Titelthema

28. Aug. 2023

Spielhelme und Jagdgewehre

China ist für Russland Lieferant von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck. Sie unterlaufen westliche Sanktionen, sind hochlukrativ – und ihre Menge ist riesig.

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Bild: Helme, die eigentlich für militärische Simulationsspiele gedacht sind.
Russische Kunden bestellen bei chinesischen Unternehmen in großen Mengen Helme, die eigentlich für militärische Simulationsspiele gedacht sind. Die Vermutung liegt nahe, dass diese an der Front landen.
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Die Frage nach dem Potenzial der militärischen Zusammenarbeit zwischen Russland und China gewinnt seit dem Beginn der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 und der Verabschiedung westlicher militärisch-technologischer Sanktionen immer weiter an Bedeutung. Könnte Moskau in der Lage sein, die Auswirkungen der westlichen Sanktionen durch eine verstärkte militärische Zusammenarbeit mit Peking abzumildern? Der folgende Text soll einen Überblick über die Perspektiven und Grenzen dieser militärischen Zusammenarbeit bieten, und zwar sowohl in politischer als auch in technologischer Hinsicht. Da der Schwerpunkt dabei auf dem Krieg in der Ukraine liegt, beginnt die Analyse zwar im Jahr 2014, konzentriert sich jedoch auf die Zeit seit Februar 2022.



Zusammenarbeit seit 2014

Die ersten westlichen Sanktionen trafen den militärisch-industriellen Komplex Russlands im Jahr 2014. Seitdem ist es Russland untersagt, Waffensysteme und auch bestimmte technische Komponenten aus dem Westen einzuführen. Es ist bekannt, dass Frankreich seine Hubschrauberträger der Mistral-Klasse aufgrund dieser Sanktionen nicht an Russland verkauft hat, obwohl der entsprechende Vertrag bereits im Jahr 2011 unterzeichnet wurde. Hätte die russische Flotte ein Jahr später über Mistral-Schiffe verfügt, wäre die Verteidigung der Städte Mykolajiw und Odessa für die Ukraine wohl sehr viel schwieriger geworden.

Weniger bekannt ist, dass die russische Marine mittlerweile auch darunter leidet, dass westliche Schiffsmotoren (wie die des finnischen Konzerns Wärtsilä oder die des deutschen Unternehmens MAN) nicht mehr verfügbar sind. Und auch Ersatz aus der Ukraine ist für Russland seit 2014 natürlich nicht mehr erhältlich. Eine ganze Reihe russischer Schiffbauprojekte musste wegen fehlender geeigneter Motoren umgestaltet werden, darunter die Entwicklung der Korvetten der Buyan-M- und der Karakurt-Klasse sowie der Bau von Fregatten der Admiral-Grigorowitsch-Klasse.

Als Reaktion auf die sich verschlechternden Beziehungen zum Westen und die sich abzeichnende Verknappung von wichtigen Komponenten begann Russland bereits ab 2014, die militärisch-technologische Zusammenarbeit mit China zu ­intensivieren.

Dies führte jedoch zu einem eher asymmetrischen Trend: Auch als Geste des guten Willens verkaufte Russland China im Sommer 2014 das moderne Luftabwehrraketensystem S-400, nur um etwas mehr als ein Jahr später bereits Sukhoi Su-35-Kampfjets folgen zu lassen. Moskau exportierte also die modernsten Systeme nach China, die es liefern konnte.

Peking allerdings reagierte zunächst weitaus weniger enthusiastisch auf die vertiefte Zusammenarbeit mit Russland. So genügten etwa die von China gelieferten Schiffsmotoren kaum den Anforderungen der russischen Marine. Vielmehr entpuppten sich die chinesischen Äquivalente westlicher Dieselmotoren vor allem als Derivate ziviler Motoren, die den Leistungs-, Zuverlässigkeits- und Flexibilitätsstandards für den militärischen Einsatz nicht genügten.

In anderen Fällen konnte China zudem überhaupt keine alternativen Lösungen für die nicht mehr verfügbare westliche Technologie anbieten. So konnte zum Beispiel die komplexe Produktion der Buyan- und Karakurt-Schiffe zwar fortgesetzt werden, nachdem es Russland gelungen war, seine eigenen Motoren zu entwickeln. Für die Fregatten der Admiral-

Grigorowitsch-Klasse ließ sich jedoch einfach kein geeigneter Ersatzmotor finden. In der Konsequenz musste das Projekt in Gänze aufgegeben werden.



Seit 2022 wächst der russische Bedarf

Mit Beginn der russischen Aggression in der Ukraine im Februar 2022 ist der russische Bedarf an Militärgütern und -technologien stetig gestiegen. Der erste Grund dafür sind ganz offensichtlich die Verluste auf dem Schlachtfeld. Laut Informationen der ORYX-Website haben die russischen Bodentruppen seit Kriegsbeginn mehr als 2100 Panzer, etwa 2500 Schützenpanzer und fast 1000 Artilleriesysteme verloren, und das sowohl durch Beschädigung als auch durch komplette Zerstörung oder ­Erbeutung seitens der ukrainischen Truppen. Die russische Militärindustrie ist nicht in der Lage, diese Verluste schnell genug aufzufangen und moderne Ausrüstung nachzuliefern. Daher muss Moskau in zunehmendem Maße auf reaktivierte, auf die Schnelle modernisierte und teilweise veraltete Fahrzeuge aus der Sowjetzeit zurückgreifen.

Besonders gravierend ist die Situation bei den Panzern, von denen Moskau vor Kriegsbeginn über 3400 Stück verfügte. Der Verlust von mehr als 2100 dieser Exemplare ist für Russland dementsprechend tragisch und führt dazu, dass russische Truppen auf antiquierte T-62-Panzer zurückgreifen müssen. Die Zahl 62 bedeutet, dass das ursprüngliche Modell erstmals im Jahr 1962 von der sowjetischen Armee in Betrieb genommen wurde. In der Ukraine wurden sogar bereits einige T-55-Panzer gesichtet.

Der zweite Grund, warum Moskau eine aktivere militärische Zusammenarbeit mit China braucht, ist die Einführung neuer und strengerer westlicher Sanktionen seit Februar 2022. Diese Sanktionen schneiden die russische Wirtschaft von wichtigen elektronischen Komponenten und Ausrüstungsteilen ab; darunter sind Sensoren, Gyroskope, Computerchips und andere Bausteine, die in Hunderten von russischen Waffensystemen verwendet werden.

Der freiwillige Rückzug von mehr als 1000 westlichen Unternehmen aus dem russischen Markt erschwerte die Situa­tion zusätzlich. So führte der Rückzug des Automobil-Zuliefergiganten Bosch dazu, dass die russische Militär-Lkw-­Fabrik ­KAMAZ die Produktion vieler ihrer Modelle (die auch als Fahrgestelle für Luftverteidigungssysteme und Spezialausrüstung verwendet werden) zeitweise einstellen musste. Erst als die bis dahin in den Fahrzeugen verwendeten Bosch-Einspritzdüsen durch russische und zunehmend auch chinesische Modelle ersetzt werden konnten, wurde die Produktion wieder aufgenommen.

Zwar lässt sich festhalten, dass die russische Wirtschaft die westlichen Sanktionen dank der Nutzung von Reserven, die bereits vor dem Krieg gehortet wurden, mitunter erfolgreich umgehen konnte – und mithilfe von alternativen Lieferketten über Drittländer und Briefkastenfirmen wurde auch der Zusammenbruch der russischen Rüstungsindustrie vermieden. Solche intransparenten Importkanäle sind jedoch immer sehr volatil und anfällig für weitere Sanktionen oder eine Straffung der bereits bestehenden Handelsverbote.

Langfristig muss Russland daher seine eigenen Produktionskapazitäten stärken und dort, wo dies technologisch nicht möglich ist, verstärkt auf etablierte Partnerschaften mit anderen Herstellern setzen, die Hightech-Ausrüstung produzieren können – also vor allem auch auf die Partnerschaft mit China.



Politische Beschränkungen

Folgt man einer kaltblütigen und realpolitischen Logik, dann ist der Krieg in der Ukraine für China in gewissem Maße vorteilhaft. Denn je länger der Konflikt andauert, desto mehr Aufmerksamkeit und Ressourcenaufwand erfordert er von den USA. In diesem Sinne zweigt Russlands Krieg gegen die Ukraine politische, wirtschaftliche und militärische Ressourcen ab, die Washington ansonsten an anderer Stelle gegen Peking einsetzen könnte. Nach dieser Logik ist es in Chinas bestem Interesse, dafür zu sorgen, dass Russland seine Aggression gegen die Ukraine nicht einstellt, sondern trotz der enormen Verluste, die es auf dem Schlachtfeld erlitten hat, und trotz der massiven westlichen Unterstützung, die Kiew erhält, so lange wie möglich weiterkämpft.

Allerdings gibt es auch hier Grenzen. Immerhin ist die chinesische Wirtschaft viel stärker in den Weltmarkt integriert als die russische – und während Russlands Exporte vor allem aus Energie­ressourcen und in geringerem Maße aus Waffen bestehen, ist China eine globale Wirtschaftsmacht mit immensen und sehr vielfältigen Exportgütern. Peking kann es folgerichtig nicht riskieren, in den Sanktionsfokus des Westens zu geraten, weil chinesische Waffen, Munition oder andere tödliche Güter nach Russland geliefert werden. Allein dieser Umstand hindert China maßgeblich daran, Russland zu unterstützen.



Probleme mit der Interoperabilität

Eine weitere Einschränkung besteht darin, dass der Umfang der Waffen, die China theoretisch liefern könnte und die Russland ohne umfangreiche Ausbildungs- und Infrastrukturprogramme einsetzen könnte, eher begrenzt ist. Wie bereits erwähnt, bräuchte Russland aufgrund der enormen Verluste in der Ukraine dringend moderne Panzer, Schützenpanzer, Artillerie und Artilleriemunition sowie Drohnen. Bei den Panzern haben die chinesische und die russische Panzerproduktion jedoch gänzlich unterschiedliche Wege eingeschlagen, und das, obwohl die chinesische Panzerentwicklung sowjetische Wurzeln hat.

Der neueste mit den Beständen der russischen Armee kompatible Panzertyp im Besitz der Volksbefreiungsarmee (oder besser gesagt in ihren Reservelagern) ist der veraltete sowjetische T-54A, der in China unter der Bezeichnung Typ 59 produziert wurde. Derweil ist Chinas erster im eigenen Land entwickelter Kampfpanzer, der Typ 69, zwar eng mit dem sowjetischen T-62 verwandt, fußt aber dennoch auf einer anderen Konstruktionsweise. Der neueste Panzer, den Peking theoretisch ohne große Umschulung der Besatzung nach Moskau liefern könnte, ist also etwa 70 Jahre alt.

Sollten sich Moskau und Peking wiederum auf die Lieferung eines moderneren Panzers einigen, dann würde dies Schulungsprogramme für die Besatzung, die Bereitstellung von Logistik, Ersatzteilen und die Integration mit anderen Waffensystemen erfordern. Diese Strategie wäre nicht weniger komplex als das westliche Bestreben, die Ukraine mit Leo­pard- oder Challenger-Panzern zu versorgen. Und bei den Schützenpanzern ist die Situation weitgehend ähnlich: Auch hier haben sich die Wege der sowjetischen beziehungs­weise russischen und chinesischen Fahrzeugentwicklung schon vor Jahrzehnten getrennt, was dazu führt, dass es praktisch keine Interoperabilität gibt.

Bei Artillerie und Munition gibt es wiederum viel mehr Potenzial. So hat die Volksbefreiungsarmee noch Hunderte ehemaliger sowjetischer 122- und 152-mm-Feldhaubitzen und 120-mm-Mörser im Einsatz und Tausende in Reserve. Die Munitionsvorräte für diese Systeme liegen brach. China erhielt diese Geschütze und Mörser bereits in den 1950er und 1960er Jahren aus der Sowjetunion, noch bevor sich die Beziehungen zwischen Peking und Moskau verschlechterten. Obwohl diese Systeme bereits veraltet sind, könnten sie immer noch zum Einsatz kommen.

Gebraucht würden diese Waffen allemal schon deshalb, weil die russische Armee in der Ukraine bereits eine große Zahl dieser ehemaligen sowjetischen Feldartilleriegeschütze und Mörser eingesetzt hat. Sollte China beschließen, seine eigenen Bestände zu verlagern, gäbe es dementsprechend kaum Probleme mit der Inter­operabilität. Trotzdem stellt sich auch hier die Frage, ob der politische Wille dazu vorhanden ist. Obwohl die USA Ende Februar 2023 angeblich nachrichtendienstliche Informationen über die Vorbereitung eines solchen Waffentransfers durch Peking veröffentlicht haben, sind bisher keine tatsächlichen Lieferungen dokumentiert worden.



Das Potenzial von Dual-Use

Die chinesische Führung will offensichtlich nicht riskieren, dass ihre Industrie und Wirtschaft durch die Lieferung von Waffen und Munition an Russland in das Visier westlicher Sanktionen gerät. Trotzdem hat sich China für Russland mittlerweile zu einer wichtigen Quelle für Dual-Use-Technologien entwickelt (darunter versteht man alle Produkte, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke genutzt werden können). So kann ein geländegängiger Lkw einerseits im Forstdienst eingesetzt werden, andererseits aber auch Geschütze über unbefestigte Straßen transportieren – und eine Kamera­drohne kann sowohl Hochzeitsbilder knipsen als auch Schusskoordinaten für Artilleriesysteme liefern.

Erst kürzlich deckte ein Politico-Artikel eine Reihe chinesischer Unternehmen auf, die derzeit riesige Mengen von an­geblichen Dual-Use-Produkten nach Russland liefern. So soll Russland zuletzt etwa Drohnen im Wert von mehr als 100 Millionen Dollar aus China importiert haben. Und da leichte kommerzielle Drohnen, die an der Front (von beiden Seiten) ein­gesetzt werden, jeweils nur ein paar tausend Dollar kosten, handelt es sich hier wohl um ein massives Liefervolumen. Chinesische Unternehmen lieferten zudem auch große Mengen an kugelsicheren Westen und Helmen an russische Käufer. Auf Nachfrage von Politico lehnten die involvierten Konzerne die Vermutung ab, dass ihre Produkte an der ukrainischen Front eingesetzt würden. Wenn es darum geht, Sanktionen zu umgehen, dann gehört das eklatante Leugnen eben dazu; genauso wie die Verwendung häufig wechselnder Briefkastenfirmen und Offshore-Konten.

Erschwerend kommt hinzu, dass Produkte mit doppeltem Verwendungszweck oft absichtlich falsch etikettiert werden, um ihren eigentlichen Zweck zu verschleiern. So ist in demselben Politico-Artikel die Rede von „Airsoft-Helmen für Paintball-Spiele“, die von russischen Kunden in großen Mengen bestellt wurden – und in einem anderen früheren Artikel von „Jagdgewehren“, die China inmitten des laufenden Krieges nach Russland lieferte. De jure würde keines dieser Produkte gegen Sanktionen verstoßen, da sie erklärtermaßen für zivile Sport- oder Jagdzwecke, nicht aber für militärische Zwecke verwendet werden. De facto spiegeln die offiziellen Kennzeichnungen jedoch nicht immer den tatsächlichen Verwendungszweck des jeweiligen Produkts wider.



Schlupflöcher nutzen

Alles in allem scheint es derzeit unwahrscheinlich, dass China seine Zurückhaltung aufgibt und damit beginnt, Waffen, Munition und andere militärische Ausrüstung an Russland zu liefern.

Auch wenn solche Waffenlieferungen je nach Umfang einen bedeutenden Einfluss auf die Dynamik auf dem Schlachtfeld haben könnten, ist wohl eher nicht zu erwarten, dass Peking für diesen Schritt bereit ist. Einen offenen Verstoß gegen die westlichen Sanktionen und eine potenzielle Ausweitung der Sanktionen auf China will sich die chinesische Führung nicht leisten.

Gleichzeitig ist es China jedoch offensichtlich gerade mit Blick auf Dual-

Use-Güter gelungen, die Schlupflöcher in den Sanktionen zu identifizieren und auszunutzen. Soweit es sich aus offenen Quellen rekonstruieren lässt, ist China seit Juli 2023 in diesem Bereich der mit Abstand wichtigste Handelspartner Russlands und liefert Produkte, die von kleinen Drohnen über Hightech-Elektronik bis hin zu persönlicher Schutzausrüstung reichen.

Solange die USA und die EU nicht in der Lage sind, China von diesem Kurs abzubringen, gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass Peking diese sowohl aus finanzieller als auch aus politischer Sicht äußerst lukrative Praxis aufgeben wird. Mit anderen Worten: China wird wahrscheinlich ein wichtiger Zulieferer für Russland bleiben, speziell mit Blick auf Güter, die Moskau nicht mehr aus dem Westen beziehen kann.

Aus dem Englischen von Kai Schnier 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2023, S. 38-43

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Mehr von den Autoren

András Rácz ist Senior Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und Senior Lecturer an der Corvinus Universität in Budapest. Die Hintergrundrecherche für diesen Artikel wurde durch das Bolyai-János-Forschungsstipendium der Ungarischen Akademie der Wissenschaften unterstützt.