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13. Febr. 2012

Tauwetter in Birma

Wie der Westen den Reformprozess unterstützen kann

„Wenn erkennbar ist“, erklärte Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel vor seiner Reise nach Birma, „dass der derzeitige Öffnungsprozess dauerhaft ist, kann in der EU über eine Lockerung der Sanktionen nachgedacht werden.“ Die Reformen werden fraglos zu weniger Repression führen. Sie sind aber zu zaghaft, um eine schnelle Demokratisierung des Landes zu bewirken. Die deutsche Regierung und die EU müssen eine neue Strategie jenseits der Sanktionspolitik entwickeln.

Als Birmas neuer Präsident Thein Sein bei seiner Amtseinführung im März 2011 weitreichende politische Reformen und eine Öffnung des lange abgeschotteten Landes versprach, glaubte niemand dem Präsidenten, der ein langjähriges Mitglied des herrschenden Staatsrats für Frieden und Entwicklung (SPDC) war. Der Grund dafür ist einfach: 20 Jahre hatten die Militärs der internationalen Gemeinschaft Reformen versprochen – gehalten wurden diese Versprechen fast nie. Die Militärjunta regierte mit massiven Repressionen: Politiker der Nationalen Liga für Demokratie (NLD), die 1990 die freien Wahlen gewonnen hatte, wurden verfolgt und eingesperrt. Leibhaftiges Symbol der Unterdrückung wurde Aung San Suu Kyi, die Tochter des Staatsgründers und Anführerin der NLD. Die Ikone der Demokratiebewegung verbrachte 16 der vergangenen 20 Jahre im Hausarrest. Auch die ethnischen Gruppen des Vielvölkerstaats, die für einen eigenen Staat oder ein gewisses Maß an Autonomie kämpften, wurden unterdrückt. Viele von ihnen rebellierten bereits seit der Staatsgründung gegen Versuche der Assimilation. Der 60 Jahre andauernde „permanente Kriegszustand“ führte zur Konzentration politischer Macht in den Institutionen des Militärs, zur Ausbildung eines „Garnisonsstaats“ (Harold D. Lasswell), der sämtliche zivilen Institutionen dominierte. Seit dem Militärputsch von 1988 gab es überhaupt keine zivilen Institutionen mehr. Stattdessen regierte der Staatsrat (SPDC) per Dekret. Das Militär stützte sich vor allem auf Repression und auf die Kooptation einer kleinen Wirtschaftselite, die eng mit den obersten Generälen des Landes zusammenarbeitete. Mit umfassenden Sanktionen des Westens konfrontiert bauten sie die Wirtschaftsbeziehungen nach Asien aus – hier insbesondere nach China und in die benachbarten ASEAN-Staaten.

Der birmanische Frühling

Allem anfänglichen Misstrauen zum Trotz erlebt Birma (Myanmar) seit der Wahl Thein Seins zum Präsidenten ein politisches Tauwetter: Er entließ im Oktober 2011 und Januar 2012 mehrere Hunderte politische Gefangene aus der Haft. Die Freilassung erfolgte in Wellen, da sie gegen den Widerstand konservativer Militärs durchgesetzt werden musste. Die rigide Pressezensur des Landes wurde ebenfalls gelockert. Auch die Blockade der Internetseiten ausländischer Medien und der Exilantensender wurde aufgehoben. Gewerkschaften wurden erstmals seit 50 Jahren wieder zugelassen. Im November erließ das Parlament ein Gesetz, das Demonstrationen erlaubt. Im neu gewählten Parlament wurden Minister aufgrund politischer Versäumnisse kritisiert, im Fernsehen wurde darüber berichtet – ein Novum in Birma, das den politischen Klimawandel verdeutlicht.

Der neue Präsident kündigte auch eine neue Wirtschaftspolitik an und forderte die Exilanten auf, ins Land zurückzukehren, um beim Wiederaufbau zu helfen. Im Oktober 2011 entschied der Präsident, den Bau eines von China finanzierten, in der Bevölkerung umstrittenen Megastaudamms im Norden Birmas auszusetzen: ein Signal, dass die Regierung mehr auf Wünsche der Bevölkerung eingeht als zuvor? Thein Sein leitete auch eine Aussöhnung mit der seit Mai 2010 aufgelösten NLD ein und traf sich mehrfach zu Gesprächen mit der Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi. Die Gesprächspartner tauschten sich über Fragen der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes aus. Diese Gespräche haben zur Vertrauensbildung zwischen den Konfliktparteien beigetragen. Suu Kyi bezeichnete den neuen Präsidenten als „guten Zuhörer“ und unterstützte ihrerseits die Reintegration ihrer Partei in das vom Militär dominierte politische System.

Einen neuen Kurs schlug Thein Sein auch gegenüber den ethnischen Minderheiten ein. Der Präsident startete im Herbst 2011 eine neue Friedensinitiative und erklärte die Lösung der nationalen Frage zur Priorität seiner Politik. Anders als die Militärregierungen der Vergangenheit formulierte der Präsident keine Vorbedingungen für Verhandlungen. Zudem stellte er eine politische Lösung der nationalen Frage in Aussicht: Eine Wiederauflage der Panglong-Konferenz, der historischen Zusammenkunft der ethnischen Gruppen zur Gründung des birmesischen Staates im Jahre 1947, sei möglich. Gesandte der Regierung trafen sich jüngst mit Vertretern der seit mehr als 50 Jahren um Unabhängigkeit kämpfenden Gruppen der Karen National Union (KNU), der Kachin Independence Organisation (KIO) und der Chin National Front (CNF). Das Resultat lässt sich als historisches Ereignis einstufen: Friedensabkommen wurden mit der KNU und der CNF erzielt, während die Gespräche mit der KIO weiter andauern. Die Regierung scheint zu einem politischen Dialog bereit und signalisiert Gesprächsbereitschaft – ein völlig neuer Ansatz in einem Land, in dem der Bürgerkrieg seit mehr als 60 Jahren zum Alltag gehört. Der Weg zur Lösung der nationalen Frage scheint jedoch noch weit und steinig. Das Misstrauen zwischen den Gruppen ist groß, nicht zuletzt durch die weiter anhaltenden Kämpfe, Menschenrechtsverletzungen in den Kampfgebieten und jahrelang nicht eingehaltene Versprechungen und Fehlwahrnehmungen auf beiden Seiten.

Liberalisierung, autoritäre Regression oder demokratischer Durchbruch?

Die politischen Reformen sind erst der Anfang einer langsamen und schwierigen Liberalisierung des Garnisonsstaats, deren treibende Kräfte der Präsident und fortschrittliche Elemente im Parlament sind. Diesen Kräften stehen jedoch Hardliner in Parlament und Militär gegenüber, die die Liberalisierung bedrohen. Zahlreiche von der oppositionellen NDF im Parlament eingebrachten Gesetze – wie etwa ein Gesetz zur Verbesserung der Haftbedingungen in den Gefängnissen oder zur vollständigen Aufhebung der Zensur – scheiterten vorerst am Widerstand konservativer Abgeordneter der Regierungspartei. 

Eine weitergehende Reform der repressiven Gesetze ist jedoch notwendig, um Fortschritte bei der Demokratisierung erzielen zu können. So wird die neu gewonnene Demonstrationsfreiheit durch eine Reihe älterer Gesetze ad absurdum geführt. Die Schwierigkeiten der Liberalisierung lassen sich auch auf die weiterhin einflussreiche Stellung des Militärs zurückführen. In der „disziplinierten Demokratie“ stellen militärnahe Kräfte rund drei Viertel der Abgeordneten im Parlamenten, das Militär besetzt nach wie vor die wichtigsten Ministerposten. Die meisten Generäle haben ihre Uniformen ausgezogen und sind als Zivilisten der Regierungspartei, der USDP, beigetreten. Das Militär ist nun Wächter über die politischen Entwicklungen – ähnlich wie in Thailand und in der Türkei. Sollten die zivilen Politiker einen Kurs einschlagen, der den Interessen des Militärs entgegenläuft oder die staatliche Integrität gefährdet, muss ein Putsch befürchtet werden.

Die Hardliner im Militär beobachten den Öffnungsprozess argwöhnisch. Deutlich ist die Angst spürbar, unter demokratischen Vorzeichen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Darüber hinaus hat das Militär handfeste Interessen, wie die Abschöpfung von Einnahmen aus den natürlichen Ressourcen der Minderheitengebiete. Erst im Dezember 2011 zeigte sich, dass das Militär noch immer autonom handelt, als es seine militärische Offensive im Kachin-Staat trotz gegenteiliger Anweisungen von Präsident Thein Sein fortsetzte. Folglich darf das Reformtempo nicht zu hoch sein, um mächtige Generäle nicht gegen die Führung aufzubringen. Es wird wahrscheinlich noch Jahre dauern, ehe die zahlreichen restriktiven Gesetze der Vergangenheit beseitigt sind und ein dauerhafter Frieden mit allen ethnischen Gruppen geschaffen ist. Hier bedarf es eines stetigen Reformimpulses, der bereits durch die Nachwahlen im April 2012 gesetzt werden könnte. Bei den Wahlen, bei denen 48 Parlamentssitze neu vergeben werden, könnten die Opposition weiter an Bedeutung gewinnen und die Demokratisierung des Landes weiter gestärkt werden. Zu einer Veränderung der Machtbalance innerhalb des Landes wird es jedoch nicht kommen, da die Regierungspartei zusammen mit der Militärfaktion über 80 Prozent der Sitze verfügt.

Mit einem endgültigen demokratischen Durchbruch dürfte erst mittel- bis langfristig zu rechnen sein. Hierzu müssen sich die Oppositionsparteien langsam politische Freiräume erkämpfen, die eine weitere Liberalisierung ermöglichen. In elektoral-autoritären Regimen wie in Birma findet die Auseinandersetzung meist in drei Arenen statt: bei Wahlen, in den Medien und vor den Gerichten. Die nächsten regulären Parlamentswahlen werden 2015 stattfinden. Dies ist der früheste Zeitpunkt für eine weitreichende Stärkung demokratischer Kräfte.

Auch die Medien des Landes stehen erst am Beginn eines langsamen Veränderungsprozesses. Dominiert wird die Medienlandschaft weiterhin von den Staatsmedien, die zwar mittlerweile über die Opposition berichten. Kritik an der Regierung jedoch bleibt weiterhin tabu und eine Zensur findet nach wie vor statt. Auf diesem Gebiet könnten Veränderungen jedoch relativ schnell greifen, wenn die Pressefreiheit erst einmal rechtlich garantiert ist.

Das schwächste Glied dürften wohl die Gerichte des Landes sein. Zwar hat die Verfassung ein Verfassungsgericht geschaffen, das kürzlich eingerichtet wurde. Angesichts der schwachen rechtsstaatlichen Basis und der fehlenden Unabhängigkeit des Gerichts – die Richter werden nach fünf Jahren wieder ernannt und sind damit weitgehend abhängig vom Wohlwollen der Machthaber – ist hier nicht viel zu erwarten. Mit dem Durchbruch der Demokratie ist folglich erst mittel- bis langfristig zu rechnen. In diesem Zeitraum sind Rückschritte zu befürchten und die Gefahr eines Putsches bleibt real. Das Militär muss folglich seine Interessen auch in der neuen Ordnung gewahrt sehen.

Den Wandel unterstützen

Die innenpolitische Öffnung des Landes ermöglicht nun eine Beendigung der Isolation des Landes durch den Westen. In den vergangenen Monaten hat der Besuchsverkehr nach Birma deutlich zugenommen. Im November 2011 hat mit Hillary Clinton zum ersten Mal seit 50 Jahren eine amerikanische Außenministerin das Land besucht, um auszuloten, wie die Vereinigten Staaten die Demokratisierung in Birma unterstützen können. Ebenfalls im November war der Parlamentarische Staatssekretär im deutschen Auswärtigen Amt Werner Hoyer in Birma, in diesen Tagen ist der deutsche Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel dort unterwegs.

Mit diesen Maßnahmen wird die Kommunikation mit der Führung (und Opposition) erleichtert, ohne dass die Sanktionspolitik als „Drohkulisse“ aufgegeben wurde. Der gemeinsame Standpunkt der EU, der als Reaktion auf die anhaltende Repression und Menschenrechtsverletzungen seit 1988 zu sehen ist, enthält eine ganze Reihe gezielter Sanktionsmaßnahmen, wie Reisebeschränkungen hoher Regierungsvertreter, das Verbot von Waffenexporten sowie Finanzsanktionen gegenüber Staatsunternehmen. Die EU hat Ende Januar 2012 entschieden, den gemeinsamen Standpunkt etwas aufzuweichen und einige Regierungsvertreter von den restriktiven Maßnahmen auszunehmen, aber gleichzeitig die vollständige Aufhebung der Sanktionen von der völligen Freilassung politischer Gefangener, der Lösung der nationalen Frage und der Abhaltung freier und fairer Wahlen abhängig zu machen. Sie bleibt damit ihrer Politik der „sanften Sanktionen“ treu und versucht, den Druck auf die birmanische Regierung aufrechtzuerhalten.

Die Sanktionspolitik spaltet wie jeher die politischen Lager: Die Sanktionsbefürworter (allen voran Großbritannien) werten die jetzigen Reformen als Folge einer erfolgreichen Sanktionspolitik und plädieren weiter für eine langsame und konditionierte Aufhebung nach Einleitung weiterer Reformschritte. Die Sanktionsgegner, die darauf verweisen, dass die Sanktionen kaum Auswirkungen auf die politischen Herrschaftsträger hatten, befürworten hingegen eine schnelle Abschaffung. Sollte das politische Tauwetter bis April anhalten, wird die EU weiter unter Druck geraten, die Sanktionen ganz abzuschaffen. Bereits jetzt fordern die ASEAN-Staaten eine schnelle Aufhebung der Sanktionen des Westens. Der gemeinsame EU-Standpunkt setzt auch die Entwicklungszusammenarbeit mit Birma aus – mit Ausnahme von humanitärer Hilfe und Projekten im Gesundheits-, Bildungs- und Umweltschutzbereich.

Eine Erhöhung entwicklungspolitischer Leistungen für das Land, das zu den ärmsten Ländern der Welt gehört, ist dringend geboten. Während Kambodscha im Jahr 2007 64 Dollar Entwicklungshilfe pro Kopf erhielt, waren es in Birma nur 4 Dollar.  Nachdem IWF und Weltbank bereits jetzt verkündet haben, dem Land zukünftig bei seinen Reformen zu helfen, geht es auch für die EU und ihre Mitgliedstaaten darum, die Entwicklungszusammenarbeit mit Birma drastisch zu intensivieren. Anknüpfungspunkte gibt es viele: Aufgrund der chronischen Armut und Unterfinanzierung des Gesundheits- und Bildungssektors ist die soziale Situation im Lande teilweise erschreckend. Nur zwei Drittel der Bevölkerung haben Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem, zahlreiche Gebiete in den Grenzregionen sind davon völlig ausgeschlossen. Ähnlich düster sieht es im Bildungssystem aus. Darüber hinaus gibt es aufgrund des Bürgerkriegs 500 000 Binnenflüchtlinge und rund drei Millionen Flüchtlinge in den Nachbarstaaten.

Parallel zur humanitären Hilfe bedarf es jedoch auch dringend einer Reformierung der staatlichen Verwaltungsstrukturen, die ihre Funktionen kaum erfüllen. Wichtiger noch als diese entwicklungspolitischen Leistungen ist der Beginn eines politischen Dialogs. Die USA und die benachbarten demokratischen Staaten – hier vor allem Indonesien, das einen ähnlich schwierigen Übergang vom Militärstaat zur Demokratie hinter sich hat – müssen in einen Dialog mit Regierung und Militär eintreten, um die Menschenrechtssituation im Lande zu verbessern und das Militär unter zivile Kontrolle zu stellen. Ziel dieses schwierigen Unterfangens muss sein, das Militär für Menschenrechtsfragen zu sensibilisieren und die zivile Kontrolle des Präsidenten zu stärken.  Die Aussöhnung zwischen Militärstaat und den ethnischen Gruppen kann erst beginnen, wenn die Menschenrechtsverletzungen in den Kriegsgebieten beendet werden und die unterschiedlichen Akteure beginnen, Vertrauen zueinander aufzubauen. Der Weg zur nationalen Aussöhnung ist jedoch noch weit.

Dr. MARCO BÜNTE ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des GIGA-Instituts für Asienstudien in Hamburg.

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