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01. Mai 2022

Russlands Macht

Die Sowjetunion konnte sich einst auf starke Streitkräfte, Verbündete und eine Ideologie stützen. Für Moskau bleibt nach dem Krieg gegen die ­Ukraine nur noch die militärische Stärke.

Der Angriffskrieg, den der russische Präsident Wladimir Putin gegen die Ukraine begonnen hat, wirft viele Fragen auf – darunter auch die, wie bedeutend militärische Gewalt im gesamten Arsenal russischer Macht tatsächlich ist und welchen Einfluss der anhaltende Krieg darauf haben könnte. Diese Frage ist relevant, weil die derzeitige Eskalation in der Ukraine de facto Teil eines seit 2014 ­tobenden Krieges ist. Zudem handelt es sich dabei nur um einen aus einer Vielzahl russischer Kriege im postsowjetischen Raum, dem viele andere vorausgingen.



Nach der Auflösung der Sowjetunion intervenierte Russland militärisch in innerstaatlichen Konflikten in Moldau und Georgien, unterstützte Armenien gegen Aserbaidschan im Konflikt um Berg-­Karabach und säte separatistische Konflikte in den beiden erstgenannten Staaten. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre führte Russland zwei blutige Bürgerkriege gegen die eigenen tschetschenischen Separatisten. 2008 besiegte Moskau Georgien im sogenannten „Augustkrieg“. Und das waren lediglich diejenigen Kriege, die sich auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion abspielten.



Dazu kommt die Präsenz russischer Truppen auf dem Westbalkan, ursprünglich als Teil der UN-Friedenstruppen nach dem Abkommen von Dayton. Teile dieser Truppen wagten ein kühnes Manöver und besetzten den Flughafen von Pristina im Juni 1999, auf dem Höhepunkt der Kosovo-Krise. Seit 2015 kämpfen russische Truppen außerdem in Syrien, seit 2020 in Libyen, und russische paramilitärische Verbände wie die berüchtigte Wagner-Gruppe – vorgeblich eine private Militärfirma, tatsächlich aber von staatlichen Stellen mitgesteuert – waren in mehr als einem Dutzend afrikanischer Staaten aktiv.



Um aber eine Antwort auf die Eingangsfrage zu finden, ist es notwendig, die Grundlagen russischer Macht insgesamt ins Auge zu fassen. Es geht um die wichtigsten Mittel und Werkzeuge, die Moskau zur Verfügung stehen, um seine außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Ziele sowohl regional als auch global umzusetzen. Dazu gehört selbstverständlich auch militärische Macht. Um Veränderungen messen und einen Vergleich ziehen zu können, ist es nützlich, das heutige Russland mit seinem Vorgängerstaat, der Sowjetunion, zu vergleichen.



Großmachtstellung der Sowjetunion

Die Sowjetunion war ohne Zweifel nicht nur eine Groß-, sondern auch eine Weltmacht. Sie war der flächenmäßig größte Staat der Erde und brachte es auf ein Staatsgebiet von beeindruckenden 22 Millionen Quadratkilometern. Die 15 einzelnen Republiken kamen zusammen auf eine Bevölkerungszahl von fast 290 Millionen Menschen.



Das wichtigste Element der sowjetischen Großmachtstellung war das Atomwaffenarsenal des Landes, das sich gegen Ende des Kalten Krieges in jeder Hinsicht mit dem der Vereinigten Staaten messen lassen konnte. Die „mutually assured destruction“ (also „wechselseitig gesicherte Zerstörung“) zwischen den beiden Supermächten garantierte relative Stabilität in einer bipolaren Welt. Ein weiteres Element, das der Sowjetunion globalen Einfluss sicherte, war der ständige Sitz Moskaus im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Das Vetorecht in der größten und umfassendsten aller internationalen Organisationen ermöglichte es den Sowjets, so viel politischen Einfluss auszuüben wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Das Zarenreich war stets eine europäische Großmacht, erlangte aber nie den Weltmachtstatus. In ihren frühen Jahren war auch die Sowjetunion noch nicht so weit. Nach 1945 allerdings entwickelte sich das Land dann zu einem wirklich globalen Akteur.



Die nuklearen Fähigkeiten der Sowjetunion wurden von ihrer gigantischen konventionellen Militärmacht unterstützt. Die Sowjetarmee hielt fast 5,5 Millionen Menschen unter Waffen, ihnen zur Seite standen 35 Millionen potenziell mobilisierbare Reservisten. Die Armee war nicht nur zahlenmäßig beeindruckend, sie verstand es auch, ihre Macht weltweit zu projizieren. Die sowjetische Marine befuhr alle Weltmeere, und sowjetische Militärbasen waren überall auf dem Globus zu finden.



Zu dieser militärischen Komponente kam ein komplexes, vielschichtiges System politischer Allianzen. Der Warschauer Pakt bildete den innersten Kreis um Moskau, der eine militärische Beistandsgarantie einschloss. Außerdem unterstützte die Sowjetunion eine Reihe politischer Regime in Asien, Afrika und auf dem amerikanischen Kontinent, hauptsächlich um dadurch die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten auszubalancieren.

Und obwohl der Eiserne Vorhang Eu­ropa teilte, lieferte die Sowjetunion seit den 1970er Jahren riesige Mengen an Erdöl und Erdgas nach Westeuropa. Das stellte eine für beide Seiten gewinnbringende, aber auch Abhängigkeiten schaffende Beziehung zwischen Ost und West her, die trotz militärisch angespannter Situationen stets fortbestand.



Zudem besaß die ­Sowjetunion eine kohärente, weit entwickelte Ideolo­­- gie – die angewandte Form des ­Sowjet­- kommunismus. Die ab und an vorgenommenen Veränderungen an Details der Doktrin änderten nichts daran, dass die sowjetische Bevölkerung rund 70 Jahre lang unter dieser Ideologie zu leben hatte und ganze Generationen durch sie sozialisiert wurden. Die Situation in vielen Ländern des Ostblocks und anderen alliierten Staaten war ähnlich, auch wenn die Zeit der kommunistischen Herrschaft kürzer war. Die Existenz einer solchen gemeinsamen Ideologie – trotz all ihrer Fehler und Diskrepanzen – war ein wichtiger Faktor, der das sowjetische ­Allianzensystem zusammenhielt. Als eines ihrer Werkzeuge im ideologischen Konflikt mit dem Westen betrieb die Sowjetunion außerdem einen immensen Geheimdienst­apparat im Ausland, unter der Führung des KGB.



Das postsowjetische Russland

Die Auflösung der Sowjetunion hatte für Moskaus Großmachtstellung selbstverständlich erhebliche Konsequenzen. Einige Schlüsselelemente blieben allerdings erhalten. Russland erbte den ständigen Sitz der Sowjetunion im UN-Sicherheitsrat, genauso wie einen Großteil ihrer atomaren Fähigkeiten. Im März 2022 halten sich die Arsenale strategischer Atomwaffen Russlands und der USA noch immer ungefähr die Waage, bei taktischen Nuklearwaffen soll sich Russland in Europa sogar im Vorteil befinden.



Andere Faktoren allerdings gingen entweder vollständig verloren oder wurden deutlich geschwächt. Die ursprünglich so gigantische Sowjetunion wurde von 15 unabhängigen Republiken abgelöst. Heute leben in Russland nur noch rund 144 Millionen Menschen, weniger als halb so viele wie in der Sowjetunion zu ihren Hochzeiten.



Auch die konventionellen militärischen Fähigkeiten des Landes gingen zurück. Regional ist Russland noch immer die dominante Macht, was die eingangs aufgezählten Kriege belegen, die stets zugunsten Moskaus ausgingen. Russland zählt aktuell rund 900 000 aktive Soldaten, die von rund zwei Millionen Reservisten unterstützt werden können. Die globale Bedeutung einer solchen Armee allerdings hat im Vergleich zu 1991 stark abgenommen.



Und auch Russlands Fähigkeit, seine Macht international zu entfalten, ist nicht mehr so, wie sie einst war. Russland verfügt über keinen einzigen einsatztauglichen Flugzeugträger, und das einmal weitverzweigte globale Netz an Militärbasen gehört ebenfalls der Vergangenheit an. Außerhalb des postsowjetischen Raumes ist Moskau militärisch nur in Syrien und Libyen offiziell aufgetreten.



Das sowjetische System von Allianzen ist fast vollständig verschwunden. Der Warschauer Pakt wurde 1991 aufgelöst und heute, rund 30 Jahre später, sind alle ehemaligen Mitglieder (außer Russland) der Europäischen Union und der NATO beigetreten. Das einst dichte Netz moskaufreundlicher Staaten hat sich, mit wenigen Ausnahmen wie Kuba und Syrien, ebenso in Luft aufgelöst. Russland verfügt über noch genau einen engen Verbündeten: Belarus. Aber selbst Minsks Loyalität beruht vor allem auf Zwängen und ­Ab­hängigkeiten.



Trotz all seiner Schwächen hat Russland es allerdings geschafft, seinen Einfluss in Europa seit 1991 grundsätzlich zu wandeln und in einigen Bereichen stark auszuweiten. Der Handel mit Energie wurde deutlich intensiviert. Russland wurde zu Europas wichtigstem Öl- und Gaslieferanten und spielt in den Energiehaushalten mittel- und osteuropäischer Staaten eine dominante Rolle.



Außerdem war das Land extrem erfolgreich darin, die Gewinne aus den Energieexporten in Mittel des (offenen wie verdeckten) politischen Einflusses über Entscheidungen in Europa – sowohl auf EU- wie auf nationaler Ebene – zu ­verwandeln.



Der ideologische Einfluss ist nicht verschwunden, hat sich allerdings fundamental gewandelt. Das heutige Russland verfügt über keine ähnlich kohärente Ideologie wie die Sowjetunion. Teile der russischen Elite haben zwar versucht, Russland als den Verteidiger konservativer Werte zu positionieren, aber ihr eigener Lebensstil raubte diesem Argument schnell jede Glaubwürdigkeit. Dennoch hat Russland versucht, das Konzept der „Russkiy Mir“, der „russischen Welt“, als Einheit aller Russischsprechenden unter der Führung Moskaus in allen Staaten der ehemaligen Sowjetunion voranzutreiben.



Statt eine einheitliche ideologische Linie gegen Europa zu vertreten, begann die russische Führung 2014 damit, durch einen perfektionierten Geheimdienst- und Propagandaapparat den Zusammenhalt des Westens zu unterminieren, bestehende Gräben zu vertiefen und neue zu schaffen. Im Rahmen dieser Strategie unterstützte Moskau praktisch alle Bewegungen und Kräfte, die sich gegen die EU, die NATO und die USA richteten – ganz gleich, welche sonstige Ideologie sie vertraten.



Russlands neue Stellung

Der Krieg in der Ukraine hat viele der Trends, die verschiedene Aspekte der Stellung Russlands als Großmacht berühren, an einen Scheideweg geführt. Was die konventionelle militärische Stärke betrifft, so zeigt die russische Armee derzeit die wohl schlechteste militärische Leistung seit den desaströsen Tschetschenien-Kriegen. Von Russland als „Blitzkrieg“ geplant, wandelte sich der Konflikt schnell zu einem langwierigen, blutigen Krieg. Der ukrainische Widerstand brach nicht nur nicht in sich zusammen, die ukrainischen Kräfte kämpften aktiv und kreativ an allen Fronten und schafften es immer wieder, zum Teil große Geländegewinne zu verbuchen. Die russischen Verluste waren hoch, sowohl an Soldaten als auch an militärischem Material, insbesondere weil die Ukraine mit modernsten Waffen ausgestattet wurde. Wenn dieser Krieg einmal zu Ende gegangen ist, wird Russland seine Armee wohl einer weiteren tiefgreifenden Reform unterziehen, um die zutage getretenen Fehlentwicklungen zu beheben.



Dieser Krieg hat Russland zudem international so weit isoliert, wie es das Land zuletzt vor einem guten Jahrhundert ­erfahren hat, als es seinen Bürgerkrieg beendete. Die UN-Abstimmung am 2. März, bei der nur fünf Länder gegen die Verurteilung des russischen Angriffskriegs stimmten (Russland, Belarus, Nordkorea, Eritrea und Syrien), ist ein klares Signal. Sogar langjährige russische Verbündete wie Kuba und Nicaragua enthielten sich, genauso wie China, auch wenn ein bedeutender Teil des Globalen Südens nicht von Moskaus Seite weichen will, siehe Indien. Peking unterstützte ­Moskau in diesem Krieg zunächst nicht aktiv, sondern nahm eine abwartende Haltung ein und analysierte die Reaktion des Westens sehr genau – insbesondere die westlichen Sanktionen.



Der beispiellose Umfang westlicher Sanktionen gegen Russland trägt aktiv zur russischen Isolation bei. Ausländisches Kapital flieht aus Russland, mehr als 100 westliche Unternehmen haben den russischen Markt bereits verlassen, und die restriktive Antwort des Moskauer Regimes verschlimmert die Lage nur noch zusätzlich. Eine jahrelange Rezession ist zu erwarten. Die Entscheidung der Europäischen Union, sich aus der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas zu lösen, wird dazu beitragen und große, strategisch wichtige Löcher in den russischen Staatshaushalt reißen. Das wird für die Stabilität der innenpolitischen Macht des Kremls nicht ohne Folgen bleiben. Zudem wird das Einfrieren russischer Vermögenswerte Russlands häufig korruptionsbasierten Einfluss in Europa noch weiter zurückdrängen.



Außerdem wird das Leid, das die russische Armee derzeit über die größtenteils russischsprachige Bevölkerung der Ost- und Südukraine bringt, den Zusammenbruch jedes „Soft Power“-Potenzials bedeuten, das Moskau unter den russischsprachigen Bevölkerungsteilen vielleicht noch hatte. Das Konzept der Russkiy Mir ist tot, auch wenn Russland es nicht zugeben will.



Nukleares Säbelrasseln

Russlands anhaltende Aggression gegen die Ukraine wird die allermeisten Elemente des russischen Großmachtpotenzials massiv schwächen. Während die nuklearen Fähigkeiten und die Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat nicht angetastet werden, wird Moskau seine energiepolitischen Druckmittel gegenüber Europa weitestgehend verlieren. Russlands internationales Ansehen liegt bereits in Trümmern, und die russische Wirtschaft wird weiter leiden.



Diese Entwicklungen werden zu einer Situation führen, in der Russland noch weniger nichtmilitärische Mittel zur Verfügung stehen, um seine Interessen durchzusetzen, als dies vor dem Februar 2022 der Fall war. Daher wird die Bedeutung des Militärs nach dem Ende des Krieges noch größer werden, auch wenn Russland grundsätzlich weniger Macht und Einfluss wird ausüben können.



Die Nutzung militärischer Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele werden wir also noch öfter sehen, was auch häufigeres nukleares Säbelrasseln beinhalten dürfte. Dieser Entwicklung muss sich ganz Europa sehr bewusst sein – vor allem aber Deutschland.     

 

Dr. András Rácz ist Associate Fellow im Sicherheits- und Verteidigungsprogramm der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

 

Aus dem Englischen von John-William Boer

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2022, S. 32-36

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