viele Divisionen hat der Papst?“

Unabhängig davon, was man von Waffenlieferungen zum jetzigen Zeitpunkt hält: Eine militärische Unterstützung der Ukraine von vorneherein auszuschließen und Putin sogar noch vorauseilend seine Unverwundbarkeit zu bestätigen, ist ein gravierender diplomatischer Kunstfehler. Es bedeutet, dem Aggressor die eigene Ohnmacht a priori auf dem Präsentierteller zu servieren. Völlig zu Recht hat der frühere deutsche Spitzendiplomat und Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger angeregt, die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine als diplomatisches Druckmittel gegenüber Moskau einzusetzen. Ähnlich wie beim NATO-Doppelbeschluss Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre sollte die Botschaft an Putin lauten: Im Gegenzug für substanzielle Zugeständnisse von Seiten Moskaus würden wir auf eine Bewaffnung der ukrainischen Armee verzichten, andernfalls werden wir sie durchführen. Dass erfolgreiche Diplomatie immer auch handfeste Druckmittel voraussetzt, gehört zum Einmaleins internationaler Sicherheitspolitik. Im Falle des Konflikts mit Putin scheint dieses aber gründlich in Vergessenheit geraten zu sein.

Geschichtspolitik als Waffe

Putin setzt mit virtuoser Demagogie auch die Geschichtspolitik als Waffe im Desinformationskrieg gegen den Westen ein. Eingebläut werden soll der westlichen Öffentlichkeit, das Putin-Regime und sein Krieg gegen die Ukraine stünden in der Tradition des Sieges der Roten Armee über die nationalsozialistischen Invasoren, wobei die Ukrainer in diesem Zerrbild die Rolle der „Faschisten“ oder „Hitleristen“ einnehmen müssen. Dass die Rote Armee jedoch nicht nur die Armee Russlands, sondern aller Nationalitäten der früheren Sowjetunion war, also auch der Ukraine, wird dabei ebenso unterschlagen wie die Tat­sache, dass es damals nicht nur eine große Zahl ukrainischer, sondern auch russischer Kollaborateure mit den NS-Okkupanten gab. Es wird der Eindruck erweckt, die Ukraine habe damals im Bündnis mit Hitler-Deutschland gestanden und sei nicht vielmehr ein überfallenes Land gewesen, das von den NS-Besatzern unterjocht und bis aufs Blut ausgeplündert wurde.

Putins Versuch, die Sowjetunion zum eigentlichen „Befreier der Menschheit vom Faschismus“ zu stilisieren – was die Westalliierten bestenfalls auf Randfiguren reduziert – und dieses Erbe für sich zu reklamieren, steht freilich in schreiendem Kontrast zu der Tatsache, dass der Kreml-Chef als großzügiger Förderer rechtsradikaler Parteien in Europa, von dem durch ihn finanzierten französischen Front National bis hin zur offen neonazistischen Jobbik in Ungarn, auftritt. Mehr noch, Putin bringt es fertig, die angeblich tödlich verfeindeten Links- und Rechtsradikalen Europas unter der Fahne des Antiliberalismus und Antiamerikanismus zu einen, was die in dieser Hinsicht bahnbrechende griechische Koalition aus Links- und Rechtsnationalisten manifestiert.

Putins zynische Instrumentalisierung des antinazistischen Konsenses bleibt im Westen, und vor allem in Deutschland, dennoch nicht ohne Wirkung. Massiv wird der russische Präsident diese Karte daher wohl Anfang Mai anlässlich des kommenden Jahrestags des Sieges der Alliierten über das Dritte Reich ausspielen. Wer von seiner glorifizierenden Darstellung des makellosen Antifaschismus der Sowjetunion abweicht und etwa gar darauf hinweist, dass der 8. Mai 1945 für einen Teil Europas zwar die Befreiung von der NS-Barbarei, nicht aber von jeglicher totalitären Diktatur bedeutete, wird von der russischen Propaganda und ihren hiesigen Schallverstärkern wie der unsäglichen Ex-Journalistin Gabriele Krone-Schmalz vermutlich der Geschichtsrelativierung und Herabwürdigung der immensen Opfer bezichtigt werden, die von den sowjetischen Völkern für die Niederwerfung des Nationalsozialismus erbracht wurden.

Doch es gibt noch ein anderes Motiv, das dem Kreml in Deutschland einen übermäßigen Verständnisbonus sichert: das Gefühl der Dankbarkeit für das größte historische Geschenk, das den Deutschen im 20. Jahrhundert zuteil­wurde. Ob Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl, Horst Teltschik oder Hans-Jochen Vogel, von Helmut Schmidt gar nicht zu reden – so gut wie geschlossen ist jene Politikergeneration, die führend an der Architektur der deutschen Einheit beteiligt war oder zuvor für die Entspannungspolitik stand, im Ukraine-Konflikt als Fürsprecher größtmöglicher Einfühlung in die russischen Machtinteressen aufgetreten.

Das Credo der Elder Statesmen lautet: Nur wenn es gute, enge Beziehungen zu Russland pflege, seien Deutschlands Sicherheit und Wohlstand gewährleistet. Es ist diese Überzeugung, die sich als Ergebnis der erfolgreich vollzogenen Einheit in ihr Bewusstsein gegraben hat. Im Nachhinein wird damit die Kluft klar, die das deutsche Bewusstsein über die Bedeutung von 1989/90 von dem osteuropäischer Nationen, namentlich der Balten und Polen, trennt. Während diese das Nachgeben der Sowjetunion als Resultat ihres beharrlichen Freiheitskampfs betrachten, herrscht in Deutschland die Vorstellung vor, der friedliche Umsturz sei in erster Linie der Einsicht und Großherzigkeit Gorbatschows zu verdanken. Beharrliche diplomatische Vertrauensbildung habe schließlich zur inneren Läuterung der zuvor aggressiven Sowjetunion geführt.

Was dieser lange Zeit unangreifbar scheinenden totalitären Macht gegenüber funktioniert habe, so der Kurzschluss dieses deutschen Denkens, müsse auch gegenüber Putin gelingen. Um dieses Narrativ zu begründen, müssen die Elder Statesmen jedoch wesentliche Teile aus ihrer eigenen Erfolgsgeschichte ausblenden. Denn Schmidt, Genscher und Kohl standen einst an vorderster Stelle bei der Formulierung und Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses, der wesentlich die Wende in der sowjetischen Politik einleitete. Erst als die Sowjets erkannten, dass der Westen tatsächlich aufzurüsten bereit war, und ihnen klar wurde, dass sie einen weiteren Rüstungswettlauf nicht würden durchhalten können, bekamen die Reformideen Gorbatschows überhaupt eine Chance.

Insgesamt war die Entspannungspolitik nur vor dem Hintergrund einer massiven Abschreckung möglich. Genau diese fehlt aber heute gegenüber Putins neosowjetischem und großrussischem Expansionismus. Weder seine massive militärische Aufrüstung noch seine unverhohlene Unterstützung für extreme Kräfte von links und rechts können Europas Eliten bisher davon überzeugen, dass er eine strategische Bedrohung für ganz Europa ist, der man auch mit entsprechenden Rüstungsanstrengungen begegnen muss. Stattdessen wird immer von Neuem wiederholt, man wolle auf keinen Fall einen neuen Kalten Krieg provozieren und müsse alles vermeiden, was den Konflikt mit Moskau weiter eskalieren könnte. Und das, obwohl Putin diesen Kalten Krieg bereits längst in vollem Umfang führt und seinen heißen Krieg in der Ukraine ständig weiter eskaliert. Die Wahrscheinlichkeit steigt daher, dass Europa seiner Gewaltlogik über kurz oder lang nachgeben wird – auf Kosten der Ukraine und ihrer Hoffnung auf Demokratie.

Wahrheit ist relativ. Wirklich?

Doch nicht nur offene Sympathisanten des Putinismus in Westeuropa und Apologeten einer falsch verstandenen Entspannungspolitik öffnen den Desorientierungsmanövern des Kremls ein Einfallstor in den Westen. Es gibt auch eine strukturelle Veränderung in der Bewusstseinslage der westlichen Öffentlichkeit, die dem Defätismus in Bezug auf die Verteidigung westlicher Werte über Jahre hinweg den Boden bereitet hat. Was hier gewirkt hat, könnte man das Prinzip der Postmoderne nennen. Der ihr entsprechenden posthistorischen Denkschule zufolge gibt es nicht nur eine, und erst recht keine objektive Wahrheit, sondern vielmehr nur viele subjektive, aus jeweils eigenen Erfahrungen gespeiste Wahrheiten. Als Kritik an dogmatischen Weltbildern und geschlossenen Ideologien schien dieser Relativismus zunächst durchaus zum Freiheitsverständnis pluralistischer Demokratien zu passen, beruht deren Funktionieren doch auf der gegenseitigen Respektierung und Austarierung selbst gegensätzlichster politischer und kultureller Ansichten. In der liberalen Demokratie kann und darf sich in der Tat nie eine einzige, letztgültige Wahrheit durchsetzen, sondern stets nur eine Teilwahrheit, die aus der Auseinandersetzung zwischen verschiedensten Interessen und gesellschaftlichen Positionen hervorgegangen ist und immer wieder aufs Neue infrage gestellt werden kann.

Doch in seiner radikalisierten Form suggerierte der Posthistorismus, es gebe überhaupt keine objektiven Kriterien, um den Unterschied zwischen Tatsache und Fiktion, Meinung und Gerücht, Wahrheit und Lüge festzustellen. Alles sei Interpretation und Konstruktion von Wirklichkeit, eine von ihrer subjektiven Auslegung unabhängige Wirklichkeit existiere nicht. Was sich jeweils als wahr oder falsch erweise, hänge allein von Machtverhältnissen beziehungsweise der Fähigkeit der jeweiligen Akteure ab, ihre Interpretation der Wirklichkeit medial im Bewusstsein der Gesellschaft zu verankern.

Aus einem machtkritischen Impetus entstanden, verwischte dieser postmodernistische Denkstil so am Ende den Unterschied zwischen demokratischer und autoritärer Macht. Auch das Freiheitsversprechen der westlichen Welt erschien in diesem Licht nur als Bestandteil einer von vielen Herrschaftserzählungen, die der Rechtfertigung der Macht dienen. Die Kehrseite dieses Generalverdachts gegen die westlichen Werte war eine implizite Beschönigung diktatorischer und totalitärer Herrschaft, die nun nicht mehr als etwas gegenüber der Demokratie qualitativ Anderes, sondern allenfalls graduell Schlechteres erschien. Dementsprechend geriet die westlich-demokratische Kritik an Zuständen unter autoritären Regimen in den Geruch, Heuchelei und Anmaßung zu sein, mit der die Herrschenden der westlichen Demokratien von ihren eigenen Machtpraktiken ablenken wollten. Was als libertärer Impuls gegenüber jeder Form der Macht begann, endete damit, implizit die Legitimität von Diktaturen zu affirmieren.

Die durch das Internet und die sozialen Medien erzeugte Kommunikationsrevolution hat diese Nivellierung der Wahrnehmung von demokratischer und autoritärer Macht kräftig befördert. Das Netz erscheint heute vielen als eine Art informelle Gegenmacht zu den vermeintlich verordneten Wahrheiten der Regierenden und den von ihnen angeblich abhängigen „offiziellen“ Medien. Jede auch noch so abwegig erscheinende „Information“, die über das Netz verbreitet wird, erhält in dieser Sicht tendenziell den Rang einer gegenüber „traditionell“ recherchierten Nachrichten und Analysen mindestens gleichwertig zu berücksichtigenden Sicht auf die Wirklichkeit.

In der extremen Variante dieses Ultraskeptizismus erscheint dann jede Information, die den Standpunkt des Westens etwa im Ukraine-Krieg stützt, per se als verdächtig, eine von den Herrschenden manipulierte Lüge zu sein. Eine gewaltige russische Manipulationsmaschinerie, die ihrerseits systematisch Propagandafiktionen fabriziert und in die Medien einspeist, macht sich diese Grunderschütterung der Unterscheidungsfähigkeit von relativer Wahrheit, wie sie unabhängiger Journalismus zu bieten hat, und dreister Desinformation zunutze.

Die bürgerlichen Milieus, die sich zu Zeiten des Kalten Krieges gegenüber solcher – auch damals massiv präsenter – propagandistischer Einflussnahme relativ immun zeigten, befinden sich heute in Auflösung. An ihre Stelle tritt eine immer weiter zersplitterte westliche Öffentlichkeit, die im Meer schier unübersehbarer Informations- und Desinformationsfluten treibt, und in welcher eine Fundamentalskepsis gegenüber den eigenen, westlichen Werten als Ausweis für bürgerliche Kritikfähigkeit gilt.

Diese Grundhaltung trifft sich in vielen Punkten mit der Herrschaftsideologie des Putinismus, die Menschenrechte und demokratische Freiheiten zu westlichen Propagandaerfindungen und die universalen Werte des Westens zu bloßer Camouflage für westliche Vormachtinteressen erklärt. Umso mehr, so die sinistere wie paradoxe Schlussfolgerung der Kreml-Ideologen, sei Russland berechtigt, mit amoralischer Gewalt seine Interessen durchzusetzen, tue der Westen doch in Wirklichkeit genau dasselbe. Diese Scheinlogik findet heute Resonanz nicht nur bei linken und rechten Putin-Anhängern, sondern auch in Teilen der politischen und gesellschaftlichen Mitte. So trägt das Putin-Regime die moralische Verrohung und Zerstörung rechtlicher Maßstäbe, mit der es die eigene Gesellschaft überzieht, auch in die westlichen Gesellschaften hinein.

Dr. Richard Herzinger ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft der Welt-Gruppe.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2015, S. 118-127

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