Städtebauliche Willkür - eine Reportage aus Usbekistan
Eine Geschichte aus Samarkand, Usbekistan – stellvertretend für so viele widerrechtliche Enteignungen, für städtebauliche Willkür und Korruption.
Und plötzlich war das Haus weg. Das kam so: Als der 36 Jahre alte Anästhesist Emil, seine Frau und ihr kleiner Sohn eines Tages vom Einkaufen zurückkehrten, sahen sie einen Bagger und einen Trupp Arbeiter, die dabei waren, ihr Haus einzureißen. Ein rabiater Immobilienentwickler, der in Samarkand unter dem Spitznamen „Zorro“ bekannt ist, war als Chef auch dabei.
Emils Frau lief auf die Arbeiter zu, um sie aufzuhalten und wurde von Zorro grob herumgestoßen. Als Emil dazwischenfuhr, bekam er einen Fausthieb ins Gesicht. Die Eltern hatten den Leuten, die ihr Haus abrissen, nichts entgegenzusetzen, zumal auch die Polizei keine Hilfe sein würde. Zorro, sagte Emil, arbeitete mit dem Bürgermeister im Bezirk zusammen.
Der jungen Familie blieb keine andere Wahl, als die Abbruchstelle zu verlassen. Möbel, Bücher, Fotos, Hausrat – alles befand sich noch im Haus und wurde auch zerstört. „Das war schwer, als wir gehen mussten“, sagte Emil. Da war die Demütigung, dass er seine Familie nicht beschützen konnte. Da war das praktische Problem, dass sie nun nichts mehr besaßen außer einem Lada, den Einkäufen, den Kleidern am Leib und einem Portemonnaie, das den Zugang zu einem allerdings nur spärlich gefüllten Bankkonto enthielt. Sonst nichts. Von einem Moment auf den anderen war alles auf Null gestellt.
Wie im Peking der 2000er Jahre
Aber zunächst einen Schritt zurück. Ich war am Vortag in Samarkand eingetroffen. Aus der Gruppe junger Männer vor dem Bahnhof löste sich ein blonder Riese und drückte mir eine Zigarette in die Hand. Er stellte mir seinen Freund vor, der ein Auto besaß. Auf der Fahrt vom Bahnhof in die Innenstadt von Samarkand wummerte usbekischer und kasachischer Hiphop aus den Lautsprechern. Der Fahrer fluchte mal auf Russisch, mal auf Usbekisch über den zähen Verkehr. Durch die offenen Fenster sickerte staubige Dieselluft ins Auto. Samarkand sah ernüchternd aus: Stau, McMansions, ein Stadtteil ohne Planung, in dem sich, so der erste Eindruck, wenig vorwärts und fast alles seitwärts bewegt.
Im Stau dachte ich an die Zugfahrt aus Taschkent. Den neuen, schnellen Zug, der die gut 300 Kilometer in unter drei Stunden zurücklegt, hatte ich bewusst verschmäht und stattdessen die langsame Verbindung genommen, in einer Eisenbahn sowjetischen Typs, die aus den 1950ern stammen musste. Vier Liegen pro Abteil, zum Flur hin offen. Auf dem Platz mir gegenüber eine usbekische Großmutter in einer Art Kaftan. Sie betete zwei bis drei Mal pro Stunde und kümmerte sich ansonsten um ihren Enkel. Vorm Fenster zog eine biblische Landschaft vorbei: Steppe, Wüstenrand, ein fernes Gebirge, das in der Hitze flimmerte, hier und da ein Hain, ein Feld um ein Gewässer, ein Esel, der reglos in der kargen Landschaft stand.
Und nun, vor dem offenen Autofenster im Stau in Samarkand: Möbelhäuser, Autowerkstätten, postsowjetische Bauten mit angeklebtem Stuck. Dies erinnerte von fern an das Peking der 2000er Jahre. Der Taxifahrer hatte inzwischen herausgefunden, aus welchem Land ich komme. „I like German language“, sagte er. „I like Hitler.“
Das kannte ich aus Peking. Ladenbesitzer und Taxifahrer sagten dort manchmal so etwas, weil sie dachten, einem Deutschen damit ein Kompliment zu machen. Auch Emils Problem kam mir bekannt vor. Vor einigen Jahren hatte ich aus China über ähnliche Verhältnisse berichtet, von Zwangsumsiedlungen einzelner Stadtteile zum Beispiel in Peking bis hin zu ganzen Großstädten, die so radikal umgepflügt wurden, dass man heute in ihnen kaum ein Bauwerk findet, das älter als 20 Jahre ist. Des Weiteren gab es Maßnahmen, durch die ganze Landstriche von der Ausdehnung Schottlands zugunsten staatlicher Urbanisierungspolitik leergefegt wurden. Nun fragte ich mich, ob so etwas auch in Usbekistan geschah, womöglich unter chinesischem Einfluss.
Chinesische Großmannssucht und Planungsmacht waren in Usbekistan nicht anzutreffen. Dennoch gab es, im Maßstab des kleineren Landes und ohne den Überbau einer politischen Religion, Konformitäten mit der chinesischen Situation, die eher durch Chaos als durch Zentralplanung erzielt wurden. Städte wie Samarkand oder Taschkent sind in einem Ausmaß umgeformt worden, das von einzelnen Häusern und Wohnblocks bis hin zu Großprojekten reichte. Offenbar erstrecken sich die Konflikte um Land- und Immobilienbesitz sogar aufs ländliche Usbekistan.
Ein ganz besonderer Flickenteppich
Usbekistan besteht in seinen heutigen Grenzen seit 1924, als es als Sowjetrepublik gebildet wurde. Dies geschah unter der Federführung Josef Stalins, der ab 1917 Volkskommissar für Nationalitätenfragen in der jungen Sowjetunion war. Er unterteilte die pantürkische Bewegung in „Russisch Turkestan“, in eine ganze Reihe neuer Nationen und verordnete diesen ihren jeweils eigenen Nationalismus oder förderte bereits bestehende Ansätze. Die Idee war: Wir, die Bolschewiken, haben euch aus dem Zarenreich heraus- und in die Sowjetunion hineinbefreit. Dies bedeutete zum Beispiel, dass Usbekistan aus einem Flickenteppich von älteren, zum Teil miteinander verfeindeten Einheiten und ihren Fragmenten gebildet wurde.
Usbekistan ist also ein ungewöhnliches Gebilde, und es schälte sich nur widerwillig aus der Sowjetunion heraus. Noch im August 1991 unterstützte Islom Karimow als Chef der Kommunistischen Partei den Putsch gegen Michail Gorbatschow. Erst als dieser gescheitert war, wandelte sich Karimow binnen zwei Wochen zum usbekischen Patrioten und zum Präsidenten der Unabhängigkeit.
Das war ein sonderbarer Start für die neue Nation, und es legte den Grundstein für das ganze Spektrum postsowjetischer Querelen: alte KP-Funktionäre und ihre Familien als neue Oligarchen, eine „gelenkte Demokratie“ und ein etwas verrücktes Regime mit Karimow als autoritärem Führer des Vaterlands.
Seit Karimows Tod 2016 hat sich Usbekistan unter seinem Nachfolger Shavkat Mirziyoyev ein gutes Stück aus der postsowjetischen Malaise herausgearbeitet. Der politische Druck auf Leute, die sich in der Öffentlichkeit äußern, hat nachgelassen; und so kann auch jemand wie Emil vor Gerichten, auf Facebook und in Gesprächen öffentlich Klage führen. Doch diese Redefreiheit ändert nichts daran, dass im Zweifelsfall seine anderen Rechte nicht gelten.
Tor in der Mauer
Bei der Fahrt durch Samarkand sah ich ein aus Beton gegossenes Relief eines mittelalterlichen islamischen Gelehrten auf der Wand eines sowjetischen Wohnblocks und kurz dahinter das Gur-i-Amir, das „Grab des Königs“, das Anfang des 15. Jahrhunderts errichtet wurde. Dies ist das Mausoleum der Familie Timurs, des transoxanischen Eroberers, dessen Reich seine Hauptstadt in Samarkand hatte.
Der erste Teil der Fahrt hatte durch den sowjetischen und postsowjetischen Teil der Stadt geführt. Daneben gab es einen russischen Teil, der aus der Zeit des Zarenreichs und seiner Kolonien im damals sogenannten „Russisch Turkestan“ stammte. Und nun hatten wir also den islamischen Teil der Stadt erreicht – aber wo war dieser islamische Teil? Das Mausoleum stand ganz isoliert da: Umgeben von einer Art Park, einem von nichts gesäumten Boulevard und einer verwaisten Haltestelle für Touristenbusse sah das alte Bauwerk fast unwirklich aus.
Später erfuhr ich, dass die Stadtregierung Samarkands diesen Teil der islamischen Altstadt ab 2014 hatte abreißen lassen. Man fand das alte Gassenviertel peinlich. Es sollte die freie Sicht nicht stören, wenn man beispielsweise ausländische Würdenträger in Samarkand empfing. Aus demselben Grund hatte man den an die leere Fläche anschließenden Teil der alten Stadt hinter einer Art Sichtschutzmauer verborgen.
Das Taxi fuhr nun durch ein Loch in dieser Mauer in eine schmale Gasse und durch diese vor ein Tor, das ohne weiteren Übergang in einen Innenhof führte, in dem sich eine Art Oasengarten befand. Hier begrüßte mich die Hausherrin auf Deutsch. Sie war früher, in der Sowjetunion, Dolmetscherin gewesen, plauderte nun über die Weintrauben, Granatäpfel und Maulbeeren in ihrem Garten und klagte, dass der letzte Winter so kalt gewesen war, dass einige Obstbäume Schaden genommen hatten. Auch spottete sie über die Mauer: „Wir nennen sie die Berliner Mauer.“
Als die Bauarbeiten daran begonnen hatten, führte sie gemeinsam mit ihrer Schwester und einigen Nachbarinnen Klage dagegen, auch direkt beim Leiter der Baustelle. „Das müssen Sie sich mal vorstellen“, sagte sie. „Da sagt der zu uns: Aber warum klagen Sie denn so, das ist doch eine sehr schöne Mauer.“ Die meisten Gassen in diesem Teil des alten Viertels sind seitdem Sackgassen, die an der Mauer enden. Die Häuser an den Ecken sind spitzwinklig eingekeilt. Öffnet man das Fenster, blickt man auf die Mauer anstatt wie früher auf das Mausoleum Timurs.
Am Anfang, erzählte die alte Dame weiter, hatte es noch nicht einmal ein Tor geben sollen. Auch darüber debattierte sie mit dem Bauleiter. „Da fängt der an zu seufzen und sagt: ‚Ihr Frauen! Euch kann man auch gar nichts recht machen.‘“ Immerhin, nun gibt es ein Tor in der Berliner Mauer.
Jahrelanger Nervenkrieg
Etwa 100 Meter hinter diesem Tor, in dem Haus im Obstgarten der alten Dame, wohnt auch Diyora, die Tochter der Familie. Sie hat früher als Rechtsanwältin gearbeitet und engagiert sich nun in Stadt und Nachbarschaft, um das, wie sie es sieht, durch Banausentum und Korruption im Umfeld der Bauwirtschaft motivierte Zerstörungswerk in Samarkand zumindest zu verlangsamen, und um Leuten wie Emil zu helfen.
Sie stellte mir den Kontakt zu Emil und den Seinen her, die ich dann im Obstgarten hinter der Mauer kennenlernte. Wir saßen um einen Holztisch in einer Art Laube, als Emil mir in stockendem Englisch seine Geschichte erzählte.
Für den Fall, dass ich daran zweifeln sollte, hatte er einen ganzen Stoß Dokumente mitgebracht. Gerichtsbescheide, Bebauungspläne, Unterlagen vom Katasteramt. Sein Haus war erst vor wenigen Monaten abgerissen worden, aber dieser Katastrophe war ein jahrelanger Nervenkrieg vor zahlreichen Gerichten und Berufungsgerichten vorausgegangen. Die Verfahren hatten sich immer mehr zu einer schier endlosen Aneinanderreihung kafkaesker Absurditäten entwickelt, die nur einen Schluss zuließ: dass die Gerichte entschlossen waren, dem Bauentwickler und dem Bezirksbürgermeister recht zu geben.
Gründe, legale Besitztitel und dergleichen spielten keine Rolle. Der gegenwärtig letzte Schnörkel bestand darin, dass das neuerliche Berufungsverfahren – inzwischen ging es um Entschädigung – nun nicht in dem eigentlich zuständigen Gericht in Samarkand stattfinden sollte, sondern in einem Provinznest mehrere Autostunden von der Stadt entfernt. Die dortige Richterin saß, wie Emil aus Erfahrung wusste, mit Zorro und seinen Leuten in einem Boot.
Dass Fälle wie der von Emil in Usbekistan häufiger vorkommen, ist ein relativ neues Phänomen. Wie neu, das zeigt sich daran, dass Leute wie Emil nicht damit rechnen. Sie ziehen zuversichtlich vor Gericht, mit ihren Besitztiteln und mit der Gewissheit, nicht mehr zu fordern als ihr gutes Recht – und fallen jedes Mal aus allen Wolken, wenn sie, zunächst langsam und ungläubig, zur Kenntnis nehmen müssen, dass man sie mit Absurditäten abspeist.
Das geschieht nicht nur in Samarkand, sondern auch in den anderen Städten Usbekistans. Sogar auf dem Land kommt es vor. In Taschkent, der Hauptstadt, geht das so weit, dass es mehr oder weniger normal ist, damit zu rechnen, dass man Haus oder Wohnung nicht wird behalten können.
„Das haben wir alle im Hinterkopf“, sagte Dona Kulmatova, Kunsthistorikerin in Taschkent, die sich mit dem architektonischen Erbe der Stadt befasst. „Das ist ganz normal.“ Sie erzählte das auf der Terrasse eines Cafés in der Innenstadt von Taschkent. „Sehen Sie die Baustelle dahinten? Die Bewohner in dieser Straße und in der nächsten und der übernächsten werden jetzt alle beunruhigt sein und sich fragen, ob ihr Haus als nächstes dran ist.“ Solche Pläne, sagte Dona, seien auch bei keinem Amt einzusehen. Die Baustelle komme einfach, und von da an könne man absolut nichts dagegen tun.
Tatsächlich hörte ich solche Geschichten immer wieder, außer von Emil auch von Juri, einem pensionierten Ingenieur in Taschkent, und von Olga, einer Kinderärztin, ebenfalls pensioniert. Sie waren empört und verzweifelt und froh, dass ein Journalist sich dafür interessierte, weil sie hofften, dass dies vielleicht helfen würde.
Der Punkt, an dem die Duldung endet
Die Leute sprechen offen darüber. Sie rechnen damit, dass man sie beobachtet, wenn ein Ausländer dabei ist, aber sind trotzdem bereit, ihren vollen Namen zu nennen und sich fotografieren zu lassen, nicht zuletzt, weil sie sich von ausländischer Berichterstattung Hilfe erhoffen. Das wunderte mich, denn bereits bei der Anbahnung der Reise war ich bei jedem Schritt davor gewarnt worden, dass die Polizei in Usbekistan mir und, was schwerer wiegt, meinen Interviewpartnern nachstellen würde.
Das hörte ich von NGO-Mitarbeitern in Genf, Budapest und Tiflis, von Bekannten in Taschkent und zuletzt von meinem Hotelwirt in der Stadt. Ich hatte ihm allerlei Fragen über seine Nachbarschaft gestellt und erwähnt, dass ich eine Geschichte recherchiere. Seine sonst unerschütterliche Jovialität endete im selben Moment. „Sie können nicht in Taschkent rumlaufen und den Leuten erzählen, dass Sie Journalist sind. Sonst taucht die Polizei hier auf und stellt mir alle möglichen unangenehmen Fragen.“
Die Lage ist uneindeutig. „Mit Zensur haben wir eigentlich keine Probleme“, erzählte Khoorshid Alimardanov, einer meiner Gewährsleute in Taschkent. Khoorshid ist Journalist und betreibt eine kleine, unabhängige Medienfirma. Das Unternehmen veröffentlicht Videos und Podcasts und betreibt ein Online-Nachrichtenportal, überwiegend in usbekischer Sprache, und nimmt kein Blatt vor den Mund. „Das Problem ist eher, dass Veröffentlichungen wie die unseren auf taube Ohren stoßen.“ Eine bedeutende Ausnahme gebe es aber. „Sobald die Berichterstattung den Ruf Usbekistans im Ausland betrifft, ist alles anders“, sagte Khoorshid. Das ist der Punkt, an dem die Duldung endet.
Khoorshid arbeitet seit Längerem an einem Dokumentarfilm über widerrechtliche Enteignungen in Usbekistan. Als ich mit ihm sprach, war der Film fast fertig. Auf seinem Laptop blätterten wir sozusagen durch verschiedene Szenen. Der Film musste nur noch etwas gekürzt werden, auch waren die englischen Untertitel noch nicht ganz fertig.
„Ich finde es immer unerträglicher, an diesem Film zu arbeiten“, sagte Khoorshid. „Die Geschichten der Leute, die ihre Wohnung, ihr Haus, ihr Zuhause verlieren, das ist schwer auszuhalten.“ Khoorshid hat zahlreiche Interviews mit Betroffenen geführt, darauf beruht sein Dokumentarfilm. „Kennst du den Ausdruck ‚sekundäres Trauma‘?“, fragte er. „Das ist wirklich so. Ich muss da irgendwie eine Grenze ziehen. Aber der Film muss auch fertig werden.“
Die Projekte, von denen Khoorshids Film handelt, sind meistens klein bis mittelgroß. Sie betreffen einige Häuser oder höchstens einen Block. Doch es gibt bedeutende Ausnahmen: Der Abriss des islamischen Viertels um das Mausoleum Timurs in Samarkand ist so eine Ausnahme.
Großprojekt Taschkent City
Das bedeutendste Großprojekt ist aber in Taschkent, wo man einen erheblichen Teil des Restbestands der islamischen Stadt gewissermaßen abholzte und ihn durch „Taschkent City“ ersetzte. Es handelt sich um einen Komplex aus Malls, internationalen Hotels, Luxusgeschäften und sehr teuren Wohnanlagen in einem Pseudo-Jahrhundertwende-Stil, die weniger als Wohnung dienen denn als Möglichkeit, um Geld zu parken. Das Ganze wirkt wie ein großer Flughafen und ist so weitläufig, dass es zu Fuß kaum zu bewältigen ist – es sei denn, man hat sehr viel Zeit und erträgt die pralle zentralasiatische Sonne, da man dort keinen schützenden Schatten mehr finden kann.
Das Projekt Taschkent City kam, wie üblich, überraschend. Dona arbeitete damals mit einer Gruppe von Kunsthistorikern, um das alte Viertel für eine akademische Veröffentlichung zu dokumentieren. Als sie und ihre Kollegen eines Morgens wieder hingingen, fanden sie einen Bauzaun vor und bemerkten zu ihrem Schrecken, dass das gesamte Viertel zum Abriss bestimmt war. Sie versuchten zunächst, dagegen vorzugehen, mussten aber bald einsehen, dass dies hoffnungslos war. „Wir haben uns dann als Bewohner ausgegeben, um auf die Baustelle zu kommen“, sagte sie, „und um Fotos und Interviews zu machen, solange es noch ging.“
Von Amts wegen hat man das Projekt den Einwohnern Taschkents als eine wirtschaftliche Notwendigkeit dargestellt und als eine Modernisierung, mit der Usbekistan sich international einen Namen machen würde. Zweck der Sache sei es, ausländische Investoren ins Land zu bringen. Das leuchtete auch gut informierten Leuten wie Dona, der Kunsthistorikerin, mehr oder weniger ein. Usbekistan ist tatsächlich auf Investitionen angewiesen, vielleicht musste man es dann eben akzeptieren.
Zwei der ausländischen Firmen, deren Namen man benutzte, um das Projekt in Taschkent als seriös darzustellen, waren aus Deutschland und Großbritannien. Bei näherem Hinsehen zeigte sich aber, dass der angeblich deutsche Investor Hyper Partners in Wirklichkeit eine Briefkastenfirma in der hessischen Kleinstadt Dietzenbach war, die sich nominell zu 100 Prozent im Besitz eines damals 18-jährigen Jünglings aus Usbekistan befand. Die Firma hatte gerade einmal 25 000 Euro auf dem Geschäftskonto (den Mindestbetrag für die Registrierung eines Unternehmens dieser Form) und trat dennoch als einer der Hauptinvestoren in dem 1,3 Milliarden Dollar-Projekt Taschkent City auf.
Das International Organized Crime and Corruption Reporting Project berichtete 2023 in einer Serie von Artikeln, die Firma sei durch ineinander verschachtelte Gesellschaften mit Khabibula Abdukadyr und seiner Familie verbunden, einem usbekischen Tycoon. Von Abdukadyr, so das Reporting Project weiter, heiße es in Usbekistan, dass er mit Geldwäsche und Schmuggel zwischen den postsowjetischen Staaten Zentralasiens viel Geld verdient habe. Die Familie, so der Bericht, unterhalte außerdem enge Beziehungen zum derzeitigen usbekischen Präsidenten Mirziyoyev.
Es könnte ein riskantes Unterfangen sein, diese Geschichte vor Ort weiter zu recherchieren. Dabei unterscheidet sie sich im Grunde wenig von der Geschichte Emils in Samarkand, nur hat sie einen anderen Maßstab: windige Investoren, die sich mit Hilfe ihrer politischen Verbindungen über alles Mögliche hinwegsetzen können.
Emil: „Wir bleiben hier“
Taschkent City steht nun also, man wird sich daran gewöhnen müssen. Die Geschichte ist aber nicht beendet, jedenfalls nicht für Emil und seine Familie, und wer weiß, wie viele Menschen durch Taschkent City in eine ähnliche Lage versetzt wurden. Nachdem Emils Familie aus ihrem Zuhause verjagt worden war, kam sie zunächst bei Freunden unter. Inzwischen hat sie eine neue Notunterkunft gefunden: Sie liegt in einem Gassen- und Hüttenviertel am Rande des russischen Stadtteils Samarkands. Ganz am Ende einer schmalen Sackgasse gelangt man an ein Häuschen, in dem ein separater Eingang ins Tiefparterre führt – die neue Bleibe der Familie.
Gleich hinter der Eingangstür liegt ein Flur mit Kochecke, so klein, dass man sich kaum in ihm umdrehen kann, ohne irgendwo mit dem Ellenbogen anzustoßen. Dahinter liegt das einzige Zimmer. Es hat kein Fenster, eine Klimaanlage, die nicht funktioniert, ein großes Bett und davor eine kleine Matratze. Das ist das gesamte Mobiliar. Neben dem Bett steht ein hölzerner Modellbauernhof für den kleinen Jungen. Die Wäsche trocknet auf einer Leine, die quer durch das Zimmer gespannt ist. An den Wänden stehen Taschen und Tüten, in denen die Kleidung verwahrt ist.
Emil hat nicht genug Geld für eine bessere Wohnung, weil er keine Arbeit findet. Das wunderte mich. Er ist doch Arzt, ist da denn nicht etwas zu machen? Er findet keine Anstellung, sagt er, weil er kein Geld hat, um die Personalabteilung im Krankenhaus zu bestechen. Dies wirkt so verheerend, dass ich ihn frage, ob er, als russischstämmiger Usbeke, jemals darüber nachgedacht habe, mit seiner Familie nach Russland zu ziehen. Die Frage verblüfft ihn. „Natürlich nicht“, antwortet er entschieden. „Wir sind doch in Usbekistan geboren. Wir bleiben hier.“
Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Von Emil, der sein Zuhause verloren hat" erschienen.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2025, S. 100-105
Teilen
Artikel können Sie noch kostenlos lesen.
Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.