Stresstest für Deutschlands Israel-Politik
Außenpolitische Brüche und gesellschaftliche Verschiebungen setzen das Verhältnis beider Länder unter Spannung. Das Fundament ist breit, wird aber fragiler.
Wer zum 60. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel am 12. Mai 1965 auf das Erreichte zurückblickt, sieht 80 Jahre nach der Shoah und dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein breites und tiefes Fundament der bilateralen Beziehungen. Dazu gehören die unendlich vielen persönlichen Beziehungen zwischen Vertretern beider Länder ebenso wie die engen politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen. Sie sind geprägt durch die konstitutive Rolle der Vergangenheit für das je eigene Selbstverständnis, aber auch durch die von Beginn an große Rolle der jeweils eigenen Interessen politischer oder wirtschaftlicher Natur. Und schließlich sind die bilateralen Beziehungen auch geprägt durch das lange vorherrschende Bild gemeinsamer Werte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Eine solche Erfolgsgeschichte hätte zum Zeitpunkt der Staatsgründungen Israels und dann der Bundesrepublik kaum jemand für möglich gehalten. Dieser Beitrag blickt auf zentrale außenpolitische und gesellschaftliche Einflussfaktoren, die das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel prägen. Hier ist die veränderte Weltlage ebenso zu nennen wie die wachsende Bedrohung der demokratischen Verfasstheit Israels, aber auch Deutschlands.
Deutschlands „offizielle“ Beziehungen mit Israel beruhen heute auf dem Postulat Angela Merkels aus dem Jahr 2008, wonach die Sicherheit Israels aus historischer Verantwortung Teil der Staatsräson Deutschlands sei. Dieser Begriff soll hier nicht detailliert diskutiert werden; wichtig ist aber zu bemerken, dass seine konkrete politische Bedeutung großen Interpretationsspielraum lässt, zumal es im Ermessen des Betrachters liegt, wie genau ein relevanter Beitrag zur Sicherheit Israels zu definieren wäre.
Der Begriff macht aber deutlich, dass in dem Bezug auf den Staat Israel eine wesentliche Grundlage der eigenen Identität der Bundesrepublik begründet wird. Umgekehrt gilt auch für Israel, dass in der Bezugnahme auf Deutschland immer auch Kernbestände des eigenen Selbstverständnisses aufgerufen werden.
Deutschland muss in der Europäischen Union eine kohärente, realistische Israel-Politik anführen
Diese besonderen Beziehungen, die mit dem Bezug auf eine historische Verantwortung Deutschlands begründet werden, stehen aus deutscher Sicht latent in einem Spannungsverhältnis mit einem zweiten Kernbestand der eigenen Identität, der ebenfalls historisch begründet wird, nämlich der Verpflichtung zu den universalistischen Prinzipien der Menschenrechte und des Völkerrechts. Vor dem Hintergrund der israelischen Siedlungspolitik sowie der Aushöhlung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien durch israelische Regierungen der letzten Jahre geraten diese beiden normativen Eckpfeiler der deutschen Israel-Politik zunehmend in Widerspruch miteinander.
Der infolge des Terrorangriffs der Hamas am 7. Oktober 2023 begonnene Krieg gegen die Hamas hat dieses Spannungsverhältnis weiter auf die Spitze getrieben und stellt die deutsche Außenpolitik vor gravierende Herausforderungen. Das betrifft beispielsweise die anhängigen Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof gegen den Staat Israel und vor dem Internationalen Strafgerichtshof gegen Regierungschef Netanjahu und den früheren Verteidigungsminister Gallant.
Die deutsch-israelischen Beziehungen sind eingebettet in den europäischen Kontext. Die Haltung der EU zu Israel war oft uneinheitlich und reaktiv. Umso wichtiger, dass Deutschland eine gestaltende Rolle übernimmt und sich für eine kohärente und realistische Nahost-Politik einsetzt, die sowohl Israels Sicherheit als auch eine faire politische Perspektive für die Palästinenser berücksichtigt.
Die Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus wird in Deutschland und Israel ganz unterschiedlich bewertet. Während Trump in Europa vor allem für die Aufkündigung der transatlantischen Partnerschaft und das Ende einer regelbasierten Weltordnung steht, sehen die Israelis in ihm parteiübergreifend eine historische Chance, ihre sicherheitspolitische Lage entscheidend zu verbessern. Dies betrifft drei zentrale Punkte: die Zukunft des Gazastreifens, den Ausbau der Abraham-Abkommen und die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien sowie den Umgang mit Iran und dessen Atomprogramm.
In der geschickten Verknüpfung der drei Aspekte läge eine mögliche Rolle Deutschlands im Zusammenspiel mit anderen Europäern. Denn die Pläne Trumps zu einer Umsiedelung der Palästinenser aus dem Gazastreifen werden nicht zuletzt am entschiedenen Widerstand der arabischen Staaten und insbesondere Saudi-Arabiens scheitern. Deutschland könnte sich beim Wiederaufbau des Gazastreifens engagieren und dafür auf eine angemessene Rolle für eine politische Beteiligung der Palästinensischen Autonomiebehörde dringen. Damit würde eine entscheidende Grundlage geschaffen für die Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien. Diese wiederum wäre eine wesentliche Grundlage für eine regionale Allianz der arabischen Staaten gegenüber Iran und seinen Verbündeten. Daneben müsste ein neues Atomabkommen treten mit angemessenen Sicherheitsgarantien.
Letztlich hängt die Qualität der deutsch-israelischen Beziehungen auch davon ab, wie die Menschen beider Länder aufeinander blicken. Die Bertelsmann Stiftung hat dazu in den vergangenen 25 Jahren repräsentative Umfragen durchgeführt. Dabei wird deutlich, dass die Rolle der Vergangenheit für die Einstellungen zueinander in entscheidender Weise überlagert wird durch die ganz unterschiedlichen existenziellen Lebenslagen. Die Auflösung der komfortablen Nachkriegssituation Deutschlands und die damit verbundene Neubewertung strategischen geopolitischen Denkens und der Rolle militärischer Mittel mag mittel- und langfristig zu größerem Verständnis israelischer Politik beitragen. Ebenso gewichtig aber sind die mit der Transformation von Sicherheit, Wirtschaft und Gesellschaft verbundenen Belastungen für die demokratischen und liberalen Grundlagen Deutschlands.
Auch in Israel verändert sich die gesellschaftliche Basis rasant. Die wachsende politische Macht religiös-nationalistischer und ultraorthodoxer Milieus sowie die Aushöhlung rechtsstaatlicher Prinzipien im Zuge der umstrittenen Justizreform haben zu massiven Spannungen geführt. Diese Entwicklungen wirken nicht nur innenpolitisch destabilisierend, sondern erschweren auch den Dialog mit Partnern in Europa, die Israel als stabile Demokratie und normativen Verbündeten wahrgenommen haben. Eine zukunftsgerichtete deutsche Israel-Politik muss diese innerisraelischen Transformationsprozesse stärker in den Blick nehmen.
Recht stabil zeigt sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten, dass eine Mehrheit der Deutschen dafür plädiert, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus zu ziehen und dass die Erinnerung an den Holocaust für die deutsche Politik eine eher kleine Rolle spielen solle. Ähnliches gilt auch für die Frage einer besonderen Verantwortung Deutschlands für das jüdische Volk: Eine deutliche Mehrheit der Deutschen spricht sich gegen eine solche Verantwortung aus. Eine besondere Verantwortung für den Staat Israel wird nur von jedem vierten Deutschen befürwortet.
Der rechtsextreme Bereich bietet weiterhin den Schwerpunkt antisemitischer Einstellungen
Vor dem Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts und des von israelischer Seite infolge des Terrorangriffs der Hamas am 7. Oktober rücksichtslosen militärischen Vorgehens auch gegen die palästinensische Zivilbevölkerung rührt der Vorwurf vieler Menschen, Israel verstoße hier gegen Menschenrechte und Völkerrecht, teils aus einem starken Bekenntnis zu den Lehren aus der deutschen Vergangenheit. Zugleich ist die psychische und ideologische Nähe zu Motiven der Schuldumkehr häufig offenkundig, sodass die sogenannte „legitime Israel-Kritik“ und israelbezogener Antisemitismus nicht immer einfach abzugrenzen sind.
Klar ist: Die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland ist besorgniserregend. Wenngleich etablierte Studien für die ersten zwei Jahrzehnte nach der Jahrtausendwende eine Abnahme des manifesten Antisemitismus feststellen – von einem niedrigen zweistelligen zu einem mittleren einstelligen Bereich –, so gilt dies für den israelbezogenen Antisemitismus ausdrücklich nicht. Für diesen werden schon seit geraumer Zeit hohe Zustimmungswerte berichtet.
In der schon erwähnten Studie der Bertelsmann Stiftung stimmte zuletzt 2021 mehr als ein Drittel der Aussage zu, die Politik Israels gegenüber den Palästinensern sei mit der Politik des NS-Staates gegenüber den Juden gleichzusetzen. Und so führte auch der aktuelle Krieg Israels gegen die Hamas bereits in der Frühphase im Herbst 2023 zu einer Verdoppelung antisemitischer Delikte auf über 5000 Vorfälle. Die Leichtigkeit, mit der latente Vorurteile zu manifesten Angriffen gegen Juden in Deutschland umschlagen, bereitet große Sorge. Zugleich offenbart der Umgang mit der Thematik das vorherrschende Muster, den Antisemitismus, insbesondere den israelbezogenen, zu einem „Antisemitismus der Anderen“ zu externalisieren, indem auf den Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland verwiesen wird. Doch dies wird der Komplexität des Antisemitismus in Deutschland nicht gerecht, ja, leistet ihm Vorschub.
Die von rechtsextremen und nationalreligiösen Positionen dominierte israelische Regierungspolitik der Gegenwart gegenüber den Palästinensern im Gazastreifen ebenso wie im Westjordanland liefert leider immer wieder vermeintliche oder tatsächliche Belege und Gründe, die Antisemitismus als „legitime Israel-Kritik“ tarnen lassen. Dabei gilt, dass der rechtsextreme Bereich weiterhin den Schwerpunkt antisemitischer Einstellungen bildet.
Dies zeigt auch eine aktuelle Studie des „Religionsmonitors“ der Bertelsmann Stiftung, wonach der postnazistische Antisemitismus unter AfD-Anhängern mit rund 40 Prozent gut doppelt so hoch ist wie unter Anhängern der anderen Parteien. Besonders niedrig ist er mit 9 Prozent bei Anhängern der Grünen. Die rechtsextreme Verurteilung des Antisemitismus als „Antisemitismus der Anderen“ dient dabei sowohl der Verschleierung des eigenen Antisemitismus unter dem Tarnmantel einer vordergründig israelfreundlichen Haltung als auch der Instrumentalisierung für ihre muslim- und migrationsfeindliche Agenda.
Das Muster der „Vergangenheitsbewältigung“ durch Bagatellisierung der Shoah als lediglich eines kleinen Abschnitts deutscher Geschichte und die Verurteilung des Antisemitismus in muslimischen, migrantischen und linken antirassistischen Kontexten bieten ein Narrativ mit Anknüpfungspunkten in die Mitte der Gesellschaft. Ungeachtet dessen gilt es, den ausgeprägten israelbezogenen Antisemitismus in muslimischen Submilieus gerade der jüngeren Generation klar zu benennen und ihm präventiv zu begegnen. Die Instrumentalisierung durch rechte und rechtsextreme Akteure und der Kampf gegen Muslimfeindlichkeit dürfen keine Gründe sein, das Problem nicht anzuerkennen.
Gleiches gilt für Antisemitismus von links im Zusammenhang mit Antirassismus und Postkolonialismus. Sie sind nicht per se antisemitisch und nicht jede Kritik an der israelischen Besatzungspolitik verneint das Recht jüdischer Staatlichkeit. Problematisch aber ist ein Absolutheitsanspruch antirassistischen und postkolonialistischen Denkens, das dichotomisch Israel als rassistischen Kolonialstaat versteht, ohne die historische und realpolitische Qualität des Zionismus als Befreiungsnationalismus einer diskriminierten Minderheit zu sehen. In dieser Gemengelage ist es wenig überraschend, dass der öffentliche Diskurs über Antisemitismus selbst politisch polarisiert ist und den Herausforderungen angemessener Antisemitismusprävention nicht gerecht wird.
Die Bindung zwischen Deutschland und Israel ist fragiler geworden. Die Herausforderungen sind vielfältig: Das Verhältnis zwischen historischer Verantwortung und Menschenrechtsorientierung steht durch Israels Umgang mit den Palästinensern und den Krieg in Gaza unter Spannung. Die geopolitische Lage im Nahen Osten verlangt nach neuen Strategien, auch seitens Deutschlands und Europas. Gleichzeitig mehren sich in beiden Gesellschaften illiberale und antidemokratische Tendenzen, die den normativen Kitt gemeinsamer Werte bedrohen.
Empfehlungen
Normative Klarheit schaffen: Die deutsche Politik sollte ihr Verhältnis zu Israel sowohl aus der historischen spezifischen Verantwortung gegenüber dem jüdischen Staat als auch aus einem menschenrechtlichen Universalismus begründen – und mögliche Spannungen benennen, nicht übertünchen.
Dialog mit pluraler israelischer Gesellschaft intensivieren: Politik sollte stärker auch mit der israelischen Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Minderheiten (z.B. arabische Israelis, progressive Bewegungen) in Austausch treten.
Europäische Außenpolitik koordinieren: Deutschland sollte sich in der EU für eine kohärente Israel- und Nahost-Politik einsetzen, die auf Stabilisierung und Völkerrecht beruht.
Zivilgesellschaft stärken: Austauschprogramme, Städtepartnerschaften, Bildungsprojekte und NGOs müssen finanziell und politisch stärker unterstützt werden. Besonders die Begegnung junger Menschen ist zentral.
Antisemitismus ganzheitlich bekämpfen: Der Kampf gegen Antisemitismus muss alle Ausprägungen ernst nehmen. Es braucht mehr Forschung, Bildung und politische Entschlossenheit.
Israel-Kritik zulassen, Antisemitismus erkennen: Kritik an der israelischen Regierung muss möglich bleiben, darf aber antisemitische Stereotype nicht bedienen. Medien, Bildungsinstitutionen und Parlamente sollten Räume für differenzierte Debatten schaffen und demokratiefördernde Diskurse stärken.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2025, S. 95-99
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