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01. März 2019

Swinging Stockholm

USA, Großbritannien, Schweden: Seit Jahrzehnten spielt die Heimat von ABBA, Roxette und DJ Avicii bei den ganz Großen der Musikindustrie mit. Vor einigen Jahren hätte sich das kleine Land in Nordeuropa sogar beinahe den zweifelhaften Ruhm eingehandelt, die ganze Branche in die Pleite zu treiben – nur um sie kurz darauf selbst zu retten.

Wer die enorme internationale Bedeutung des schwedischen Pop plastisch erleben möchte, der geht am besten ins Stockholmer ABBA-Museum.

Wohl nirgendwo anders lässt sich so schön im Schnelldurchgang erlesen und erhören, dass und warum Schweden seit Jahrzehnten zusammen mit den USA und Großbritannien – obwohl viel kleiner – einer der drei ganz großen Player im internationalen Musikgescäft ist.

Im Zentrum dieser Erfolgsgeschichte steht natürlich ABBA, jenes schwedische Quartett, das beim Eurovision-Vorgänger Grand Prix 1974 mit „Waterloo“ gewann. Das Museum zeigt nicht nur Kostüme und Studios der vier, sondern führt den Besuchern mit Musikvideos und Texten auch vor, wie viele der internationalen Hits letztlich Schweden zu verdanken sind.

Die Musikindustrie ist für Schweden seit langem ein wichtiger Exportfaktor – auch wenn natürlich ein großer Teil der Einnahmen im Ausland hängenbleibt und dort für Beschäftigung sorgt, etwa, weil die Musiker oder deren Label dort steuerpflichtig sind. Wie vielerorts gaben auch in Nordeuropa die Beatles bei vielen Bandgründungen der sechziger Jahre den Anstoß. Ungefähr zeitgleich entwickelte sich Stockholm zu einem internationalen Jazz-Zentrum mit Auftritten von Dexter Gordon, Bill Evans und anderen. Schließlich kamen 1974 ABBA und veränderten alles. Gleichzeitig setzte sich mit „Hooked on a feeling“ von Blue Swede erstmals ein Lied von einem schwedischen Sänger auf Platz eins der US-Single-Charts.

In den achtziger Jahren machte eine ganze Reihe von schwedischen Künstlern mit internationalen Topsellern auf sich aufmerksam, von Roxettes „It must have been love“ bis zum „Final Countdown“ von Europe. Es folgten die Cardigans, Dr. Alban, Ace of Base, Eagle Eye und Neneh Cherry, Swedish House Mafia, der viel zu jung verstorbene DJ Avicii, Zara Larsson, Icona Pop, Tove Lo – die Liste ließe sich lange fortsetzen. Und ganz nebenbei stammen mit Max Martin, Rami Yacoub und Nadir Al-Khayat auch einige der bekanntesten Songschreiber und Produzenten für Stars wie Britney Spears, Lady Gaga, Justin Timberlake und Taylor Swift aus Schweden.

In seiner Studie „Beyond ABBA: The Globalization of Swedish Popular Music“ hat der Pittsburgher Geografie-Professor Ola Johansson diverse Wirtschaftstheorien, darunter Michael Porters „Cluster-Modell“, als Erklärung für den schwedischen Erfolg herangezogen. Zu den unmittelbar einleuchtenden Faktoren zählen die ausgezeichneten englischen Sprachkenntnisse breiter Bevölkerungsschichten. Das macht es vergleichsweise leicht, so zu singen, dass einem der globale Markt offensteht. Und was den Faktor Musik angeht, so hat Schweden den Vorteil, dass das Lernen eines Instruments in jungen Jahren dank kommunaler Musikschulen ziemlich verbreitet ist.

Der Schrecken der Musikindustrie

Was im ABBA-Museum auch zu sehen ist: Schweden beherbergte vor gar nicht so langer Zeit einmal den Schrecken der Industrie. Im Jahr 2003 war dort die Website „The Pirate Bay“ gegründet worden. Darüber konnten Nutzer Filme und Musik tauschen, ohne auch nur einen Cent zu bezahlen. Weil die Website dazu nur Hilfe leistete, die Daten nicht aber selber speicherte, ließ man die Gründer in Schweden anfangs gewähren. „Wenn das Online-filesharing-Universum der Wilde Westen ist, dann ist Schweden Deadwood – der Ort, an dem das Recht kaum das Papier wert ist, auf dem es steht“, stand damals in der Hollywood-Ausgabe der US-Zeitschrift Vanity Fair. Schnell wurde Pirate Bay eine der meistbesuchten Seiten im Netz. Davon hatten die Musiker und Labels aber nichts, denn es floss keinerlei Geld an sie.

Kein Wunder, dass damals die eine Grabrede auf die Musikindustrie von der nächsten abgelöst wurde. Denn wenn Musik keine Verkäufe mehr verspreche, würde es bald kaum noch neue Inhalte geben, so die Befürchtung. Tatsächlich brach der Umsatz in der Branche weltweit ein und das auf viele Jahre.

Mittlerweile hat sich das geändert – und wieder spielte Schweden eine entscheidende Rolle. „2017 wuchs der Markt aufgenommener Musik um 8,1 Prozent. Das war das dritte Jahr mit Plus in Folge und eine der größten Zunahmen seit 1997, als Ifpi begann, den Markt zu untersuchen“, heißt es im aktuellen Marktbericht des weltweiten Branchenverbands.

Besonders stark wächst seit einigen Jahren der Bereich, in dem auch Pirate Bay aktiv war und der der Industrie beinahe das Genick gebrochen hätte: Digitales. Um satte 19 Prozent ist der globale Umsatz digitaler Musik im Jahr 2017 gewachsen. Woran das liegt, brachte die amerikanische Tech-Nachrichtenseite CNET vor ein paar Jahren auf den Punkt. Als das Wachstum erstmalig spürbar zurückgekehrt war, hieß es dort: „Die US-Musikindustrie verdient wieder Geld. Danke, Spotify“. Nur in Klammern wurde dann noch ein „und Apple“ hinzugefügt.

Streaming ist international das am stärksten wachsende Marktsegment. Und Spotify der Marktführer. Damit hat Schweden die Branche gerettet. Denn wie Pirate Bay stammt auch der Streaming-Dienst aus Schweden. Dort macht die Branche mittlerweile über 80 Prozent ihrer Umsätze mit Streaming, während es im internationalen Durchschnitt zwar auch wichtigste Einnahmequelle ist, aber nur für 41 Prozent steht. Dank Spotify hat Schweden binnen weniger Jahre der Welt gezeigt, dass die digitale, vom klassischen Tonträger wie der CD losgelöste Form der Musik der Branche zu neuem Schwung verhelfen kann. „Der gleiche Typ der schwedischen im Keller sitzenden Hacker, die gerade noch als diejenigen galten, die den Tod der Industrie bedeuten, sollten nun dessen Rettung bringen“, wird der Aufstieg von Spotify im Stockholmer ABBA-Museum beschrieben. Konkurrenten wie Deezer, Apple Music, Amazon, Tidal oder Pandora kamen später dazu.

Allerdings ist auch Spotify nicht ganz unumstritten. Viele Künstler finden, dass sie zu schlecht bezahlt werden. Das liegt allerdings auch an den Hörern. Denn solange nur ein kleiner Teil bereit ist, bei Spotify ein Abo abzuschließen, der Rest aber gratis, werbefinanziert hört, fließt relativ wenig Geld. Obwohl global nur rund 43 Prozent der deutschen und internationalen Hörer für das Monatsabo zahlen, steht das Bezahlmodell bei Spotify für über 90 Prozent der Einnahmen. In Schweden selbst sitzt das Geld für ein gutes Angebot so locker, dass rund 70 Prozent der Hörer zahlende Kunden sind. Entsprechend höher sind deshalb die Mehreinnahmen, die wiederum genutzt werden können, um Labels und Künstler zu entlohnen. Wenn sich statt der deutschen „Geiz ist geil“-Mentalität ein wenig schwedische Großzügigkeit durchsetzen würde, wäre der Branche sehr geholfen.

Diese höhere ­Zahlungsbereitschaft kann entscheidende Vorteile bedeuten – für die Innovationsfähigkeit von Land und Unternehmen sowie für die Zukunft ganzer Branchen.

Clemens Bomsdorf, arbeitet in der Presse- und Kulturabteilung der Norwegischen Botschaft, Berlin. Zuvor berichtete er u.a. fürs Wall Street Journal aus Nordeuropa, vor allem über Kunst und Wirtschaft.

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Bibliografische Angaben

IP Wirtschaft 01, März - Juni 2019, S. 56-59

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