Symbolfiguren und Sündenböcke
Dass die englische Nationalmannschaft bei der Fußball-EM zu den Favoriten gehört, liegt auch an Spielern, die ihre Wurzeln in einstigen Kolonien haben. Spieler wie Bukayo Saka stehen im Erfolg für das multikulturelle Britannien, doch sobald sie einen Strafstoß verschießen oder sich politisch äußern, schlägt die Zuneigung vieler Fans in Rassismus um. Höchste Zeit, sich die Geschichte von Englands kolonialem Erbe einmal genauer anzuschauen.
Am 22. Juni 1948 legte östlich von London ein Schiff mit dem Namen „Windrush“ an. Von Bord gingen etwa 500 Menschen, die meisten von ihnen aus Jamaika. Auf den Fotos von damals sind Männer und Frauen in feiner Garderobe zu sehen, viele wirken zuversichtlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren weite Teile Großbritanniens zerstört. Für den Wiederaufbau waren die Briten auf Hilfe aus ihren Kolonien angewiesen. Bis 1970 kamen fast eine halbe Million Menschen aus der Karibik ins Empire. Man nennt sie bis heute die „Windrush-Generation“.
„Keine Hunde, keine Schwarzen, keine Iren“
„Wenn ich an das Wort Windrush denke, dann denke ich daran, wie schrecklich die Einwanderer damals behandelt wurden“, erzählt Paul Mortimer, aufgewachsen in London. Seine Eltern gehörten zur Windrush-Generation. Damals wurden überall Schilder befestigt, darauf stand: „Keine Hunde, keine Schwarzen, keine Iren“.
Großbritannien erholte sich wirtschaftlich in den 1960er Jahren. Die Regierung schränkte Einwanderung ein, und rechtsextreme Organisationen wie die National Front gewannen an Einfluss. Viele Familien der Windrush-Generation wollten nicht, dass ihre Kinder Fußball spielen, aus Angst vor Rassismus. Im Londoner Stadtteil Shepherd’s Bush lernte Paul Mortimer schon als Grundschüler, welche Straßen er besser meiden sollte: „Ich erinnere mich daran, wie meine Mutter abends auf uns gewartet hat. Sie wusste, dass rechte Hooligans durchs Viertel zogen, um schwarze Jugendliche zu verprügeln.“
Paul Mortimer erlebte seine Jugendzeit in den 70er und 80er Jahren. Einige Lehrer trauten ihm keine guten Leistungen in Mathe oder Biologie zu, stattdessen schickten sie ihn zum Fußball. Es ist das rassistische Vorurteil, das sich seit der Kolonialzeit hält, wonach schwarze Menschen intellektuell unter- und körperlich überlegen seien. Paul Mortimer jedoch war ein guter Schüler, ein guter Student, ein guter Fußballer. Ab den 80er Jahren spielte er unter anderem für die Londoner Vereine Charlton Athletic und Crystal Palace. „Beim Fußball wurde mir oft das Gefühl gegeben, dass ich anders bin. Außerhalb des Platzes wollten Spieler häufig nicht mit mir sprechen. Erst wenn sie gesehen haben, dass ich gut Fußball spiele, wuchs ihre Akzeptanz.“
Paul Mortimer beendete seine Laufbahn 2001. Zu diesem Zeitpunkt prägten die Kinder der Windrush-Generation den englischen Fußball, schwarze Nationalspieler wie Paul Ince, Sol Campbell oder Ian Wright. Aber, sagt der langjährige Profi Mortimer, an den rassistischen Strukturen der Gesellschaft ändere das wenig: In Großbritannien ist es für schwarze Menschen sechs Mal wahrscheinlicher, in eine Polizeikontrolle zu geraten als für weiße.
Das „E“ steht für Empire
Lange hielten Engagierte wie Mortimer den Begriff „black“ für eine herabwürdigende Fremdbezeichnung. Inzwischen stellen sie das Schwarzsein selbstbewusst in den Mittelpunkt. „Black is Beautiful“, „Black Power“, „Black Lives Matter“. Im englischen Fußball vernetzen sich schwarze Spieler, Fans und Funktionäre in der „Football Black List“, einem losen Netzwerk. Regelmäßig feiern sie die Erfolge nicht weißer Persönlichkeiten.
Einer ihrer prägenden Köpfe ist der Sportreporter Leon Mann. „Mehr als 40 Prozent der Spieler in der Premier League sind schwarz“, sagt er. „Wir haben keine Probleme, schwarze Jugendliche für das Spiel zu motivieren. Doch in anderen Bereichen glauben sie weniger an ihre Chance.“ Es gibt kaum schwarze Trainer, Physiotherapeuten oder Marketingleute im Fußball. Und in den Führungsetagen lassen sich die Namen schwarzer Manager an einer Hand abzählen.
Seit rund 150 Jahren bestimmen Weiße im englischen Fußball, wer mitspielen darf. Leon Mann hat lernen müssen, dass er die Aufmerksamkeit der Branche nicht mit drastischer Kritik auf sich zieht. Seiner Meinung nach könne der Fußball durch mehr Diversität nur gewinnen, auch ökonomisch: „Mehr als zehn Jahre standen wir außerhalb des Systems und haben Forderungen gestellt. Aber wir kamen zu der Einsicht, dass wir in die Strukturen hineingehen müssen, um die Kultur zu verändern.“
Leon Mann gehört zu den Enkelkindern der Windrush-Generation. Sein Großvater war in Jamaika eine anerkannte Führungskraft bei der Bahn. Mit großen Ambitionen kam er in den 1950er Jahren nach England. Doch mit dem alltäglichen Rassismus wollte sich sein Großvater nicht arrangieren, er kehrte entmutigt nach Jamaika zurück.
Es sind auch Biografien wie diese, aus denen Leon Mann seine Motivation schöpft: „Meine Großeltern hatten nicht die Möglichkeit, ihre Träume zu verwirklichen. Stattdessen haben sie hart gearbeitet, damit wir heute mehr Chancen erhalten.“ Leon Mann erhielt für seine Arbeit den britischen Verdienstorden MBE. In sozialen Medien schrieb er, dass man das E aus diesem Titel streichen solle, denn das E steht für Empire.
Ständig unter Beobachtung
Inzwischen organisiert sich an vielen Orten in England die schwarze Community im Fußball selbst, zum Beispiel in Birmingham, im Stadion des Erstliga-Vereins Aston Villa. Mehr als 100 schwarze Schiedsrichter und Schiedsrichterinnen diskutieren über ihren Alltag. Über Zuschauer auf dem Land, die Bierflaschen werfen. Über Platzwarte, die nach rassistischen Anfeindungen keine Polizei rufen wollen. Über musternde Blicke.
„Mit 16 Jahren habe ich mein erstes Spiel bei den Erwachsenen gepfiffen. Das war entmutigend“, erzählt Ashley Hickson-Lovence, Mitte dreißig. Er berichtet auch von seinem Vorbild: Uriah Rennie war bis zu seinem Rücktritt 2008 der einzige schwarze Schiedsrichter in der Geschichte der Premier League gewesen.
Hickson-Lovence kann sich mit Uriah Rennie identifizieren. Beide haben Vorfahren in der Karibik und erlebten früh Rassismus. Beide stießen als Schiedsrichter auf „unconscious bias“, auf unbewusste Voreingenommenheit. Hickson-Lovence sagt: „Es gibt eine kleine Zahl von Schiedsrichterbeobachtern, die unsere Leistungen bewerten und die rassistisch sind. Wenn ich als Schiedsrichter unter Beobachtung stand, hatte ich das Gefühl, dass ich dreimal so hart arbeiten musste wie meine weißen Kollegen.“
Ashley Hickson-Lovence wollte sich diesem Druck nicht aussetzen. Nach elf Jahren als Schiedsrichter pfiff er 2019 sein letztes Spiel. Hauptberuflich ist er als Autor tätig. In seinem Roman „Your Show“ verbindet er die Biografie von Uriah Rennie mit fiktionalen Elementen und seinen eigenen Erfahrungen. Und in seiner Freizeit ist Hickson-Lovence nun selbst als Schiedsrichterbeobachter unterwegs.
Und es ändert sich etwas, langsam. Seit Dezember 2023 pfeift Sam Allison in der Premier League. Er ist erst der neunte schwarze Schiedsrichter in der Geschichte des englischen Spitzenfußballs – in fast 150 Jahren. Es könnten bald mehr werden, denn der Fußballverband FA und die Premier League setzen mittlerweile auf Abteilungen, die Projekte für mehr Diversität entwickeln. Bei der FA macht sich Paul Elliott dafür stark, einer der wenigen schwarzen Funktionäre. „Manche würden sagen, ich bin eine Alibifigur“, sagt er. „Aber das stimmt nicht. Ich bin seit mehr als 30 Jahren gegen Rassismus aktiv. Und ich weiß, wie man Beziehungen zu mächtigen Leuten knüpft.“
Eine Quote für die Vorstellungskraft
Paul Elliott setzt sich für die Ausbildung und Rekrutierung nicht weißer Fußballtrainer ein. In den europäischen Spitzenligen lassen sich diese an zwei Händen abzählen. Elliott befasst sich intensiv mit „Affirmative Action“, mit einer bevorzugten Behandlung von Minderheiten. In den USA etwa müssen Klubs aus dem American Football für freie Trainerposten mindestens einen nicht weißen Kandidaten zum Vorstellungsgespräch einladen.
Seitdem ist die Zahl schwarzer Trainer in der NFL gestiegen. Auch der englische Fußball hat diese Regel zumindest auf unterer Ebene eingeführt, berichtet Paul Elliott: „In der Geschichte waren schwarze Trainer immer unterrepräsentiert. Wir müssen den Einstellungsprozess ändern, wir müssen mehr Transparenz bei der Auswahl schaffen. Manchmal brauchen wir Instrumente wie eine Quote, um die Vorstellungskraft der Menschen zu aktivieren.“
Über Jahrzehnte haben englische Medien kaum über Diskriminierung in den Stadien berichtet. Inzwischen jedoch gibt es Schlagzeilen und Sondersendungen über offenen Rassismus. Aber reicht das? In der Saison 2019/20 analysierten Wissenschaftler die Fernsehkommentare bei 80 Spielen in vier europäischen Ligen, auch in England. Ihr Fazit: Wenn Kommentatoren während der Partien über Intelligenz und Arbeitsmoral sprachen, dann richteten sich mehr als 60 Prozent ihres Lobes an weiße Spieler. Beim Thema Kraft war es jedoch sieben Mal wahrscheinlicher, dass sie über einen schwarzen Spieler sprachen.
Für einen Wandel in den Medien
„Schwarze Sportler wurden immer für ihre Körper und ihre Stärke geschätzt, weniger für ihre Intelligenz und harte Arbeit“, sagt Drew Christie, langjähriger Sportjournalist, der sich mit Diversität in den Medien beschäftigt. „Die Berichterstattung über schwarze Fußballer wurde fast immer von Männern aus der weißen Mittelschicht geprägt.“
Drew Christie wuchs in den 1990er Jahren im Süden von London auf. Seine Eltern, die aus Jamaika stammen, arbeiteten als Taxifahrer und im Gesundheitswesen. Christie wollte Sportreporter werden. Aber er hatte keine Kontakte in Redaktionen und zu wenig Geld für ein unbezahltes Praktikum. Nach seinem Politikstudium bewarb er sich bei großen Medien und erhielt einen Job bei der BBC. Er erlebte dort keinen offenen Rassismus. Aber: „Oft war ich in den Redaktionskonferenzen die einzige schwarze Person. Ich fühlte mich irgendwie erdrückt und konnte mein wahres Potenzial nicht abrufen.“
Nur 1 Prozent der Medienschaffenden in Großbritannien ist schwarz. Noch nie hatten die großen Sportredaktionen der Zeitungen eine schwarze Führungskraft. Drew Christie wollte das nicht hinnehmen. Er gründete mit Mitstreitern 2009 das „Schwarze Kollektiv der Medien im Sport“, im Englischen abgekürzt mit BCOMS. Christie und seine Kollegen verschickten Briefe, Emails, besuchten Redaktionen. Sie veranstalteten Konferenzen, auch gemeinsam mit Verlagen, in denen eher konservative und teils nationalistische Boulevardblätter erscheinen. Blätter, die lange rassistische Klischees über Fußballer verbreitet haben. Christie sagt: „Diese Zeitungen gehören zu den einflussreichsten Medien des Landes. Wenn wir in deren Räumen mit den Führungsleuten sprechen, dann können wir zu einem Wandel beitragen.“
Tribünen ohne Vielfalt
Inzwischen hat das Netzwerk BCOMS Zugang in fast alle Führungsetagen. Sie hören dort Appelle für mehr Vielfalt, doch noch mangelt es an Strategien für die Umsetzung. BCOMS veranstaltet regelmäßig eine „Masterclass“, eine Reihe von Workshops, in der junge schwarze Journalisten von erfahrenen Sportreportern lernen können.
Oft schließt sich daran ein Praktikum oder eine Mitarbeit in einer Redaktion an, erzählt Drew Christie: „Als schwarze Person habe ich manchmal das Gefühl, besonders dankbar sein zu müssen, dass ich in diesem Land lebe. Immer wieder müssen wir unsere Loyalität beweisen. Das geht sicherlich auch vielen schwarzen Fußballern so. Vielleicht können sich diese Spieler leichter öffnen, wenn sie mit schwarzen Reportern ins Gespräch kommen.“
In der Heimatstadt von Drew Christie, in London, sind mehr als 40 Prozent der Bevölkerung nicht weiß. In Birmingham sind es mehr als 50 Prozent, in Manchester 35. Doch diese Vielfalt spiegelt sich nicht auf den Stadiontribünen der Premier League wider. Das Publikum ist in überwältigender Mehrheit weiß. Der Hooliganismus und der offene Rassismus der 70er, 80er und 90er Jahre mögen für viele weiße Briten heute eine historische Fußnote sein. Doch für Menschen mit Einwanderungsgeschichte ist dieses Trauma noch immer präsent. Sie kennen die Geschichten ihrer Eltern und Großeltern, die im Stadion angegriffen wurden. Auch das sind die Geschichten der Windrush-Generation.
Internationale Politik, online exklusiv, 13. Juni 2024