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01. Dez. 2008

Sterben für Tutsiland

Brennpunkt

Im Kongo droht der zweite Weltkrieg Afrikas. Nur eine internationale Elitetruppe könnte das Morden beenden. Doch wer will Blut dafür vergießen?

Vor zehn Jahren tobte im Kongo ein Krieg, den die damalige US-Außenministerin Albright den „ersten Weltkrieg Afrikas“ nannte. Truppen aus fünf benachbarten Ländern kämpften entweder auf Seiten der Invasoren aus Ruanda oder auf Seiten der Regierung in Kinshasa. Die Gefechte forderten drei bis vier Millionen Tote.

Seitdem wurden Friedensverträge unterzeichnet, ein Referendum abgehalten und im August 2006 Präsident Joseph Kabila bei demokratisch legitimierten, von UN und EU organisierten und bezahlten Wahlen im Amt bestätigt. Der Kongo erhält mehr als eine Milliarde Dollar westliche Entwicklungshilfe. Mit über 20 000 Mann, soeben aufgestockt, läuft im größten Flächenstaat Schwarzafrikas seit Jahren die weltweit umfassendste Blauhelm-Mission.

Die aktuelle Bilanz all dieser Bemühungen und Zahlungen muss fassungslos machen: Es droht der zweite Weltkrieg Afrikas. Die einfachste Antwort auf die Frage, wie es so weit kommen konnte: Heute wie damals liegt dem Konflikt das tiefe Misstrauen der Tutsi (Minderheitsstamm in Ruanda und Kongo) gegenüber den Hutu zugrunde; es geht zudem um Lebensraum und letztlich um Rohstoffe.

Ein Rückblick erhellt die derzeitige Lage. Als am 6. April 1994 die Präsidenten Ruandas und Burundis, beide Hutu, beim Anflug auf Ruandas Hauptstadt Kigali von einer Bodenrakete ermordet werden, beginnt eine Stunde später der schnellste Genozid der Menschheitsgeschichte. Binnen 100 Tagen töten fanatische Hutu-Soldaten und Milizionäre, unter aktiver Mithilfe der Hutu-Bevölkerung, 800000 Tutsi sowie moderate Hutu. „Es war, als seien die Nazis im Zentrum Afrikas auferstanden“, schreibt der Afrika-Autor Bartholomäus Grill.

Erst als die Tutsi-Rebellen von Paul Kagame (Front Patriotique Rwandais) aus Nordosten einmarschieren, fliehen 30000 Hutu-Soldaten und die Interahamwe-Miliz über die Grenze in den Ostkongo – mit ihren Waffen, gefolgt von einer Million Hutu.

Nach wiederholten Übergriffen marschiert Ruanda im November 1996 im Kongo ein. Kagame, jetzt Präsident, vertreibt nicht nur die Milizen, seine Armee marschiert quer durch den Dschungel in das 1600 Kilometer entfernte Kinshasa, vertreibt den krebskranken Diktator Mobutu und installiert Laurent Kabila als Galionsfigur.Der Krieg scheint beendet. Denn mit Kabila hatte Kagame einen „Vertrag“ geschlossen, wie später enthüllt wird: Kabila habe versprochen, die Kivu-Provinz im Osten an die Tutsi beiderseits der Grenze abzutreten. Geografisch und demografisch macht das Sinn: Ruanda, ein Land kleiner als Brandenburg, ist mit 359 Menschen pro Quadratkilometer dichter besiedelt als Indien; im Kongo, dem zwölftgrößten Flächenstaat der Erde, leben nur 26 Menschen pro Quadratkilometer.

Als Kabila sein Wort bricht und die Tutsi aus der Hauptstadt vertreibt, marschiert Ruanda im August 1998 erneut ein. Es kommt zum ersten Weltkrieg Afrikas, als Kabila Truppen aus Angola, Simbabwe und Namibia zu Hilfe ruft. Kabila wird im Januar 2001 von seinen Generälen umgebracht, als er, im Stile eines Hitlers im Endstadium, seinen Offizieren Feigheit vorwirft und sie erschießen lässt. Als Nachfolger wird kurzerhand sein unfähiger Sohn eingesetzt, damals 29 Jahre alt.

Aus Sicht Ruandas hat sich seit zehn Jahren nichts geändert. Der wehrhafte Kleinstaat sieht sich als das Israel Zentralafrikas: Die Duldung der restlichen „genocidaires“ jenseits der Grenze zum Kongo sei unerträglich, heißt es in Kigali. Folgerichtig rüstet die Regierung von Paul Kagame den abtrünnigen kongolesischen General Laurent Nkunda aus, um seine Rebellenarmee kampfbereit zu halten: Nkunda ist ein Tutsi, der neuerdings davon träumt, den gesamten Kongo einzunehmen. Dass hunderttausende Menschen flüchten müssen und zehntausende sterben, ficht weder Joseph Kabila in Kinshasa noch Paul Kagame in Kigali noch Laurent Nkunda in der Kivu-Provinz an.

Wer den Kongo-Konflikt dauerhaft lösen will, muss eine hochbrisante Lösung ins Auge fassen. Teil eins: die Entsendung einer Elitetruppe von etwa 3000 Mann mit dem Auftrag, die gesamte Kivu-Provinz binnen sechs Monaten zu befrieden und zu entwaffnen. Die Völkermörder würden ausgeliefert und vor Gericht gestellt, sei es in Ruanda oder vor dem Strafgerichtshof für Ruanda in Arusha. Das ist machbar, wie die Briten im Mai 2000 mit nur 800 SAS-Elitesoldaten in Sierra Leone bewiesen haben. Allerdings forderte dies Blutzoll, was sofort die Frage aufwirft: Sterben für den Kongo? Wirklich?

Und Teil zwei: Schaffung eines neues Staates, Arbeitsname „Tutsiland“. Der Kongo würde Land abtreten, um endlich Frieden zu erhalten. Wütende Proteste seitens der Kongolesen im Kivu wären nur von vorübergehender Dauer. Sicherheit – sowohl was körperliche Unversehrtheit als auch Nahrung angeht – zählt auf lange Sicht mehr als Patriotismus. Zumal der neue Staat mit seinen Rohstoffen wuchern könnte. Die Kivu-Provinz ist die weltweit wichtigste Abbaustätte für das in der Mikroelektronik verwendete Mineral Coltan – und zudem reich an Diamanten, Gold, Kupfer und Kobalt.

THOMAS KNEMEYER lebt seit 1984 in Südafrika und ist Korrespondent der WELT.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2008, S. 4 - 5

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