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01. März 2019

Die Bessermacher

Wenn die krisengeplagten Europäer nach Norden schauen, sehen sie einiges, was ihnen als Vorbild dienen könnte. Faire Löhne, pragmatische Gewerkschaften, ein entspanntes Verhältnis zwischen Bürger und Staat: Einige Gedanken, die zur Inspiration dienen und zugleich die Skandinavier und ihre Volkswirtschaften verstehen helfen.

Kalt, dunkel, teuer, stabil, wohlhabend, sozialdemokratisch: So lauten die klassischen Klischeevorstellungen von Nordeuropa. An allen diesen Adjektiven ist etwas dran. Sie umreißen Land, Leute und Wirtschaft, und wenn man das „sozialdemokratisch“ nicht parteipolitisch versteht, haben sie in weiten Teilen noch Bestand. Doch auch jenseits der Klischees gibt es einige Charakteristika, die es wert sind, genauer betrachtet zu werden, möchte man Dänen, Finnen, Isländer, Norweger und Schweden verstehen und von ihnen lernen.

Organisiert und motiviert

Fangen wir bei etwas zutiefst Nordeuropäischem an: dem hohen Organisationsgrad. Laut der Internationalen Arbeitsorganisation ILO gehörten zu den sieben Staaten, die zuletzt einen Organisationsgrad von über 50 Prozent aufwiesen, alle fünf nordischen. Die anderen zwei waren Malta und Belgien. In Deutschland lag der Wert bei rund 17 Prozent.

Auch wenn die nordeuropäischen Gewerkschaften nicht mehr ganz so viele Mitglieder haben wie früher, sind sie immer noch vergleichsweise stark – und nutzen diese Stärke, um für ihre Mitglieder zu kämpfen. Das heißt in der Regel aber auch einzusehen, dass Arbeitgeber und -nehmer eben nicht nur Gegenspieler sind, sondern gemeinsame Interessen verfolgen. Denn: Nur was erwirtschaftet wird, kann verteilt werden. Und wenn die Mitarbeiter motiviert und leidlich angstfrei sind, sind sie flexibel – und produktiver. Die Tarifparteien sind im Norden deshalb meist echte Tarifpartner und ziehen an einem Strang.

Große Teile des immer noch recht gut ausgebauten Wohlfahrtsstaats haben sie gemeinsam in Tarifverträgen vereinbart, statt auf staatliche Vorgaben zu setzen. Das gilt für die international viel gelobte dänische Arbeitslosenversicherung ebenso wie für das Modell der so genannten „Flexicurity“ – eine Kompromissformel für den Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern: Die Arbeitgeber fordern mit dem Schlagwort „Flexibilisierung“, den Kündigungsschutz zu lockern, während es den Arbeitnehmern vor allem um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes geht. Und auch die ziemlich solide, zum erheblichen Teil kapitalgedeckte Altersvorsorge lässt sich auf diese Partnerschaft zurückführen. Dänemark hat laut Pension Sustainability Index der Allianz derzeit das zweitstabilste Rentensystem, gefolgt von Schweden, den Niederlanden und Norwegen (Australien liegt auf Platz eins).

Flexibel statt fundamentalistisch

Gesprächsbereit geben sich die Arbeitnehmer zugunsten der Wirtschaft ebenso im Tagesgeschäft. „Industriejobs können nur dann in Westeuropa gehalten werden, wenn viel automatisiert wird. Das macht uns produktiver und hilft, die hohen Löhne hier auszugleichen“, sagt Claus Jensen, Chef der mächtigen dänischen Industriegewerkschaft Dansk Metal. Metal-Mitglieder verdienen im Schnitt fast 60 000 Euro im Jahr. „Gibt es etwa ein Land, dem es gut geht und das nur auf alte Technik setzt?“, schiebt er als rhetorische Frage hinterher. „Wir konkurrieren mit der ganzen Welt und können nur erfolgreich sein, wenn viel automatisch abläuft. Dafür allerdings ist es wichtig, dass die Arbeiter ständig weitergebildet werden, und das setzen wir in den Tarifverträgen durch.“

Dänemark ist das einzige EU-Mitglied, in dem laut Statistikbehörde Eurostat die Arbeitskosten im Schnitt bei über 40 Euro pro Stunde liegen. Dementsprechend schnell lohnt es sich, Mitarbeiter durch Maschinen zu ersetzen. Gleichzeitig ist Dänemark direkt nach den Niederlanden und noch vor Finnland und Schweden das EU-Land, in dem die wenigsten Menschen Angst davor haben, dass Roboter ihnen den Arbeitsplatz wegnehmen. Deutschland liegt in dem von der EU-Kommission in Auftrag gegebenen Ranking im Mittelfeld.

Ein Grund dafür mag sein, dass sich in Dänemark über 94 Prozent der Arbeitnehmer in ausreichendem Maße dafür ausgebildet fühlen, einen Roboter bei der Arbeit zu benutzen, in Deutschland sind es nur 78 Prozent – ein ­gutes Argument für den Kurs von Gewerkschafter Jensen, gemeinsam mit den ­Arbeitgebern auf Weiterbildung zu setzen. Ähnlich sieht es in den anderen nordischen Staaten aus.

Lasst uns über Geld reden

In Deutschland wachsen immer noch viele Menschen mit zwei Tabuthemen auf: Geld und Sex. In Nordeuropa wird über beides geredet. Zum Glück. Was die Wirtschaft und das Geld angeht, heißt das, dass sich Berufseinsteiger und Freiberufler, aber auch Leute mit längerer Arbeitserfahrung immer wieder einmal darüber austauschen, was sie so verdienen. Mit dem Nebeneffekt, dass die Arbeitnehmer in Gehaltsverhandlungen ihren Spielraum kennen und ausnutzen können.

Allerdings gehört dazu auch, dass die Schweden und Norweger akzeptieren müssen, dass ihre Mitbürger nachschauen können, wie hoch ihr zu versteuerndes Einkommen ist. Die in den lokalen Medien veröffentlichten Hitlisten schätzen vor allem die Unbekannteren unter den Wohlhabenden weniger. Ähnliches gilt übrigens beim Immobilienkauf: Die Preise und damit der komplette Markt sind zum großen Teil transparent und Einkünfte aus dem Geschäft sowie Preisveränderungen damit viel besser nachvollziehbar.

Natürlich gibt es auch in Nordeuropa Jobs, die so schlecht bezahlt sind, dass sich die Arbeit kaum lohnt. Aber etliche gesellschaftlich wichtige Arbeiten, die in Deutschland ungefähr so entgolten werden, als handele es sich um ein Hob­by, führen dort zu einem anständigen Lohn. So können Krankenschwestern in Schweden laut dortigem Statistikamt SCB im Schnitt mit einem Monatsgehalt von rund 3500 Euro rechnen. In Dänemark kommen Sozialpädagogen auf rund 4000 Euro – plus kapitalgedeckte Altersvorsorge.

Der Mindestlohn von tarifvertraglich bezahlten Frisören liegt in Nordeuropa bei über 18 Euro die Stunde, während in Deutschland schon ein Mindestlohn von 8 Euro in der Branche als verheerend galt. Kein Wunder, dass die Haarschnitte und viele andere Leistungen im Norden erheblich teurer sind. Außerdem gilt immer noch, dass Spitzenjobs oft nicht so gut entlohnt sind wie in Deutschland und stärker besteuert werden als hierzulande. Das führt zu mehr Geld in den staatlichen und kommunalen Kassen, mit dem wiederum viele der Angestellten im sozialen Bereich besser bezahlt werden können.

Zuhause bleiben

Und dann ist da noch das Thema Home Office – ein großes Buzzword dieser Tage. Im Norden Europas ist es nicht unüblich, unbürokratisch zu Hause zu bleiben (und das zu dürfen), wenn eines der Kinder kränkelt, der Kühlschrank angeliefert werden soll oder auch einfach mal so.

Oft sind es diese kleinen Dinge, die die viel zitierte Work-Life-Balance einfacher machen. Und die Angestellten und ihre Familien damit zufriedener – und so womöglich auch produktiver. Das geht natürlich nur, weil die Chefs das Vertrauen haben, dass die Mitarbeiter ihren Job schon richtig machen – egal, von wo sie arbeiten.

Eine kleine Oberschicht, die ihren Wohlstand in Form von Autos der Luxus­klasse in der Innenstadt spazieren fährt, während die breite Masse jeden Tag mit der Bahn von weither in die Stadt zur Arbeit pendelt, weil Wohnraum im Zentrum zu teuer ist: Das gibt es in Nordeuropa nicht. Solche Phänomene sind in London zu beobachten, in Nordeuropa sieht man selbst in den Hauptstädten (abgesehen von Stockholm) oft wochenlang keinen Porsche, geschweige denn noch teurere Wagen. Stattdessen bewegen sich große Teile der Bevölkerung gemeinsam auf dem Fahrrad oder mit Bus und Bahn fort.

Wohnraum ist im Stadtzentrum auch teuer, die Vororte liegen aber nicht so weit entfernt, und außerdem gibt es noch einen relativ hohen Anteil an erschwinglicheren Immobilien – auch deshalb, weil viele Familien zwei solide Einkommen haben. Erleichternd kommt hinzu, dass sich Privatpersonen wie Unternehmen über Bonds verschulden können und die Nebenkosten beim Immobilienerwerb erheblich niedriger sind als in Deutschland. Ein Wohnungskauf ergibt damit auch nur für ein paar Jahre Sinn.

Der Sinn der Steuern

„Solange ich nach Steuern noch genug habe, ist es mir doch beinah egal, was ich abgeben muss. Es wird ja vernünftig ausgegeben.“ Dieser Ausspruch von einem vermutlich einigermaßen wohlhabenden Kopenhagener Anwalt nach dem Vortrag einer Osteuropäerin, die versuchte, dänische Privatleute mit massiven Steuer­erleichterungen in ihr Heimatland zu locken, ist typisch für Nordeuropa.

Dass viele Bürger bereit sind, einen relativ großen Anteil ihres Einkommens an den Staat abzugeben, hat damit zu tun, dass sie den – durchaus zutreffenden – Eindruck haben, für ihre Abgaben etwas zurückzubekommen. Etwa in Form einer funktionierenden Gesundheitsversorgung oder einer steuerfinanzierten Ausbildung ihrer Kinder. Zudem arbeitet der Staatsapparat in der Regel sehr ordentlich. Die nordischen Bürokratien gelten als besonders effizient. Steuergelder versacken üblicherweise nicht, sondern werden meist für alle sichtbar investiert – in gute Schulen und Universitäten oder in die Verschönerung der Städte.

Wenn allerdings die Kommune dafür zahlt, dass Wohnungen renoviert werden, fragt sich mancher schon, warum sich da nicht jeder selber mit eigenem Geld drum kümmern kann. Sonst hat derjenige Pech, dessen Wohnung erst Jahre später als andere drankommt – und das, obwohl er nicht unbedingt weniger Steuern zahlt. Zudem spart ein Land wie Dänemark seit Jahren an Stellen in den Finanzämtern. Einige Skandale der vergangenen Jahre, bei denen sich Einzelne auf Kosten der Gemeinschaft bereichert haben, wären im Zweifel früher nicht möglich gewesen, weil man sie rechtzeitig aufgedeckt hätte.

Bei allem, was wir vom Norden lernen können, wäre es also falsch, die Region zu idealisieren – wie es nicht nur die inflationär erscheinenenden „Hygge“-Artikel tun.
 

Clemens Bomsdorf, ehemals Nordeuropa-Korrespondent für Wall Street Journal und die Welt, arbeitet seit Februar 2019 in der Presse- und Kulturabteilung der Norwegischen Botschaft in Berlin.

Bibliografische Angaben

IP Wirtschaft 01, März - Juni 2019, S. 6-9

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