Unterm Radar

01. Mai 2021

Gefährliche Ruhe

Wie sich die Dinge auf dem Balkan entwickeln, scheint weder die EU noch die USA wirklich zu interessieren. Deshalb entsteht viel Raum für eine Politik nach Putins Vorbild sowie für einen stärkeren Einfluss Chinas.

Der Balkan im engeren und Südosteuropa (SOE) im weiteren Sinne sind von der internationalen politischen Landkarte weitgehend verschwunden. Es gibt vermeintlich viel wichtigere Probleme und Krisen, um die sich die USA und die EU kümmern müssen. Daher verrichten die ansehnlich großen SOE-Apparate Washingtons und Brüssels auch klaglos das Tagesgeschäft in der Region. Doch dringend notwendige politische Impulse, Konzepte oder Visionen zur Lösung der vielen Konflikte bleiben aus.



Unterhalb dieser Wahrnehmungsschwelle der „großen“ Politik verschärfen sich die Antagonismen zwischen den Völkern. Nationalismus, Korruption, die Knebelung der Medien, die Gängelung der Justiz und die Indoktrinierung der Jugend markieren immer neue dramatische Höhepunkte. In dieser gefährlichen Gemengelage drohen neue Konfrontationen, deren Eskalation selbst in bewaffnete Auseinandersetzungen nicht mehr auszuschließen ist. Jedenfalls rüsten schon mal das EU-Mitglied Kroatien sowie Serbien als das Kernland des Westlichen Balkans auf.



In allen Ländern der Region wird von den politischen Eliten die Geschichte missbraucht, um die vermeintliche Opferrolle der eigenen Nation „nachzuweisen“ und damit die populistische Homogenisierung der Bevölkerung gegen die Nachbarn zu erreichen. Zurzeit blockiert das EU-Mitglied Bulgarien mit wissenschaftlich abenteuerlichen historischen Thesen die von allen Seiten so gewünschte Annäherung Nordmazedoniens an Brüssel.



In Bosnien-Herzegowina hat der oft sogar hasserfüllte Streit von muslimischen Bosniaken, orthodoxen Serben und katholischen Kroaten zu einem gescheiterten Staat geführt. Die Zerstückelung des Landes mit zwei fast autonomen Landesteilen, 14 Parlamenten und 120 Ministern bei gut drei Millionen Bürgern wird von den Spitzenpolitikern gepflegt, um in diesem gesamtstaatlichen Wirrwarr und Machtvakuum die eigene Position zu sichern.



Überall in der Region orientieren sich führende Politiker am Vorbild des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán mit seiner „illiberalen Demokratie“ bewundert und kopiert den Kremlchef ebenso wie der serbische Präsident Aleksandar Vučić. Janez Janša als Regierungschef im EU- und NATO-Land Slowenien wird seinerseits von Orbán kräftig unterstützt, um nach ungarischem Vorbild die slowenischen Medien an die Leine zu legen. Der rechtsnationale Janša nimmt in den sozialen Medien offen Anleihen bei dem früheren US-Präsidenten Donald Trump und seinem Feldzug gegen „Fake News Media“. Und so war pünktlich zum Frühlingsanfang eine umfangreiche Bildreportage der russischen Staatsagentur Sputnik über Putin im Wintervergnügen in der sibirischen Wildnis ein Renner in den prominentesten Medien Südosteuropas.



Region ohne Perspektiven

Die immer gleichen Politiker in der Region, die Jahrzehnte an der Macht sind, wurden von der EU und den USA bisher als Partner für Reformen, Demokratisierung und Modernisierung ihrer Länder betrachtet – obwohl sie eigentlich der zentrale Teil aller Probleme sind. Während diese Politiker unbehelligt von den westlichen Hauptstädten in ihren Ländern freie Hand erhielten, sollten sie sich im Gegenzug beim Abbau nationaler Spannungen zu den Nachbarländern kooperativ zeigen. Dieses Konzept hat jedoch Schiffbruch erlitten. Dennoch verhält sich der Westen so, als laufe alles nach Plan. Hauptsache Ruhe, scheint nach den Bürgerkriegen der neunziger Jahre beim Zerfall Jugoslawiens jetzt die Devise.



Das Ergebnis ist Jahr für Jahr allen wichtigen internationalen Indices und Rankings zu entnehmen: Die Länder der Region verlieren bei Korruption, Meinungs- und Medienfreiheit, unabhängiger Justiz, Funktion staatlicher Institutionen und Kriminalität rasant an Boden. In der Folge sehen die Menschen mittelfristig keine Perspektive mehr. Seit vielen Jahren leidet Südosteuropa an einem regelrechten Massenexodus seiner Bürgerinnen und Bürger. Darunter sind vor allem Jüngere und gut Ausgebildete. Zurück bleiben große Landstriche, wo die medizinische Versorgung wegen ausgewanderten medizinischen Fachpersonals nicht mehr gewährleistet ist. Inzwischen werden auch Handwerker knapp.



Die in der Heimat Gebliebenen werden von ihrem politischen Spitzenpersonal weiter nationalistisch „motiviert“, damit sie unter Führung derselben Politiker die Reihen fest schließen. Denn angeblich kann nur die eigene politische Elite ihre Landsleute vor dem Bösen retten, das von den Nachbarn anderer Nationalitäten drohe.



Beispiel Bosnien-Herzegowina: Hier unterstützt Kroatien seine Landsleute, damit sie ihre Autonomie erzwingen, die den Staat noch zusätzlich lähmen würde. Auf der anderen Seite drohen die bosnischen Serben, ihre Landeshälfte von diesem Balkanland abzuspalten.



Die Trennung der früheren serbischen Provinz Kosovo, die seit 2008 selbstständig und von über 100 Staaten völkerrechtlich anerkannt ist, bleibt die größte Gefahrenquelle für die Balkanhalbinsel. Serbien will seinen fast nur noch von Albanern bewohnten ehemaligen Landesteil nicht in die Selbstständigkeit entlassen, weil dort die mittelalterlichen serbischen Klöster und Schlachtfelder liegen.



Streitpunkt Kosovo

Eine wie auch immer geartete Aussöhnung zwischen den verfeindeten Nachbarn versucht die EU seit zehn Jahren voranzubringen – ohne wirklichen Erfolg. Niemand glaubt an die absehbare Anerkennung Kosovos durch Belgrad. Niemand kann sich aber auch eine – theoretische – Reintegration Kosovos in den serbischen Staatsverband vorstellen; die Serben am wenigsten. Doch westliche Politik geht weiter vom ganz und gar unrealistischen Ziel aus, die beiden Nachbarn zu gegenseitiger Anerkennung bewegen zu können.



Der neue Kosovo-Regierungschef Albin Kurti, der im Februar gegen alle westlichen Widerstände die Parlamentswahlen triumphal gewonnen hatte, versucht mit geschickten politischen Schachzügen, die von Brüssel und Washington vehement abgelehnte Vereinigung des Kosovos mit der „Mutterrepublik“ Albanien mittelfristig zu erreichen.



Über all die von der Politik sorgsam gepflegten Querelen und Drohkulissen in dieser oft abschätzig als europäischer Hinterhof bezeichneten Region können die EU und die USA aber nicht einfach hinwegsehen. Denn Russland betrachtet Südosteuropa schon lange als wichtigen Nebenschauplatz im geopolitischen Ringen. Moskau hat daher sehr viel Geld und Personal aufgewendet, um die Deutungshoheit in den regionalen Medienlandschaften zu gewinnen.



Nachdem Russland in Montenegro und Nordmazedonien durch den NATO-Beitritt dieser Länder Niederlagen einstecken musste, gilt sein besonderes Interesse jetzt Bosnien-Herzegowina. Erst im März hatte das russische Außenministerium das kleine Balkanland eindringlich vor einer Annäherung an euroatlantische Strukturen gewarnt, weil das als unfreundlicher Akt aufgefasst werden würde.



Vorbild Russland

Der Einfluss Russlands insbesondere auf die Serben, dem größten Volk auf dem Westlichen Balkan, hat zu einer kuriosen Lage geführt: Obwohl die EU hier mehr als zwei Drittel aller nicht rückzahlbaren Finanzhilfen, aller ausländischen Investitionen und des gesamten Außenhandels bestreitet, betrachtet die große Mehrheit der Serben Russland als den größten Wirtschaftspartner sowie als politische und militärische Schutzmacht. Die Vorbildfunktion Russlands hat auch sicherheitspolitische Implikationen. So warnt der serbische Ableger der Helsinki- Föderation für Menschenrechte: Belgrad verfolge in Südosteuropa dieselbe Politik wie Russland in seiner ukrainischen, georgischen oder moldawischen Nachbarschaft.



Nicht zu unterschätzen ist auch der rasant steigende Einfluss Chinas, das im Zuge seiner „Neuen Seidenstraße“ Autobahnen, Kraftwerke und Eisenbahnverbindungen baut. Allerdings zu Kosten, die Experten auf 20 bis 30 Prozent höher als entsprechende westliche Angebote beziffern. Und finanziert mit vergleichsweise teuren chinesischen Krediten, die mittelfristig zu dramatischen Abhängigkeiten der Nehmerländer führen dürften. Dafür ersparen sich die Länder Südosteuropas internationale Ausschreibungen und Überprüfungen der Umweltverträglichkeit.



Besonders geschickt hatte es Kroatien angestellt. Für die Brücke vom Festland auf die Halbinsel Pelješac im Süden der Adria, die 2022 fertig wird, ließ sich Zagreb von Brüssel 357 Millionen Euro überweisen – immerhin 85 Prozent der Baukosten. Den Zuschlag erhielten aber chinesische Staatsfirmen, die mit Dumpingpreisen europäische Konkurrenz aus dem Feld schlugen.

 

Dr. Thomas Brey hat viele Jahre das Regionalbüro der Deutschen Presse-Agentur dpa für Südosteuropa geleitet. Derzeit ist er Lehrbeauftragter für Politik und Journalistik an deutschen Universitäten.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 03, Mai-Juni 2021, S. 12-14

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