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13. Dez. 2022

Go East

Die WM in Katar zeigt eines: Die Macht- und Wirtschaftsstrukturen im Weltfußball verschieben sich deutlich. Europas Einfluss nimmt beständig ab, westliche Kritik an Menschenrechtsverstößen fällt angesichts wachsender Abhängigkeiten kleinlaut aus.

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Fußball-WM 2022
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Das Foto zeigt die Ehrentribüne des Khalifa-Stadions vor dem ersten WM-Spiel des deutschen Teams gegen Japan, es wirkt wie eine Satire. Fifa-Präsident Gianni Infantino beugt sich herunter und deutet auf den Oberarm von Nancy Faeser. Die deutsche Innenministerin trägt eine Armbinde, über die man wochenlang kontrovers diskutiert hatte. „One Love“ lautete die Botschaft, mit der die Kapitäne von sieben europäischen Nationalteams die Fußball-WM bestreiten wollten, als Zeichen gegen den repressiven Kurs des Gastgebers Katar. Die Fifa untersagte diese Symbolik vor WM-Beginn. Trotzdem zeigte Infantino nun mit dem Zeigefinger auf die Binde der Ministerin. Er lächelte, wollte wohl versöhnlich wirken, aber man kann das Foto auch anders deuten: Infantino machte sich über den halbherzigen Aufstand aus Europa lustig.

Die symbolische Wirkung dieser Szene ging weit über den Streit um eine Armbinde hinaus. Die Profi-Ligen in England oder Deutschland mögen noch immer den sportlichen Standard setzen, doch in den Strukturen der Fußballindustrie verschiebt sich die politische Macht Richtung Osten.

Eine wichtige Schaltzentrale sind die Golfstaaten. Die Herrscherfamilie des kleinen Emirats Katar möchte mit der WM ihre Netzwerke in den Westen stärken, um in Konflikten mit den größeren Nachbarn besser aufgestellt zu sein. Auch die Übernahme von Paris Saint-Germain und die Sponsorenpartnerschaft beim FC Bayern München öffnen dem Emir Gesprächskanäle nach Westeuropa, die über die klassische Diplomatie hinausgehen.

Am Sonntag nun findet das WM-Finale statt, der vorläufige Höhepunkt in Katars Sportstrategie. In einer Zeit, in der in Europa intensiv über Korruption und die Einflussnahme Katars auf EU-Abgeordnete diskutiert wird. Die katarische Herrscherfamilie will – wie so oft – emotionale Fußballbilder für sich sprechen lassen. Immer wieder beschrieb sie die WM als historischen Aufbruch für die ganze arabische Welt.

Und der Erfolg des marokkanischen Teams schien ihr Recht zu geben. Dass allerdings kaum arabische Architekten an den Stadionkonstruktionen beteiligt waren und dass nur Bürger aus sechs der 22 arabischen Staaten visumfrei nach Katar reisen können, das blieb weitgehend unerwähnt. Das Emirat inszenierte sich beharrlich als neues Machtzentrum in Sport und Politik – und in vielen Teilen der Welt wird dieser Plan unwidersprochen aufgehen. Auch dank der Fifa.

Neue Handelsbeziehungen rund um den Fußball

Der Schweizer Gianni Infantino hat die Machtverschiebung im Fußball wohl am stärksten gefördert. Nach den vielen Skandalen unter seinem Vorgänger Sepp Blatter zogen sich etliche westliche Sponsoren aus der Fifa zurück. Von den 14 Unternehmen, die nun rund um die WM weltweit werben, stammen nur noch fünf aus den USA und Europa. Alle anderen haben ihren Sitz in Asien, darunter vier in China und zwei in Katar. Nach Angaben des Analyseinstituts Global Data erhält die Fifa von amerikanischen Firmen jährlich 128 Millionen Dollar, aus Katar erhält sie 134 Millionen und aus China sogar 206 Millionen Dollar. In der höchsten Sponsorenkategorie hält noch ein europäisches Unternehmen der Fifa die Treue: Adidas. Der Sportartikelhersteller hat seinen Hauptsitz im beschaulichen Herzogenaurach, doch er ist von 520 Zulieferbetrieben abhängig – vor allem in asiatischen Niedriglohnländern.

Auch darüber hinaus bilden sich rund um den Fußball neue Handelsbeziehungen. Das Lusail-Stadion in Katar, in dem das Finale ausgetragen wird, wurde von chinesischen Firmen gebaut. Die Volksrepublik setzt damit eine Strategie fort, die sie seit den 1990er Jahren vermehrt in Afrika verfolgt hatte. Mit dem Bau von Stadien, die in vielen Gesellschaften als Statussymbole gelten, möchte sich Peking den Zugang zu Rohstoffen und seltenen Erden erleichtern.

Diese Vernetzung funktioniert nicht nur in Afrika. 2015 war Chinas Staatspräsident Xi Jinping auf seinem Staatsbesuch in Großbritannien auch im Stadion von Manchester City zu Gast. Der Klub ist seit 2008 im Besitz des Golfemirats Abu Dhabi. Einige Wochen später wurde bekannt, dass Etihad, die staatliche Fluglinie aus Abu Dhabi und Brustsponsor von Manchester City, im chinesischen Chengdu ein Drehkreuz etablieren will.

Wes Brot ich ess‘

Die aktuelle WM zeigt auch deutlich, wie sehr die Fifa unter Infantino zur Transformation der Golfstaaten beiträgt. Für eine Zukunft nach den lukrativen Öl- und Gasexporten konkurrieren Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien um Investoren, Fachkräfte und Touristen. Bereits im kommenden Jahr findet in Katar die Fußball-Asienmeisterschaft statt. Saudi-Arabien, dessen Staatsfonds seit einem Jahr der Besitzer von Newcastle United ist, möchte mit Ägypten und Griechenland die WM 2030 ausrichten.

Diese Entwicklung sorgt zumindest in Teilen Europas für Frust und Desinteresse. Die Diskussion rund um die One-Love-Armbinde und das Bierverbot kurz vor der WM sind Symptome davon. Die Fußballverbände in Deutschland, England oder Dänemark haben so starke Kritik an der Fifa geäußert wie selten zuvor.

Der Kapitän der französischen Mannschaft wollte die Armbinde dagegen nicht tragen. Gründe dafür sind vermutlich auch, dass Paris Saint-Germain im Besitz von Katar ist und sich der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy vor der Vergabe 2010 für die WM-Bewerbung Katars stark gemacht hatte. 

Und außerhalb Europas? Zu den größten Abnehmern von katarischem Gas zählen die Demokratien Japan, Südkorea und Indien – in keinem der Länder fand eine kritische Debatte über Menschenrechtsverletzungen am Golf statt.

Unter den 211 Mitgliedsverbänden gehören die Westeuropäer ohnehin zu einer kleinen Minderheit. Gianni Infantino aber dürfte sich seine Wiederwahl im kommenden Jahr vor allem mit Stimmen aus Afrika, Asien und den Karibikstaaten sichern. Sukzessive hat er in den vergangenen Jahren die sogenannten Entwicklungsgelder an die Nationalverbände erhöht. 2026 findet die WM erstmals mit 48 Teams in drei Ländern statt, in den USA, Kanada und Mexiko. Das Potenzial für weitere Einnahmen wächst.

König des Fußballs

Der große Deutsche Fußball-Bund mit seinen fast sieben Millionen Mitgliedern hat innerhalb der Fifa genauso wie Liechtenstein mit seinen wenigen hundert Kickern nur eine Wahlstimme. Daher kann Infantino über die – aus seiner Sicht – anhaltende Nörgelei lächelnd hinwegsehen. Regelmäßig lässt er sich auf internationalen Reisen wie ein Staatsoberhaupt empfangen, früher in Russland, zuletzt in Indien, vor Kurzem sogar beim G20-Gipfel in Indonesien, wo er eine Feuerpause im Ukraine-Krieg für die Zeit während der WM forderte. Sogar die Strafverfahren gegen ihn scheinen Infantino vorerst nichts anzuhaben. Dass er seinen Wohnsitz mittlerweile in Doha hat, passt da ins Bild.

Infantino pflegt ein Modell, mit dem auch seine Vorgänger fast 50 Jahre erfolgreich waren. Seit ihrer Gründung 1904 standen vor allem Männer aus früheren Kolonialmächten an der Spitze der Fifa, besonders prägend zwischen 1961 und 1974 der Engländer Stanley Rous, der sich auch mit dem Apartheidregime in Südafrika arrangierte. Dann der Bruch: 1974 wurde der Brasilianer João Havelange zum Fifa-Präsidenten gewählt. Auch mit dem Versprechen, sich mehr für die „dritte Welt“ einzusetzen. Havelanges Nachfolger Sepp Blatter führte diesen Weg zur Perfektion. Er verteilte üppige Entwicklungshilfen an ärmere Nationalverbände und sicherte sich auch so viermal die Wiederwahl.

Mit diesen Seilschaften muss auch Infantino vorerst keinen Gegenkandidaten fürchten. Deshalb konnte er unmittelbar vor der WM selbstbewusst und pathetisch über „Heuchelei“ und „doppelte Standards“ aus Europa sprechen. Und inhaltlich hat er damit nicht unrecht: Rund zwei Milliarden Euro dürfte Katar in europäische Fußballklubs investiert haben. Gemessen an den Gesamtinvestitionen des Emirats: eine überschaubare Summe. Die Qatar Investment Authority, einer der größten Staatsfonds der Welt, soll in Dutzenden von Ländern mehr als 350 Milliarden Euro angelegt haben. Gut ein Viertel in den USA, Großbritannien und Frankreich, drei ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats. Qatar hält Anteile an Kapitalmärkten wie der Londoner Börse und an Banken wie Barclays und Credit Suisse. Das Geld Katars ist in Europa gern gesehen.

Besonders laut wird die Kritik an der Fifa in Deutschland vorgetragen. Vor ihrem WM-Spiel gegen Japan hielten sich die deutschen Spieler symbolisch die Hand vor den Mund. Ob sie wissen, wie sehr die deutsche und die katarische Wirtschaft verflochten sind? 150 deutsche Firmen sind in Katar aktiv. Die Deutsche Bahn und Siemens beteiligten sich in Doha am Aufbau des Nahverkehrs. Gerade hat der Bundesverband mittelständische Wirtschaft in Doha eine Niederlassung eröffnet.

Vielen deutschen Fans ging die Kritik der Spieler nicht weit genug. Mitglieder der Bundesregierung hielten sich hingegen zurück, denn sie werben seit Monaten um katarische Gaslieferungen. Frühestens 2026 könnten diese Lieferungen erfolgen. Und auch von Volkswagen, einem der wichtigsten DFB-Partner, war wenig zu hören. Katar hält beträchtliche Anteile am Autokonzern und stellt zwei Aufsichtsräte. Vor dem Hintergrund dieser Verbindungen ist es unwahrscheinlich, dass die europäischen Fußballnationen nach der WM ihren Aufstand ausweiten. Und so ist die Position von Gianni Infantino nicht in Gefahr.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, online exklusiv, 13.12.2022

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Ronny Blaschke arbeitet als freier Sport- und Politikjournalist u.a. für Deutschlandfunk, Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung und Deutsche Welle in Berlin. Zuletzt erschien von ihm „Machtspieler – Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution“ (Werkstatt Verlag, 256 Seiten, 22 EUR)