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01. Juli 2011

Springtime for Egypt

... oder: Lasst tausend Blumen der Debatte blühen

Sie finden mitten auf dem Bürgersteig statt, auf dem Deck eines Nilboots, in den brandneuen Räumen einer brandneuen Partei oder zwischen Islamisten und säkularen Intellektuellen: Meetings. Ganz Ägypten ist damit beschäftigt, über seine Zukunft zu debattieren. So frei, so überraschend und zuweilen so surreal, wie es nie zuvor möglich schien.

Kurz bevor sich der Begriff „Arabischer Frühling“ im Wettstreit um die Bezeichnung für die Vorgänge in der arabischen Welt durchsetzte, verfolgte ich eine Fernsehdiskussion über Ägypten auf Al Dschasira. „Revolution“, meinte einer der Teilnehmer, träfe die Sache in Ägypten nicht. Es gäbe ja noch gar keine tief greifenden Veränderungen. Dem wurde von einem anderen Diskutanten heftig widersprochen. Kurz wurde auch der Begriff „Erwachen“ ins Spiel gebracht – und sehr schnell verworfen.

Es hat sich schon immer gelohnt, über Ägypten zu streiten. Aber anders als während der vergangenen 30 Jahre darf man sich jetzt nicht mehr nur über alles streiten: Man verpasst sogar etwas, wenn man sich nicht einmischt. Einige Ägypter verleihen ihrer Sache Nachdruck, indem sie andere Menschen töten. Der jüngste Anschlag auf koptische Christen ist eine schauerliche Mahnung, was die Alternative zu den Debatten wäre. Dass „gewalttätiges Chaos“ ausbrechen würde, wenn „Vater“ Hosni Mubarak, wie er sich selbst bezeichnete, seine „Kinder“ nicht mehr beaufsichtige, davor hatte der im Februar geschasste Präsident gewarnt. Nur war Mubarak nicht fähig, Chaos von Dissens, Protest oder auch nur Wahlen zu unterscheiden – und ganz zweifellos hätte er sich von den gewaltlosen, aber doch subversiven Aktivitäten bedroht gefühlt, die in Kairo so deutlich zu spüren sind.

Wann immer ich bei meinem jüngsten Besuch in Kairo versuchte, mit Leuten ins Gespräch zu kommen, erhielt ich dieselbe Antwort: Ich würde gerne mit Ihnen sprechen, aber ich bin auf dem Weg zu einem Meeting. Oder: Ich bin in einem Meeting, kann ich zurückrufen? Es handelte sich nicht um die üblichen Arbeitstreffen. Es handelte sich um Meetings von 82 Millionen Menschen, die darüber entscheiden, was aus ihrem Land wird. Die gesamte Zeit meines Aufenthalts in Kairo verbrachte ich damit, von Meeting zu Meeting zu wandern und zuzuhören.

Das neue Hauptgebäude der neuen Partei der Ägyptischen Sozialdemokratischen Partei in der Machmud-Basjuni-Straße ist so neu, dass sogar die Stühle noch immer in Plastik eingewickelt sind. Und die Partei ist so neu, dass die Leute in diesen Räumen, in denen ständig diskutiert oder kopiert wird und Banner geklebt werden, noch dabei sind herauszufinden, wofür ihre Partei denn nun steht.

„Warum, warum, warum?“, ruft ein Mann in den Büroräumen der Sozialdemokratischen Partei – und antwortet damit einem Anderen, der gerade erklärt hat, dass „wir keine Liberalen sind und uns auch nicht liberal nennen wollen“. Was denn am Liberalismus so falsch sei, will der „Warum-Frager“ wissen. Der habe doch jetzt einen Beigeschmack, entgegnet ihm der „Nicht-Liberale“, viele hielten dessen Anhänger für Ungläubige. Wobei er selbst gar nichts gegen Liberalismus einzuwenden habe. Und wie, will jemand wissen, unterscheide man sich dann von anderen Parteien, die eine freie Marktwirtschaft befürworten? Hinter einem Schreibtisch tönt die Antwort hervor: „Wir sind irgendwo zwischen Sozialismus und Liberalismus, schon für Marktwirtschaft, aber eher wie in Frankreich oder Deutschland als in Amerika.“

Sag, wie haltet ihr’s mit der Kunst?

Meetings finden derzeit schlicht überall statt. Eines davon mitten auf einem Bürgersteig, wo etwa 25 Männer auf Stühlen im Kreis saßen und sich gegenseitig Vorträge über Politik hielten. In einem anderen Stadtteil debattierten Gewerkschaftler, ob die Industrie jetzt wieder verstaatlicht werden solle. Auf einem Nil-Dampfer wiederum trafen zwei Richter, drei religiöse Männer und ein DJ zusammen, der das Meeting organisiert hatte und ein ernsthafter Aspirant für den Titel „Mr. Meeting“ ist.

Der DJ Dschihad Saif al-Islam – was so viel bedeutet wie „Heiliger Krieg, Schwert des Islam“ – ist ein charmanter, 1,80 m großer Musikproduzent und Partyboy, der unter Mubaraks Herrschaft ein unpolitisches und, wie er lachend gesteht, recht ausschweifendes Leben führte. Dschihad schlug sich vergnügt die Nächte um die Ohren – bis er seine Freunde auf dem Tahrir-Platz sterben sah. Jetzt hat er seine Tätigkeit als DJ aufgegeben. Er lebt von seinen Ersparnissen und besucht den ganzen Tag Meetings.

Das sah in den vergangenen 24 Stunden so aus: Mittagsgebet, danach ein Nachbarschaftsmeeting über die Frage, wie man mit der Kriminalität in diesem Stadtteil umgehen soll, dann ein Seminar über die Vor- und Nachteile der parlamentarischen Republik versus einer Präsidialrepublik, um 20 Uhr Meeting plus Abendessen mit Freunden, bei dem man allgemeine politische Fragestellungen debattierte; um 23 Uhr Treffen mit anderen Aktivisten, um die Agenda für ein Meeting am nächsten Tag auszuarbeiten und um zwei Uhr morgens wieder ein Stadtteilmeeting. Vier Stunden Schlaf, dann holt Ex-DJ Dschihad einen Freund ab und fährt mit ihm zu diesem Nilboot-Meeting.

Wir verließen Mr. Meeting und machten uns auf zu einem letzten Meeting, das ziemlich bemerkenswert endete. Zunächst machte es den Anschein einer ganz gemütlichen Plauderrunde: neonbeleuchteter Raum, 30 Leute sitzen um einen großen Konferenztisch, auf dem Croissants und Häppchen stehen. Nur hatten sich hier zwei völlig unterschiedliche Gruppierungen – nein, eher langjährige Feinde – versammelt, um auszuloten, ob sie auch im neuen Ägypten Feinde bleiben würden.

Auf der einen Seite: Schriftsteller, Journalisten und Redakteure – linke Ägypter, die weiterhin ein säkulares Ägypten möchten. Auf der anderen Seite: derzeitige und ehemalige Führer der Al-Dschama’a al-Islamijeh, einer islamistischen Organisation, die über Jahre ausländische Touristen und Ägypter tötete. Zu ihren Opfern zählten Polizisten, Politiker und der ägyptische Präsident. Sie gehörten zu den Verschwörern, die 1981 Anwar al-Sadat ermordeten. Die hier anwesenden Männer hatten Jahrzehnte in ägyptischen Gefängnissen verbracht. Und jetzt saßen ihnen jene gegenüber, die zu ihren bevorzugten Zielen gehört hatten.

Nageh Ibrahim, ein dünner Mann mit langem grauen Bart, ist einer der wichtigsten Führer der Al-Dschama’a al-Islamijeh. Er eröffnete das Meeting mit einer Pflichtübung: indem er ständig wiederholte, dass seine Organisation seit 14 Jahren und auch jetzt Gewalt ablehne. „Wir sagen das aus freien Stücken“, betonte Ibrahim – und das nicht ohne Grund. Viele werfen den Anhängern der Organisation vor, sie hätten der Gewalt nur abgeschworen, weil sie im Gefängnis dazu gezwungen worden seien. Nach dem Rücktritt Mubaraks und der Auflösung des staatlichen Sicherheitsapparats wäre er doch frei zu sagen, was immer er wolle und immer noch, so Ibrahim, predige er: keine Gewalt. Nachdem er sich eine Viertelstunde zu diesem Thema ausgelassen hatte, lenkte einer der säkularen Teilnehmer die Unterhaltung mit einer ganz ruhig gestellten Frage in eine andere Richtung: „Wie haltet ihr es mit der Kunst?“

Friedensgeste an die Literatur

Islamisten fordern seit Jahren eine Art kultureller Nulldiät: keine gegen- ständliche Malerei oder Bildhauerei, keine Musik, kein Tanz, die meisten Bücher verboten. Doch als das Thema Kunst aufgekommen war, beherrschte es die gesamte Debatte. Wie betrunken schienen die Säkularen von der Vorstellung, dass es zum ersten Mal ein Ägypten geben könnte, das weder Diktatur ist noch von den Islamisten in eine kulturelle Wüste verwandelt würde. Jetzt wollten sie es ganz genau wissen: Welche Form der Kunst könnten die Islamisten akzeptieren? Hat Malerei einen Platz in Ägypten? Bildhauerei? Wie sieht es mit Theater aus? Filme? Bauchtanz? Glauben sie, dass es eine islamische und eine nicht- islamische Kunst gibt? Würden sie jegliche Form der Kunst verbieten, wenn sie könnten?

Die Unterhaltung entwickelte sich langsam von unterkühlt über höflich zu unverblümt: „Wir sind nicht hier, um uns beschwichtigen zu lassen“, konstatierte der bekannte Schriftsteller Jussuf al-Kaid. „Wir möchten eure wirklichen Überzeugungen kennenlernen.“

Während der nächsten eineinhalb Stunden führten die säkularen Intellektuellen und die Islamisten eine fast surreale Debatte, wie sie eben dann entsteht, wenn Menschen mit grundlegend verschiedenen Ansichten es schaffen, sich zivil und offen auszutauschen. Man diskutierte, zitierte Gedichte, erwähnte bestimmte arabische Popstars und deren Videos und diskutierte die Entwicklungen innerhalb der islamischen Lehre über die Frage, ob man einen Menschen in einem Gemälde oder mit einer Skulptur bildlich darstellen dürfe. Was zunächst als verboten galt, dann mit Einschränkungen akzeptiert wurde und jetzt, so Karam Zuhdy, Kopf der Al-Dschama’a al-Islamijeh, ja, jetzt als erlaubt gelten darf.

Und was ist mit Fotografie? In Ordnung. Ballett? Nicht in Ordnung. „Es gibt keine islamische, und es gibt auch keine nichtislamische Literatur. Literatur ist Literatur“, befand Nageh Ibrahim. Musik sei auch in Ordnung – nun gut, manche Musik. Sie darf nicht sexy sein. Im Gefängnis hätten sie oft gesungen, ja, sogar manchmal kleine Bewegungen zur Musik gemacht, erzählten die Islamisten. „Und wir lasen Bücher.“ Einer der Männer von Al-Dschama’a al-Islamijeh gestand: „Ich mag unseren großartigen Schriftsteller Nagib Machfus sehr gerne. Seit ich seine Bücher im Gefängnis las, lese ich keine anderen mehr. Sie gaben mir viel.“ Das war eine Art Friedensgeste. Machfus bezeichnet sich nicht nur als „stolzen Säkularen“ – Ägyptens bekanntester Schriftsteller wurde von einem Islamisten niedergestochen, nachdem Al- Dschama’a al-Islamijeh ihn auf eine schwarze Liste gesetzt hatte.

Schließlich resümierte Nageh Ibrahim: „Wir haben unterschiedliche Auffassungen über Kunst. Aber Al- Dschama’a al-Islamijeh wird Kunst nicht verbrennen, zerstören oder verbieten, denn Meinungsverschiedenheiten sind normal. Wir werden Gedanken mit Gedanken bekämpfen.“

Das Versprechen, auf Gewalt gegen Menschen oder Kunstwerke zu verzichten, mag ein bisschen zu grundlegend erscheinen, um schon als hoffnungsfrohes Zeichen für die Zukunft gewertet zu werden. Aber es waren die religiösen Denker Ägyptens, die Al-Kaida und andere gewalttätige Dschihadisten stärker beeinflusst haben als alle anderen. Ein öffentlicher Verzicht auf Gewalt durch diese strenggläubigen Männer ist deshalb alles andere als trivial. Er spielt eine Rolle – als eine gute Entscheidung unter Millionen von Entscheidungen, die sich zu dem zusammenfügen, was wir den „arabischen Frühling“ nennen. Jener Begriff, der sich im Wettbewerb der Bezeichnungen durchsetzte. Wahrscheinlich auch deshalb, weil der Frühling eine Jahreszeit ist, die jedermann etwas bietet: den Optimisten Blumen, den Pessimisten Tornados, den Skeptikern Unsicherheit.

NANCY UPDIKE ist Nahost-Korrespondentin für das Programm „This American Life“ des National Public Radio.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2011, S. 108-111

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