Titelthema

01. Jan. 2024

Szenario 6: Die Energiewende scheitert 


Die deutsche Abkehr von fossiler Energie gleicht einem absurden Theaterstück. Statt entschlossen zu handeln, wird geredet und gewartet. Über eine fatale Politik des Zauderns und Zögerns.

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Bild: Windräder im Windpark Biegen in der Nähe von Frankfurt an der Oder, August 2023.

Die Ausbauziele für die Windkraft werden durch die aktuellen Maßnahmen der Bundesregierung nicht erreicht: Windräder im Windpark Biegen in der Nähe von Frankfurt an der Oder, August 2023.
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Jeder denkt es, keiner sagt’s: Die Energiewende ist gescheitert“, lautete eine Schlagzeile in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die niederschmetternde Diagnose: Der Ausbau der erneuerbaren Energien, vor allem der Windkraft, gehe nicht schnell genug. Es fehle an Speicherkapazitäten. Der Energieverbrauch sei viel zu hoch, die Energieeffizienz mangelhaft, weil die Gebäudesanierung nicht in Gang komme. Und auch der so dringend notwendige Netzausbau stocke.

Eine Bestandsaufnahme der Gegenwart? Nicht ganz. Der Artikel erschien am 16. März 2012. Ein Jahrzehnt ist vergangen, ohne dass viel passiert ist. Das ist symptomatisch.

Hätte die Energiewende einen Vornamen, er lautete „Godot“. Was immer die Protagonisten überlegen zu tun, am Ende lautet die Regieanweisung in Samuel Becketts berühmtem Theaterstück: „They do not move.“ Alle Gespräche sind nur auf das Warten ausgerichtet. Man diskutiert, um Zeit totzuschlagen. Handlungen werden nur simuliert, das Geschehen führt ins Nichts. Absurdes Theater eben.

Was auf der Bühne amüsant ist, ist frappierend in der Realität. Denn das permanente Nichtstun in der Vergangenheit hat Folgen. Heute jagt eine Krise die nächste.

Dabei schien der Aufbruch bereits 1981 möglich, als das Freiburger Öko-Institut erstmals ein Buch mit dem Titel „Energiewende“ publizierte. Untertitel: „Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran“. Darin wurden nicht nur die Vision und Notwendigkeit eines neuen Energiezeitalters mit nachhaltigem Wachstum und Wohlstand formuliert, sondern auch die Strategien konkret benannt: Ausbau erneuerbarer Energien, also Sonnen-, Wind- und Wasserkraft, dazu Kraft-Wärme-Kopplung und Blockheizkraftwerke, sowie vor allem eine deutlich verbesserte Energieeffizienz.

Das Buch war eine Antwort auf die sehr viel berühmtere Studie des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“, die 1972 erstmals vorgestellt und seither vielfach aktualisiert worden ist. Darin prognostizierten Expertinnen und Experten unterschiedlichster Disziplinen aus mehr als 30 Ländern in deutlichen Worten: Wenn Weltbevölkerung, Industrialisierung, Umweltverschmutzung und Ausbeutung von Rohstoffen unverändert weiterwachsen, wäre eine Katastrophe für die Weltgemeinschaft bis spätestens 2100 unvermeidbar.

Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse rüttelten die Öffentlichkeit auf. Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung entstanden; die Partei der Grünen wurde gegründet. Aber in der Politik folgte man weiter Becketts absurder Regie. Zwar wurde hin und wieder irgendeine Energiewendemaßnahme ausgerufen, aber die daraus folgenden Handlungen waren halbherzig bis kontraproduktiv.

Es ist nicht länger zu leugnen: Wir spüren die wachsenden Auswirkungen des Klimawandels. Hitze, Dürre, Waldbrände. Starkregen, Fluten, Dammbrüche. Und auch die Energiekrisen häufen sich. Atomenergie erweist sich als ewiges Zukunftsversprechen. Während wir darauf hoffen, dass aus der Kernspaltung irgendwann das versprochene energetische Perpetuum mobile erwächst, findet sich auch nach einem halben Jahrhundert noch keine Endlagerstätte für den hochradioaktiven Müll. Die bestehenden Atommeiler müssen wegen Altersschwäche und Wassermangels reihenweise abgeschaltet werden. Milliardengräber einer falschen Technologiefixierung.

Nicht ohne Grund ist von Scheitern die Rede. Schließlich haben die Bundesregierungen der vergangenen 15 Jahre zwar – aus klimapolitischen Gründen – vehement die Energiewende ausgerufen, vom Erreichen der Klimaziele sind wir aber in vielen Wirtschaftssektoren nach wie vor  weit entfernt.

 

Aus fossilen Geschäften  mit Autokratien  werden neoimperialistische Kriege

 

Die Not wächst. Jetzt zahlen wir nicht nur in Form von gewaltigen Klimaschäden den Preis der falschen Energie-Klimapolitik, sondern bekommen auch die Quittung für die falsche Energie-Außenpolitik. Immer deutlicher tritt zutage, wie gefährlich die auf fossilen Energien basierenden Wirtschaftssysteme sind. Der Wandel durch Handel mit fossilen Energien finanzierte nicht demokratische Kräfte, sondern autoritäre Regime – und ihre militärische Aufrüstung. Aus fossilen Geschäften werden neoimperialistische Kriege. Russland überfällt die Ukraine. Aserbaidschan okkupiert Berg-Karabach. Unterstützt vom Iran, ermordet die Terrorgruppe Hamas die Zivilbevölkerung Israels.



Gefährliche Abhängigkeit

Deutschland steckt nicht nur in einer gefährlichen Abhängigkeit von fossilen Despoten, sondern steht auch vor gewaltigen Kosten für die nunmehr immer notwendigere Energiewende. Die Preise für fossile Energien explodieren und treiben die Inflation in ganz Europa. Es muss etwas geschehen. Nur: Was tun? Ist nicht alles zu spät? Wer übernimmt die Regie? Und wie lautet die Ansage? „They do not move“, wagt jetzt niemand mehr zu sagen.

Tatenlosigkeit kann man der jetzigen Bundesregierung nicht vorwerfen. Sie handelt. Endlich wird der Ausbau der erneuerbaren Energien angeschoben; endlich werden mehr Solar- und Windanlagen gebaut. So weit, so gut. Doch dieser „Move“ ist bei Weitem nicht ausreichend. Denn leider werden dadurch nur die Ausbauziele für Solar-, nicht aber für Wind­energie erreicht. Und in puncto Wasserstoff, Elektrofahrzeuge, Wärmepumpen und so weiter liegt man noch weit von den Zielmarken entfernt.

Absurderweise ist der Tatendrang ausgerechnet bei fossilen Energien besonders ausgeprägt: Quasi über Nacht werden Flüssiggas-Terminals gebaut, über die zuvor 40 Jahre gestritten wurde – das neue „Deutschlandtempo“. So entstehen zu viele und zu große LNG-Terminals, die uns über Jahrzehnte an die nächsten autoritären Regime binden. Sitzen wir doch weiter in Becketts Stück? Oder sind bloß die fossilen Lobbyisten stille Fans des absurden Theaters? Dem Lobby-Geschrei von energieintensiven Industrien ist es jedenfalls zu verdanken, dass auch das Thema „Industriestrompreise“ die Politik beherrscht und staatliche Hilfsgelder mal wieder vor allem in den ungebremsten Verbrauch fossiler Energien fließen. Energieeffizienz? They do not move.

 

Akt um Akt: Statt zu handeln, wird geredet und gestritten. Zeit vergeht. Die Debatten führen ins Nichts

 

Nächster Akt: Gebäudeenergiegesetz. Teile der Politik haben die Notwendigkeit von Klimaschutz für den wirtschaftlichen Wohlstand erkannt. Auftritt Habeck: Ab Januar 2024 soll möglichst jede neu eingebaute Heizung zu mindestens 65 Prozent mit erneuerbarer Energie betrieben werden. Doch statt zu handeln, wird geredet. Gestritten. Diskutiert. Zeit vergeht. Die Debatten führen ins Nichts.

Im Kompromiss gilt die 65-Prozent-Vorgabe nur noch für „Neubauten in Neubaugebieten“. So absurd wie die Formulierung, so absurd die Regelung. In „Neubauten außerhalb von Neubaugebieten“ und in Bestandsgebäude werden weiterhin neue fossile Gasheizungen eingebaut. Dazu großzügige Übergangsfristen und Ausnahmen, umfangreiche Förderung und sozialer Ausgleich sowie eine „vorgelagerte Wärmeplanung der Kommune oder Region“.

Zur Umschreibung des Nichtstuns finden die Samuel Becketts viele Formulierungen. Die Wortschöpfung „Wasserstoff-ready“ hätte sich der irische Meister des Absurden kaum besser ausdenken können. Denn bis ein „klimaneutrales wasserstofffähiges Gasnetz“ geschaffen ist, wird locker ein Jahrzehnt vergehen. Wenn es denn überhaupt kommt. Denn Wasserstoff ist extrem kostbar, der Champagner unter den Energieträgern. Es braucht drei- bis fünfmal so viel (erneuerbare) Energie, um Wasserstoff herzustellen, als wenn die (erneuerbare) Energie direkt genutzt würde. Wenn uns der ökonomische Verstand nicht ganz abhandenkommt, ist absehbar, dass diese teure Energie nur dort eingesetzt wird, wo es keine direkt-elektrische Alternative gibt, etwa in der Stahl- oder der Zementindustrie. Damit aber die deutsche Kleinfamilie auch im Winter gemütlich auf dem Sofa sitzt, genügt die mit Ökostrom deutlich billiger betriebene Wärmepumpe.

Doch darum geht es nicht. Mit der Formel „Wasserstoff-ready“ soll der Gasheizungskundschaft lediglich eine kaum realistische Technologieoffenheit vorgegaukelt werden. Absurdes Theater. Hauptsache: They do not move. So werden die Gasheizungen bis 2045 weiter fossil betrieben. 20 Jahre Fortsetzung des immer gleichen und für die fossile Geschäftswelt lukrativen Schauspiels. Betriebswirtschaftlicher Profit schlägt volkswirtschaftliche Vernunft.

Nächster Akt: CO2-Preis. Die FDP will die Wärmewende über den Markt, also den Emissionshandel steuern. Durchaus zu Recht. Nur durch klare Preissignale entsteht die nötige Lenkungswirkung. Um die international vereinbarten Klimaziele im Gebäudesektor zu erreichen, müsste der CO2-Preis kontinuierlich steigen. Aber sobald die fossilen Preise wirklich steigen, besänftigt die Regierung die aufgeschreckte Bevölkerung mit Gaspreisbremsen und Tankrabatten. Ergebnis? They do not move.

Bliebe noch die Energieeffizienz. Unabhängig von der Energiequelle muss Energiesparen höchste Priorität haben. Egal ob mit billiger erneuerbarer Energie oder mit edlem Wasserstoff erwärmt: Warme Raumluft sollte nicht durch schlecht isolierte Fenster, Wände oder Dächer entweichen. Angesichts der steigenden Zahl an Hitzetagen geht es auch immer mehr darum, Räume im Sommer kühl zu halten.

Was den Einbau von besonders effizienten Wärmepumpen angeht, steht Deutschland in Europa auf dem vorletzten Platz. Spitzenreiter Dänemark hat schon vor mehr als 40 Jahren mit der Wärmewende begonnen und heute den europaweit höchsten Anteil von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Der Anteil von Fernwärme liegt bei 60 Prozent, die zu mehr als 50 Prozent aus erneuerbaren Quellen gespeist wird. Seit 2013 ist der Einbau von Öl- und Gasheizungen verboten. Dänemark spielt Hamlet: „Bereit sein ist alles“.

 

Mehr Rückschritt als Fortschritt

In Deutschland wird stattdessen gezaudert und gezögert. Ausgerechnet das einstige Industrie- und Innovationsland scheut die Modernisierung. Offenbar fruchten die Kampagnen der fossilen Industrie, vor allem der Gasindustrie, die ein aktives Interesse daran hat, die teuren Gasnetze möglichst lang zu erhalten und um jeden Gaskessel kämpft. Die Politik gibt nach – das Gebäudeenergiegesetz ist vor allem ein großes Zugeständnis an die Gaslobby.

Ausgerechnet die Ampelregierung, die sich doch Fortschritt auf die Fahnen geschrieben hatte, fällt hinter das Modernisierungs-Schneckentempo der Großen Koalition zurück: Ohne Not hat sie das erst 2019 beschlossene Klimagesetz aufgeweicht. Dabei war es als Schrittmacher des Handelns eingeführt worden, damit Deutschland das Gesamtziel der Klimaneutralität sicher schafft. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass die einzelnen Sektoren lieber auf die schwachen Leistungen der jeweils anderen deuten, als selbst aktiv zu werden. Um diesen Stillstand zu beenden, hatte man per Gesetz spezifische Einsparziele eingeführt. Damit ist jetzt wieder Schluss. Die Regieanweisung steht zwischen den Zeilen.

Die Abkehr von fossiler Energie ist nicht nur von enorm strategischer Bedeutung: Sie schafft Frieden und Freiheit. Sie senkt neben gefährlichen Abhängigkeiten vor allem Kosten. Es gäbe so viel zu gewinnen: ökonomische Resilienz, Wertschöpfung, Jobs. Und wir verpassen die Chancen einer global boomenden Klima-Industrie. Die Energiewende wäre wirklich gescheitert!

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 1, Januar/Februar 2024, S. 58-61

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Mehr von den Autoren

Prof. Dr. Claudia Kemfert leitet die Abteilung „Energie, Verkehr, Umwelt“ des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)

und lehrt als Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität Lüneburg. Im Februar 2023 erschien ihr Buch „Schockwellen“.

 

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