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03. Jan. 2022

Südosteuropas Fiasko

Mit riesigem finanziellen und personellen Einsatz wollten EU und USA den Balkan reformieren und im Westen verankern. Belege eines gewaltigen Fehlschlags.

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Bild: Eine Demonstration in Belgrad
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Der EU-Balkan-Gipfel im Oktober in Slowenien hat einmal mehr den Beweis für das Versagen der Union in Südosteuropa erbracht. „Eine Parade der Heuchelei, der leeren Worte, selbstherrlichen Beschwichtigungen und Scheinheiligkeit“, beschrieb die Grünen-Politikerin Viola von Cramon die Veranstaltung. Sie ist Kosovo-Berichterstatterin des EU-Parlaments. „In den vergangenen 25 Jahren hat es trotz der Milliardeneinlagen aus Europa für die Bürger keinerlei Fortschritt gegeben“, urteilt der frühere österreichische Top-Diplomat Wolfgang Petritsch, einst führend im EU-Engagement vor allem in Bosnien-Herzegowina. In der Tat ist die Lage bedrückend:

  • Der proeuropäische nordmazedonische Regierungschef Zoran Zaev hat die Kommunalwahl auch verloren, weil die EU nicht in der Lage ist, die versprochenen Beitrittsgespräche endlich aufzunehmen. Bulgarien blockiert den Start mit abenteuerlichen sprachlichen und historischen Begründungen.
  • Die Krise zwischen Serbien und seiner abgespaltenen ehemaligen Albaner-Provinz Kosovo ist trotz eines Jahrzehnts EU-Vermittlung von einer Lösung weiter entfernt denn je.
  • Bosnien-Herzegowina steckt wegen des Streites von muslimischen Bosniaken, orthodoxen Serben und katholischen Kroaten seit vielen Jahren in der Selbstblockade. Der im August als Vertreter des Auslands mit vielen Kompetenzen ins Land entsandte frühere Bundes­agrarminister Christian Schmidt sitzt zwischen allen Stühlen. „Er hat es innerhalb eines Monats geschafft, dass kein lokaler Politiker ihn mehr unterstützt“, analysiert Transparency-Direktor Srdjan Blagovcanin.
  • Das langjährige politische „Liebesverhältnis“ zwischen der damaligen Kanzlerin Angela Merkel und dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vućič wird von der Zivilgesellschaft als desaströs bezeichnet: Vućič hat ein allein auf ihn zugeschnittenes autokratisches System errichtet, in dem die staatlichen Institutionen entkernt sind und die Medien geknebelt, die Justiz gegängelt sowie die Opposition drangsaliert ­werden. Aus den im Gegenzug von Merkel erhofften Zugeständnissen von Vućič im Kosovo-Streit wurde nichts.
  • Populisten wie Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, Serbiens Vućič und der slowenische Ministerpräsident Janez Janša verabreden den Schulterschluss mit Polens Premier Mateusz Morawiecki, dem Chef von Italiens rechter ­Lega-Partei Matteo Salvini und der französischen Rechtsextremen Le Pen.
  • Langzeit-Ministerpräsident Edi Rama beherrscht das NATO-Mitglied Albanien mit fragwürdigen Methoden. Der Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen scheitert am Veto Frankreichs und der Niederlande wegen ausbleibender Prozesse gegen korrupte Richter und Staatsanwälte, an groß angelegtem Drogenschmuggel, Wahlfälschungen und der Erstickung freier Medien.
  • Rumänien und Bulgarien gelten auch eineinhalb Jahrzehnte nach ihrem EU-Beitritt als besonders korrupte Länder, in denen mächtige Politiker die staatlichen Institutionen zu ihren Gunsten aushebeln und die Justiz für ihre Interessen einspannen.
  • Das NATO-Mitglied Montenegro wird blockiert durch nationalistische Dauerkonflikte im Dreieck Montenegriner/Serben/serbisch-orthodoxe Kirche.
  • In ausnahmslos allen Staaten der Region blüht die Korruption von der Basis bis zu höchsten Stellen. Abgesahnt wird vor allem durch unterlassene oder manipulierte öffentliche Ausschreibungen. Handels- und Wirtschaftsmonopole diktieren Höchstpreise. In Serie kaufen Spitzenpolitiker akademische Titel und plagiieren Dissertationen.
  • Moskaus Propaganda wirkt in weiten Bevölkerungskreisen, die Russland als engsten Freund und Wirtschaftspartner ansehen. Jedoch ist das Gegenteil der Fall. Bis auf die Gaslieferungen aus dem Osten wickeln die südosteuropäischen Staaten den überwältigenden Teil ihres Handels mit der EU ab.
  • Die Bevölkerung resigniert und sucht ihr Heil in der Auswanderung vor allem in Richtung Deutschland und Österreich. Kroatien hat seit dem EU-Beitritt 2013 rund 10 Prozent seiner Bevölkerung verloren. Hunderttausende haben Bosnien-Herzegowina den Rücken gekehrt. Es sind vor allem die gebildeten jungen Menschen, die wegziehen.

Und doch spricht die EU-Kommission in ihren jährlichen „Fortschrittsberichten“ von „moderaten Reformerfolgen“ und empfiehlt den zerstrittenen Völkern auf der Balkan-Halbinsel gebetsmühlenartig: „Vertragt Euch!“ Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lobte bei ihrer jüngsten Balkan-Rundreise die „starke Konzentration auf grundlegende Reformen“, was „enorm“ sei: „Sie haben eine Menge harter Arbeit geleistet.“ Regierungskritische Journalisten samt Zivilgesellschaft in der Region zeigten sich mehr als verwundert über diese glatte Fehleinschätzung.



Behauptete Politikerfolge

Kanzlerin Merkel hofierte bei ihrem letzten Besuch Serbiens im September den alles bestimmenden Präsidenten Vućič als Garanten für gesellschaftspolitische Reformen. Doch: Seit ihrem vorangegangenen Besuch Belgrads 2015 sei „nicht eine einzige größere grundlegende Reform“ umgesetzt, beklagte das örtliche Büro der Heinrich-Böll-Stiftung. Der prominente serbische Ökonomieprofessor Miodrag Zec kritisierte, im Land existiere ein „metastasierendes politisches Modell, in dem ein Einziger zur wichtigsten und unantastbaren gesellschaftlichen Institution geworden ist, der den Kapitalverkehr und die Verteilung von Werten vorgibt“. „Mit Abscheu“ blicke er auf die jahrelang demonstrierte Unterstützung Merkels für Vućič, schimpft der serbische Bestseller-Autor Marko Vidojković: „Die EU hat sich entschieden, in Serbien auf die Stabilokratie zu setzen – ohne Rücksicht darauf, dass es im Inneren eine Diktatur gibt.“



Wie ist es möglich, dass die reale Situation und die von westlichen Politikern gezeichnete Scheinwirklichkeit so weit auseinanderklaffen? Dazu der Direktor des International Institute for Middle East and Balkan Studies (IFIMES) mit Sitz in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana, Zijad Bećirović: Für die vielen komplizierten Balkan-Probleme interessiere sich die europäische Spitzenpolitik nicht. Sie habe diese Themen „niedrigeren Ebenen“ übertragen. Das Heer der Diplomaten vor Ort erhalte nach eigenem Gutdünken freie Hand. „Diese EU-Vertretungen sind zu Brutstätten für Kriminalität und Korrup­tion geworden“, behauptet der prominente Politikexperte, auch wenn die Mehrheit des EU-Personals ernsthaft engagiert sei. Der korrupte Teil der entsandten Experten und Diplomaten arbeite mit den korrupten politischen Eliten der Balkan-Region zusammen. Bekannt sind die Korruptionsaffären in der „Rechtsstaatsmission“ (EULEX) im Kosovo (seit 2008) als teuerste aller EU-Auslandsmissionen.



In der Spitzenpolitik setzt sich dieser beklagenswerte Einfluss korrupter Vertreter fort: Die führende Kraft der gerade vereidigten neuen Regierung beim EU-Mitglied Rumänien sind die Postkommunisten (PSD). Besonders umstritten ist Vizepremier Sorin Grindeanu. Der hatte 2017 per Eilverordnung die Verwässerung des Strafrechts für korrupte Politiker durchgesetzt und damit massive Straßenproteste ausgelöst. Der frühere Vorsitzende der PSD, Liviu Dragnea, ist im Juli vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Er musste wegen Korruption hinter Gitter; weitere Korruptionsverfahren gegen ihn laufen. Gegen den rumänischen Ex-Regierungschef und Senatspräsidenten Călin Popescu Tăriceanu ist gerade ein Korruptionsverfahren eingeleitet worden. Im Juni 2021 waren die EU-Gelder für das rumänische Donaudelta als UNESCO-Weltnaturerbe in Höhe von 1,1 Milliarden Euro eingefroren worden. Ein Teil davon floss in Firmen einflussreicher Politiker und mit ihnen verbundenen Oligarchen fernab vom Delta. Die systematische Korruption dürfte mit den Riesensummen aus Brüssel im Zuge des Nach-Corona-Wiederaufbauplans dramatisch zunehmen: Bukarest hat 15 Milliarden Euro zinsgünstiger Kredite und über 14 Milliarden Euro nicht rückzahlbarer Finanzmittel beantragt.



Parteienfamilien im Zwielicht

Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) ist seit neun Jahren Sergei Stanischew. Seine Regierungszeit in Bulgarien (2005–2009) war geprägt vom Stopp Brüsseler Gelder nach Vorwürfen systematischer Korruption und der Duldung von Mafiastrukturen. Die SPE hält traditionell ihre Hand über Albaniens Langzeitregierungschef Edi Rama, der selbst bei Wohlmeinenden nicht unbedingt als „lupenreiner Demokrat“ gilt.



Auf der anderen Seite steht der angeblich tief in die Korruption verstrickte bulgarische Ministerpräsident Bojko Borissow, der elf Jahre an der Regierungsspitze stand, unter dem Schutz der Europäischen Volkspartei (EVP). Die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung hatte bei der Gründung von Borissows GERB-Partei Pate gestanden und auch die EVP hatte tatkräftig ihr Mitglied in Wahlkämpfen unterstützt. Die vor eineinhalb Jahren im Internet aufgetauchten und nie verifizierten kompromittierenden Fotos des neben einer ­Pistole, Stapeln von 500-Euro-Banknoten und Goldbarren schlafenden Borissow fanden keine größere Beachtung. Jedoch zogen sie monatelange Proteste in Sofia unter dem Motto „Mafia raus“ nach sich. Ziel war auch die EU-Vertretung im Land. Die meist jungen Demonstranten kritisierten eine „Fassadendemokratie“.



Eine zweifelhafte Rolle spielte die EVP auch bei ihrem Mitglied Ungarn, obwohl Regierungschef Orbán offen gegen Brüssel vom Leder zieht, Medien und Justiz im Land gängelt und die Zivilgesellschaft drangsaliert. Dennoch wurde ihm noch lange ermöglicht, unbehelligt ein Netzwerk mit anderen Populisten und Nationalisten in der EU zu schmieden. Orbán konnte auch als Erfolg verbuchen, dass sein Vertrauter Olivér Várhelyi seit einem Jahr EU-Erweiterungskommissar ist. Ihm wird nachgesagt, besonders Serbien vor unliebsamer Kritik zu schützen. Er stellte noch Mitte Oktober wirklichkeitsfremd fest: „In Serbien gibt es ein erneutes Engagement für Reformen.“ Várhelyi sei der „falsche Mann am falschen Platz“, hieß es im EU-Parlament, weil er negative EU-Berichte über die Lage zum Beispiel in Serbien schönfärbe. Wie könne ein Vertreter Ungarns, das seit Langem die gemeinsamen europäischen Werte mit Füßen trete, den Mitgliedern und Beitrittskandidaten in Südosteuropa ein Vorbild sein? Klartext redet zum Beispiel der serbische Psychologe Žarko Trebješanin: „Allen ist klar, dass wir hier eine Kulissendemokratie haben, aber dass tatsächlich hinter dieser ­Kulisse, hinter Institutionen und Gesetzen in Wirklichkeit absolut nichts existiert.“ Orbán demonstriert durch eng getaktete Treffen seine Verbundenheit mit Serbiens Präsident Vućič und dem Spitzenmann der bosnischen Serben, Milorad Dodik.



In neuesten Umfragen bezeichnen nur noch 36 Prozent in Serbien die Beziehungen zur EU als gut. Demgegenüber sind 85 bzw. 82 Prozent der Meinung, ihr Land besitze die besten Beziehungen mit China bzw. Russland. Allerdings wickelt das Land drei Viertel seines Handels mit der EU ab, aus der auch zwei Drittel aller ausländischen Investitionen stammen. Die meisten zinsgünstigen Kredite oder Zuwendungen kommen aus dem Westen. Obwohl das Image Russlands und Chinas in den Himmel wächst, käme niemand auf die Idee, dorthin auszuwandern oder dort zu studieren. Hier sind die „Sehnsuchtsländer“ vor allem Deutschland und Österreich, aber auch die Schweiz, Skandina­vien, Großbritannien oder die USA.



Die immer neuen Vorschläge westlicher Thinktanks, diese Realitätsverweigerung weiter Teile der Bevölkerung auf dem Balkan mit zusätzlichen Milliarden Euro zu bekämpfen, kann nicht zum Erfolg führen. Die politischen Eliten Südosteuropas sehen in der EU längst nicht mehr eine Wertegemeinschaft, sondern einen schlichten Mechanismus für Milliarden-Geldtransfers ohne jede Reformverpflichtung. Schon bisher war die korrupte Spitzenpolitik Hauptansprechpartner Brüssels und Washingtons. „Europa ist buchstäblich unfähig“, folgert der Kosovo-Politikberater Adrijan Arifi: „Alle Hoffnungen ruhen wie immer auf Amerika.“ US-Präsident Joe Biden hat eine ganze Riege erfahrener Balkan-Kenner in die Region entsandt. Während die EU und ihre Mitglieder immer noch in ethnischen Kriterien dächten, sagt Gabriel Escobar als einer dieser neuen US-Gesandten: „Das Problem von Bosnien-Herzegowina ist nicht ethnischer Natur, sondern es sind die systematische Korruption und mangelnde Glaubwürdigkeit der politischen Akteure.“



Ansätze für eine neue Balkan-Politik

Bisher spielen die EU-Mitglieder oft gegeneinander. Doch eine konsistente und mittelfristig angelegte Politik Brüssels gegenüber Südosteuropa wird gebraucht – mit:



Konditionierung der „Finanzmittel für Reformen“ und Sanktionen gegen nationalistische Querschießer. So hat sich die EU aus Uneinigkeit im November nicht auf Sanktionen gegen den bosnisch-serbischen Politiker Dodik wegen dessen Politik der Abspaltung einigen können.



Mehr Jugendaustausch: Selbst junge Menschen sind durch Elternhaus, Schule und Medien nationalistisch vergiftet. Möglichkeiten wie Erasmus+, das zwischen 2015 und 2020 von 30 000 Jüngeren vom Westbalkan genutzt wurde, genügen nicht.



Verstärkte Zusammenarbeit mit Organisationen der Zivilgesellschaft, auch wenn die Opposition in praktisch allen Balkan-Ländern zerstritten und nationalistisch gefärbt ist.



Und vor allem: Schaffung einer Gegenöffentlichkeit, um die Dauerpropaganda (auch gegen die EU) der regierungshörigen Boulevardmedien, die Medienmonopole der Oligarchien und den zersetzenden Einfluss russischer Staatsmedien wie Sputnik in praktisch allen Ländern zu konterkarieren. Umfragen in Provinzstädten wie Vranje in Serbiens Süden zeigen, dass sich die Menschen zwar informiert fühlen, durch Medienmonopole aber unwissend gehalten werden. Denn in Wirklichkeit wissen sie rein gar nichts über die unzähligen Affären und die weit verbreitete Korruption in ihrem Land.    



Dr. Thomas Brey ist Lehrbeauftragter deutscher Universitäten für Politikwissenschaft und Journalistik und war langjähriger Regionalbüroleiter der dpa für Südosteuropa

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2022, S. 75-79

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