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01. März 2016

Stunde null

Für einen Austritt aus der EU gibt es keinen Präzedenzfall, jede Kosten-Nutzen-Kalkulation ist letztlich Spekulation. Doch dass ein Brexit für Brüssel, vor allem aber auch für London selbst, außen- und sicherheitspolitisch ein schwerer Schlag wäre, lässt sich leicht ­voraussagen. Dem Land stellten sich dann fundamentale Fragen.

Nehmen wir Folgendes an: Im Juni 2016 entschieden sich die britischen Wähler dafür, die EU zu verlassen. 55 Jahre, nachdem sich das Vereinigte Königreich erstmals um Aufnahme bemühte, vollzöge London eine Kehrtwende in seiner Europa-Strategie. Für Großbritanniens Beziehungen zu seinen europäischen Nachbarn schlägt dann die Stunde null. Zudem würde der EU-Austritt die Frage nach der britischen Rolle in den internationalen Beziehungen und der internationalen politischen Ökonomie aufwerfen. Wie sähe ein Brexit-Szenario aus?

Was verloren ginge

Seit Großbritannien 1973 beigetreten ist, haben sich seine Wirtschaft und ­Gesellschaft mehr und mehr mit denen der anderen EU-Mitgliedstaaten verwoben. Die EU ist wichtigster Handelspartner, sie steht für 44,6 Prozent der Exporte und 53,2 Prozent der Importe von Gütern und Dienstleistungen. Zudem hat das Vereinigte Königreich seine EU-Mitgliedschaft genutzt, um seinen internationalen Einfluss auszubauen und nationale außen- und sicherheitspolitische Ziele voranzutreiben. Die britische Außen- und Sicherheitspolitik – und dies gilt auch für die Handels- und Entwicklungspolitik – ist in die EU eingebettet und wird über sie verfolgt. Die vorherrschende Meinung unter Europa-Experten außerhalb Großbritanniens ist, dass die EU-Institutionen den Briten das Beste von beidem geboten haben: hier frei und unabhängig zu handeln, wenn man sich dazu entschloss. Dort gemeinschaftlich und unter Bündelung von Ressourcen, wenn dies vorzuziehen war. Auf diese Weise konnte Großbritannien in der Weltpolitik einen größeren Einfluss ausüben, als es dem Land allein auf sich gestellt möglich gewesen wäre.

Für einen großen Mitgliedstaat wie das Vereinigte Königreich mit historischen Verbindungen und ausgedehnten wirtschaftlichen Interessen in der ganzen Welt waren die EU-Mechanismen besonders attraktiv. Und aufgrund ihrer umfangreicheren und ambitionierteren Außen- und Sicherheitspolitik konnten die Briten die EU-Politik in vielen Bereichen effektiver beeinflussen als die meisten kleinen und mittleren Mitgliedstaaten.

Derzeit ist Großbritannien mit den größten sicherheitspolitischen Herausforderungen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts konfrontiert – ein Brexit noch gar nicht mitgedacht. Die Struktur der internationalen Beziehungen verschiebt sich, die europäische Nachbarschaft Großbritanniens wird explosiver. Der Aufstieg neuer globaler Mitspieler in Kombination mit der jüngsten Finanzkrise hat neue Fragen über Großbritanniens Rolle in den internationalen Beziehungen aufgeworfen. In dieser Gemengelage würde ein Brexit Großbritannien beispiellosen Unsicherheiten aussetzen und den Bestand des Landes erneut infrage stellen: Sollte es nämlich in Schottland eine Mehrheit für einen Verbleib in der EU geben, dürfte ein neuerliches schottisches Unabhängigkeitsreferendum unvermeidbar sein.

Ein neues Verhältnis zum Kontinent

Ein Brexit wäre ohne Präzedenzfall – und aufgrund fehlender Faktenbasis sind Kosten und Nutzen eines EU-Austritts reine Spekulation. Auch die Zeit vor dem britischen Beitritt kann nicht als nützliche Anleitung zu einer alternativen Zukunft dienen, weil sich die aktuelle internationale Politik sehr von den vom Kalten Krieg geprägten Verhältnissen unterscheidet, unter denen Großbritannien Anfang der siebziger Jahre der damaligen EWG beitrat.

Sicher ist aber: Ein Brexit würde die bisherige Orientierung der britischen Außen- und Sicherheitspolitik über den Haufen werfen. Die EU-Mitgliedschaft ist seit 1973 ein zentraler Bestandteil der britischen Diplomatie und Außenpolitik gewesen. Eine Änderung dieses Status würde eine weitreichende Neujustierung der Beziehungen zu den europäischen Nachbarn erfordern. Bereits die Verhandlungen über den EU-Austritt würden über längere Zeit umfassende diplomatische und politische Kapazitäten in Anspruch nehmen (womöglich ein ganzes Jahrzehnt lang), die dann nicht mehr zur Verfügung stünden, um sich auf die drängenden sicherheitspolitischen Herausforderungen zu konzentrieren. Die Verhandlungen über die britischen Beziehungen mit der EU, die Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union vorsieht, wären in den kommenden Jahren von zentraler Bedeutung. Großbritannien hätte ein sehr starkes Interesse daran, einen zügigen Abschluss dieser Verhandlungen anzustreben, um die Unsicherheit, die ein Brexit für Finanzmärkte, Unternehmen und Auslandsdirektinvestitionen bedeuten würde, möglichst gering zu halten. Dies gelte auch für britische Staatsbürger, die in EU-Mitgliedstaaten leben, sowie für EU-Bürger in Großbritannien.

Die britische Regierung müsste sich überlegen, ob sie eine vorgefertigte „Nach-Brexit-Lösung“ anstrebt, ob sie also eines der Modelle der Zusammenarbeit übernimmt, die die EU mit Norwegen (das zum Europäischen Binnenmarkt gehört) oder der Schweiz unterhält (die EFTA-Mitglied ist und eine Reihe bilateraler Abkommen in diversen Bereichen geschlossen hat). Oder wäre – radikaler gedacht und von einigen Brexit-Befürwortern bereits vorgeschlagen – ein Freihandelsabkommen (Comprehensive Economic and Trade Agreement/CETA) attraktiver, wie es die EU mit Kanada ausgehandelt hat? Welche Vereinbarung über die neuen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU auch immer am Ende getroffen wird, es gäbe beträchtlichen Druck, dieses Abkommen durch ein neuerliches Referendum bestätigen zu lassen. Zudem müsste die Vereinbarung noch von jedem einzelnen EU-Mitgliedstaat und dem Europäischen Parlament ratifiziert werden. Länder, die Großbritannien den EU-Austritt übel nähmen, hätten wohl wenig Eile bei der Ratifizierung.

Ob Norwegen-, Schweiz- oder CETA-Lösung: Großbritannien wäre nicht mehr Teil der EU-Institutionen, wo die Entscheidungen gefällt werden. Es könnte die EU-Gesetzgebung nicht mehr direkt durch den legislativen Prozess beeinflussen, sondern nur durch diplomatische Mittel gegenüber der Europäischen Kommission oder indirekt gegenüber einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Um den bestehenden politischen Einfluss zu erhalten, müsste Großbritannien in allen EU-Mitgliedstaaten sein diplomatisches Personal aufstocken und die bilateralen Beziehungen ausbauen.

Der einzige Versuch in jüngster Zeit, die Vor- und Nachteile der EU für die britische Außenpolitik zu erfassen, war der „Review of the Balances of Competences“-Bericht des Foreign and Commenwealth Office, den die bereits von Cameron geführte konservativ-liberale Koalitionsregierung zwischen 2010 und 2015 erstellen ließ und der gewissermaßen eine Bestandsaufnahme des in die EU integrierten Großbritanniens ist. Der Bericht fasst das Wissen von namhaften Experten zusammen. Er gelangt zu der Schlussfolgerung, dass es „generell sehr im Interesse Großbritanniens ist, in seiner Außenpolitik durch die EU zu handeln“.

Das Ansehen des Landes leite sich wesentlich von der Wahrnehmung ab, es sei ein „führender EU-Mitgliedstaat“, heißt es in der „Review“ weiter. Das gemeinsame Handeln mit 27 anderen Ländern bedeute mehr Einfluss in den Beziehungen zu außereuropäischen Mächten. Das liege zum einen an der internationalen Bedeutung des EU-Binnenmarkts sowie der Reichweite und der Größe der EU-­Finanzinstrumente, etwa im Hinblick auf die Entwicklungszusammenarbeit und Wirtschaftsbeziehungen. Zum anderen habe es damit zu tun, dass die EU im Vergleich zu anderen internationalen Organisationen über deutlich mehr und vielfältigere Werkzeuge verfüge. Und schließlich werde die EU als politisch neutral wahrgenommen, was es ihr erlaube, in manchen Fällen zu handeln, in denen andere Länder und Organisationen dazu nicht in der Lage seien.

Die potenziellen Kosten

Die Auswirkungen eines Brexit wären nicht einseitig. Der Verlust eines der großen EU-Mitgliedstaaten würde weltweit aufhorchen lassen und gerade in der Euro- und Flüchtlingskrise Fragen zur Zukunftsfähigkeit der EU verstärken. Kommentatoren in aller Welt würden sicherlich fragen, ob sich die EU auf dem Weg zur Auflösung befindet.

Weniger dramatisch wäre der Verlust der durchaus gewichtigen britischen Stimme im EU-Entscheidungsprozess. London wird häufig die Rolle des Anwalts einer deregulierten, marktorientierten Freihandelsagenda zugesprochen. Allerdings würde ein britischer Austritt aus der EU auch die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union schwächen. Als ein traditionell stark international engagiertes Land mit einem großen Spektrum an diplomatischen, militärischen und anderen außenpolitischen Ressourcen ist Großbritanniens Beitrag bei der Entwicklung einer GASP von großer Bedeutung.

Die EU würde die Stimme Großbritanniens auch bei der Formulierung ihrer Entwicklungspolitik, in der internationalen Umweltdiplomatie sowie bei der inneren Sicherheits- und Handelspolitik verlieren. Umgekehrt könnte London beim Verfolgen nationaler außenpolitischer Ziele nicht mehr auf die Europäische Union als einen „Verstärker“ setzen und auf die Macht, die sie in all diesen Gebieten ausübt.

Wie im „Review of the Balances of Competences“ ausgeführt, kann Großbritannien in Sachen Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe dank der geografischen Reichweite der EU auch auf Länder einwirken, zu denen es alleine keinen Zugang hätte. „Die enge Übereinstimmung bei der Zielsetzung europäischer und britischer Entwicklungspolitik und die Tatsache, dass die EU als politisch neutral und international einflussreich wahrgenommen wird, bedeuten, dass die EU als Multiplikator britischer politischer Prioritäten und dessen Einfluss fungieren kann“, heißt es dort.

Zentrale bilaterale Beziehungen

Die wohl direkteste Folge einer Brexit-Entscheidung wäre eine Krise der britisch-irischen Beziehungen. Großbritannien ist Irlands wichtigster Handels­partner, und das Vereinigte Königreich hat seine EU-Mitgliedschaft bislang als Rahmen für den Friedensprozess in Nordirland genutzt. Ein Brexit könnte zum Zerfall der erlangten politischen Einigung zwischen Unionisten und Republikanern führen.

Andere bilaterale Schlüsselbeziehungen würden sich nach einem Brexit für Großbritannien ebenfalls wesentlich komplizierter gestalten. Zum Beispiel haben die Briten in den vergangenen Jahren besonders stark in gute Beziehungen zu Frankreich investiert. Die Lancaster-House-Verträge von 2010 haben eine neue anglo-französische Verteidigungsallianz ins Leben gerufen, die auf der Zusammenarbeit bei Atomwaffentechnologie und stärkerer Interoperabilität der Armeen basiert. Die Verträge bauen auf engere Kooperation zwischen Frankreich und Großbritannien, um eine bessere Lastenverteilung in EU und NATO zu erwirken. Trotz des Widerstands von Seiten britischer Regierungen gegen eine EU-Verteidigungspolitik hält Paris an der Idee einer anglo-französischen Koordination als Herzstück einer erfolgreichen EU-Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik fest. Mit einem Brexit würde der engen Kooperation der Boden entzogen.

Auch die britischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten würden deutlich komplizierter. Präsident Obama und andere Regierungsvertreter haben bereits klar ihre Präferenz für einen Verbleib Großbritanniens in der EU geäußert. Ein Austritt würde London in eine widersprüchliche Position manövrieren, was die langfristige Strategie gegenüber den USA angeht, ungeachtet der Frage, ob die US-Regierung demokratisch oder republikanisch ist. Beide haben über Jahrzehnte EU- und NATO-Erweiterungen als zentralen Bestandteil der transatlantischen Beziehungen unterstützt und beworben.

Wäre Großbritannien nicht mehr in der EU, hätte das Land auch keinerlei Einfluss auf zukünftige Erweiterungen der Union oder darauf, dass die EU-Verteidigungspolitik auf eine Weise weiterentwickelt wird, die die NATO stärkt statt ihre Strukturen zu duplizieren. Diese Einbußen von Einflussmöglichkeiten würden mit Sicherheit dazu führen, dass Großbritannien aus Sicht zukünftiger US-Regierungen an Wichtigkeit verliert. Die „special relation­ship“ wäre nicht mehr ganz so „special“.

Phönix oder Titanic?

Könnte ein Brexit mittel- bis langfristig die Grundlage für eine bessere Zukunft Großbritanniens sein? Brexit-Befürworter argumentieren, dass die britische Wirtschaft befreit wäre von der Last der Regulierungen und Restriktionen, die die EU-Mitgliedschaft mit sich bringt – kurz: eine „Phönix-­Zukunft“ für Großbritannien. Das ganze Arsenal britischer Politik und Diplomatie wäre vom EU-Ballast befreit, Entscheidungsprozesse sowie bestehende Strukturen auswärtiger Beziehungen könnten sich allein an den nationalen Interessen und internationalen Beziehungen Großbritanniens orientieren.

Allerdings ist eine weniger optimistische Zukunft wahrscheinlicher – ein „Titanic-Szenario“, in dem Großbritanniens Weltrang untergeht. Die britische Regierung wäre gezwungen, dem Eindruck entgegenzuwirken, Großbritanniens internationale Rolle und Einfluss würden schrumpfen. Ein Brexit würde die Rolle des Königreichs auf der Weltbühne hinterfragen und könnte andere Länder dazu bringen, die Angemessenheit seiner Mitgliedschaft in Schlüssel­institutionen wie dem UN-Sicherheitsrat zu bezweifeln. Großbritannien könnte eine ganze Reihe außen- und sicherheitspolitischer Themen nicht mehr über ein multilaterales Format und mit 27 anderen europäischen Staaten angehen. Da das derzeitige außenpolitische System der EU nur Mitgliedern erlaubt, bei diesem Prozess mitzuwirken, würde das Land neue Wege finden müssen, um zwischenstaatliche Meinungsverschiedenheiten auszuräumen, Differenzen auszubügeln und im Falle von gemeinsamen Anliegen gemeinsame Positionen zu finden.

Was den Titanic- und Phönix-Zukunftsalternativen gemein ist, ist die Einschätzung, dass nach einem Brexit die britische Außen- und Sicherheitspolitik hauptsächlich damit beschäftigt wäre, die außenpolitischen Beziehungen neu zu ordnen. Demzufolge müsste sich Großbritannien vor allem damit befassen, die EU-Politikagenda von außen zu beeinflussen. Denn auch nach dem Brexit wäre die EU der weltweit größte Handelsblock, der wichtigste Geber internationaler Entwicklungshilfe, ein wichtiger Akteur auf dem Feld der globalen Umweltdiplomatie und der Dreh- und Angelpunkt europäischer Diplomatie und Sicherheitspolitik. Großbritanniens nationale Außen- und Sicherheitspolitik wäre also weiterhin eng verzahnt mit der Europäischen Union – von der Wirtschafts- und Handelspolitik gar nicht zu sprechen –, mit den Sorgen und Krisen der EU und ihrer verbliebenen Mitglieder, ob nun die britischen Wähler im anstehenden Referendum für den Brexit stimmen oder nicht.

Prof. Richard G. Whitman ist Senior Research Fellow beim "The UK in a Changing Europe“-Projekt sowie Economic and Social Research Fellow und Visiting Senior Fellow von Chatham House.

Bibliografische Angaben

IP Länderporträt 1, März - Juni 2016, S. 10-15

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