Sorgen um Pekings Atomwaffen-Arsenal
Chinas massiver nuklearer Ausbau befeuert in angespannten Zeiten ein Wettrüsten mit den USA. Transparenz und Kontrolle sind dringend vonnöten.
In den vergangenen fünf Jahren hat China die Anzahl seiner nuklearen Sprengköpfe verdoppelt und über 300 neue Silos für Interkontinentalraketen errichtet, die die USA erreichen können. Dies stellt einen radikalen Wandel der chinesischen Nuklearstreitkräfte dar und befeuert ein Wettrüsten bei strategischen Atomwaffen mit den USA. Deutschland hat ein klares Interesse daran, eine solche Entwicklung zu vermeiden – nicht zuletzt, weil dies zu Lasten der US-Ausgaben für die Verteidigung Europas gehen könnte. Daher sollte die nächste Bundesregierung sich weiter dafür einsetzen, China in Rüstungskontrollgespräche einzubinden und nach und nach Transparenzmaßnahmen zu etablieren, die von nuklearen Supermächten erwartet werden.
Über den größten Teil seiner modernen Geschichte hinweg verfolgte China – ähnlich wie Frankreich und Großbritannien – das Dispositiv einer minimalen nuklearen Abschreckung. Nach Pekings erstem Atomtest 1964 baute es sukzessive ein Nuklearpotenzial von rund 200 Sprengköpfen überwiegend für landgestützte Interkontinentalraketen auf, nach eigenen Angaben zur defensiven Abschreckung nur im Falle eines nuklearen Angriffs. Dies war begleitet von Chinas strikter „No-First-Use“-Doktrin, die einen nuklearen Ersteinsatz durch China ausschließt. Auch auf den Einsatz gegen Staaten, die selbst keine Atomwaffen besitzen, verzichtet China offiziell seit 1964.
Durch die Modernisierung der vergangenen Jahre hat sich die militärische Grundlage hinter dieser Doktrin jedoch grundlegend verändert und nähert sich tendenziell den nuklearen Supermächten USA und Russland an. Mit seiner Aufrüstung hat China einerseits die Zuverlässigkeit der eigenen Zweitschlagfähigkeit deutlich erhöht und kann andererseits flexibel über unterschiedliche Eskalationsstufen nuklear agieren. Dies nährt auch Zweifel, ob das Land dauerhaft an seiner Doktrin festhält.
Nach aktuellen Schätzungen verfügt China derzeit über etwa 600 Sprengköpfe. Prognosen von amerikanischen Geheimdiensten rechneten bisher mit einem weiteren Aufwuchs bis 2035 auf eine Zahl von 700 bis 1500. Diese Zahlen sind allerdings umstritten und setzen einen linearen Fortschritt des bisherigen Ausbaus voraus. Zum Vergleich: Die aktuellen 600 Sprengköpfe machen China inzwischen zur drittstärksten Atommacht vor Frankreich und Großbritannien mit je ca. 290 bzw. 255.
Dennoch: Auch bei einem Worst-Case-Szenario von 1500 Sprengköpfen in zehn Jahren wird China nuklear zwar den USA und Russland sehr viel näher sein, aber bei Weitem nicht gleichwertig. Schließlich verfügen wegen des kräftigen Rückbaus nach dem Kalten Krieg beide noch über jeweils etwa 1500 einsatzbereite Sprengköpfe und 800 strategische Trägersysteme, die Obergrenzen des noch bis 2026 geltenden New-START-Vertrags. Dazu kommen beträchtliche Reserven an Sprengköpfen (USA ca. 3700, Russland geschätzte 4500) sowie eine deutlich höhere Vielfalt von strategischen Trägersystemen.
China hat auch seine Trägersysteme modernisiert und verfügt seit 2023 laut Pentagon über eine glaubwürdige nukleare Triade, also see-, land- und luftgestützte Möglichkeiten, eine Atomwaffe zu starten. Nuklearbetriebene U-Boote mit ballistischen Raketen gelten allgemein als der Goldstandard für die Überlebensfähigkeit einer Nuklearstreitmacht, da sie im Ozean nahezu nicht zu entdecken sind. Auch der quantitative Ausbau der Interkontinentalraketen und ihrer Basen weit im Landesinneren erschwert einen erfolgreichen entwaffnenden Erstschlag erheblich. Auf der anderen Seite erhöhen neue offensive Trägersysteme wie das 2019 getestete Fraktionierte Orbitalbombardierungssystem (FOBS) und Hyperschallflugkörper die Möglichkeit Chinas, US-Abwehrsysteme zu überwinden. Für einen regionalen Konflikt verügt China über eine Vielzahl von nuklearfähigen Mittelstreckenraketen und Seezielflugkörpern.
Motive und Treiber
China begründet den Ausbau des eigenen Atomwaffenarsenals mit militärischen Notwendigkeiten. Russland und China beklagen die US-Dominanz bei offensiven und defensiven nichtnuklearen Systemen, welche die nukleare Zweitschlagfähigkeit untergraben würden. Tausende Tomahawks und Luft-Boden-Raketen (insbesondere JASSM-ER) der USA und ihrer Alliierten in der Region könnten aus Chinas Perspektive in einem Krisenmoment gegen eigene Abschuss- und Kontrollsysteme eingesetzt werden. Überlebende Raketen müssten dann noch die US-Raketenabwehr überwinden, die in der Region und rund um die USA selbst weiter ausgebaut werden soll. Die Sorge wird noch verstärkt durch den Ausbau militärischer Fähigkeiten in vielen chinesischen Nachbarstaaten. In Reaktion auf zunehmend aggressives territoriales Vorgehen Chinas sind immer mehr Staaten in der Region bemüht, Sicherheitsabkommen mit den USA zu schließen und modernste amerikanische Waffensysteme auf ihrem Territorium zu stationieren oder von den USA zu erwerben.
Externe Beobachter sehen dagegen die Treiber des chinesischen nuklearen Aufwuchses überwiegend auf politischer, weniger auf militärischer Seite. Das eigentliche Motiv sei das neue chinesische Selbstbewusstsein unter dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Xi Jinping und die damit verbundene geopolitische Rivalität mit den USA. Ein starkes Militär, zu dem natürlich auch Nuklearwaffen gehören, scheint für Xi essenzieller Bestandteil einer Politik, um seinen Traum von einer starken Nation und nationaler Verjüngung zu verwirklichen.
Motive für Pekings Aufrüstung sind militärische Notwendigkeiten und wachsendes Selbstbewusstsein
Schon 2016 bezeichnete er Nuklearwaffen als strategischen Pfeiler von Chinas Großmachtstatus. Das steht in krassem Gegensatz zu früheren chinesischen Zielen eines „lean and effective“ Arsenals, das mit der geringstmöglichen Zahl von Sprengköpfen einen Gegner kostengünstig abschrecken sollte.
Es könnte also vor allem darum gehen, in einem veränderten geostrategischen Umfeld Zeichen der Stärke zu setzen, um den globalen Führungsanspruch Chinas zu untermauern.
Dazu gehört auch, dass China begleitend zu seiner Aufrüstung regelmäßig Initiativen lanciert, um eigene nukleare Normen zu verbreiten und die anderen Atomwaffenstaaten ebenfalls zu einem Erstschlagverzicht zu bewegen. Mit seinem „no first use pledge“ steht China derzeit unter den Nuklearwaffenstaaten allein. China nutzt dies auch in seinem globalen Outreach gegenüber der großen Zahl von Staaten des Globalen Südens, die Drohungen mit oder den Einsatz von Atomwaffen kategorisch ablehnen.
Xi hat zudem Russland (trotz des engen Schulterschlusses seit Februar 2022) aufgefordert, von Nukleardrohungen Abstand zu nehmen und eine entsprechende G20-Erklärung in Bali 2022 mitgetragen. Auch auf die jüngste Änderung der russischen Nukleardoktrin hat China kritisch reagiert – ein Hinweis, dass die höchste Entscheidungsebene in China weiter darum bemüht ist, ihre Reputation als verantwortungsvolle Nuklearmacht zu erhalten.
Besorgnisse im US-Bündnis
Weil sich China bisher jeder Transparenz zu seinem Programm verweigert, resultieren für die USA aus dem Nuklearausbau zwei große Sorgen. Einerseits erscheint die eigene strategische Abschreckung zunehmend unzureichend, da sie bisher nur auf Russland ausgerichtet war. Andererseits wird befürchtet, dass China sich einen nuklearen Schutz verschafft, in dessen Windschatten ein konventioneller oder limitierter Nuklearkrieg um Taiwan wahrscheinlicher wird.
Die Planungen für amerikanische strategische Streitkräfte basieren unter anderem darauf, zu Beginn eines atomaren Konflikts die Nuklearwaffen des Gegners anzugreifen, dabei jedoch zivile Opfer zu begrenzen. Das gibt der Gegenseite die Möglichkeit, ähnliche Zurückhaltung zu zeigen und die Eskalation zu stoppen, bevor Bevölkerungszentren und die politische Führung angegriffen werden. Zudem würde der spätere Schaden zumindest nominell reduziert, da weniger Nuklearwaffen der Gegenseite übrigbleiben. Dies erfordert vereinfacht dargestellt einen eigenen Sprengkopf für jeden Sprengkopf des Gegners – oder beider Gegner. Basierend auf dieser Logik wird von einigen Politikern ein Ausbau von US-Nuklearwaffen gefordert, der der gemeinsamen Zahl russischer und chinesischer Sprengköpfe entspricht.
Peking war bislang stets sehr zurückhaltend, wenn es um Rüstungskontrollverhandlungen ging
Die nächste US-Regierung steht mit Russland und China zwei großen Nuklearmächten gegenüber. In den USA setzt sich die Grundannahme durch, dass beide Staaten in einer Krise koordiniert handeln könnten oder die Ablenkung der USA ausnutzen würden. Daher muss Washington entscheiden, ob es dem chinesischen Aufbau durch einen quantitativen Ausbau der eigenen strategischen Nuklearwaffen begegnen will und/oder Ziele, für die bisher Nuklearwaffen vorgesehen waren, auch durch konventionelle Raketen bedrohen kann. Gerade im Trump-nahen konservativen Lager gibt es viele Stimmen, die einen quantitativen Ausbau des strategischen US-Nukleararsenals und neue Trägersysteme für substrategische Waffen zur Unterstützung von Verbündeten fordern.
Denn an einem Taiwan-Szenario zeigt sich das Grundproblem erweiterter nuklearer Abschreckung. Wenn nukleare Parität zwischen den Supermächten besteht, ist es für eine Supermacht nicht länger rational, zur Verteidigung eines Verbündeten eine nukleare Eskalation gegen das Heimatterritorium der Gegenseite zu führen, weil dadurch das eigene Festland in Gefahr von Nuklearschlägen gerät. So entsteht eine Schwelle, an der die existenzielle Gefahr eines globalen Nuklearkriegs noch kontrolliert werden kann: keine strategischen Angriffe auf das gegnerische Festland. Unterhalb dieser Schwelle wird jedoch ein konventioneller Krieg oder ein limitierter Nukleareinsatz wahrscheinlicher.
Dadurch weckt der militärische Ausbau Chinas auch Zweifel in den USA an der Glaubwürdigkeit der chinesischen No-First-Use-Doktrin. In einem konventionellen Krieg um Taiwan könnte China substrategische Nuklearwaffen einsetzen, um einen militärischen Vorteil zu erzielen oder mit der Drohung weiterer Eskalation versuchen, eine Intervention der USA zu behindern. Einige US-Beobachter befürchten, dass China so einen Keil zwischen die USA und ihre Verbündeten in der Region treiben will. Je mehr China seine strategische Abschreckung gegen die Vereinigten Staaten ausbaut, umso stärker müssten die USA zurückhaltend auf eine Aggression Chinas reagieren und umso unglaubwürdiger macht es das amerikanische Schutzversprechen.
Herausforderungen für Trump
Die USA werden weiter konventionell und auch nuklear aufrüsten. Jedoch ist schwer abzuschätzen, welche Rüstungsprioritäten sich durchsetzen, da industrielle und finanzielle Ressourcen beschränkt sind. Die neuerliche Wahl Trumps zum US-Präsidenten schafft zusätzliche Unklarheit. Während Biden größtenteils auf eine Stärkung des konventionellen Arsenals und eine Modernisierung existierender Nuklearfähigkeiten gesetzt hat, deuten die bisherigen Kabinettsbesetzungen darauf hin, dass in Bezug auf China eher die militärischen „Falken“ das Sagen haben werden. Diese sind deutlich offener für einen nuklearen Ausbau. Trump könnte etwa den von Russland suspendierten, noch bis 2026 laufenden New-START-Vertrag aufkündigen und zusätzliche Sprengköpfe aus der Reserve auf bestehende Trägersysteme montieren lassen, um ein Zeichen der Stärke zu setzen. Ergänzend sind die Wiedereinführung von U-Boot-gestützten nuklearen Marschflugkörpern oder die Entwicklung von nuklearen Sprengköpfen für landgestützte Mittelstreckenraketen als substrategische nukleare Optionen denkbar.
Alternativ könnten ein Dialog und Rüstungskontrollverhandlungen mit China, den die Biden-Administration wiederholt angeboten hatte, das Dilemma verringern. Die Grundanforderung wäre, dass beide Länder ein besseres Verständnis der Bedrohungsperzeptionen der jeweiligen anderen Seite entwickeln und Gespräche über eine militärische Balance beginnen, die für beide Seiten akzeptabel wäre. Bereits erhöhte Transparenz (wie sie die USA schon zeigen) könnte ermöglichen, dass Rüstungsentscheidungen auf tatsächlichen Plänen und nicht basierend auf Worst-Case-Szenarien getroffen werden. So ließe sich ein offenes Wettrüsten begrenzen. Das sollte auch im Interesse Chinas liegen, das seine begrenzten Ressourcen dann für die eigene wirtschaftliche Entwicklung einsetzen könnte. Gerade im Gegensatz zu einer unilateral handelnden Trump-Regierung würde die Bereitschaft zur Rüstungskontrolle auch die globale Reputation Chinas stärken.
Geopolitische Spannungen
In der Vergangenheit hat sich China allerdings sehr zurückhaltend gegenüber einer Beteiligung an Rüstungskontrollverhandlungen gezeigt. Peking lehnt bi- oder trilaterale Rüstungskontrolle mit Russland und den USA konsequent unter Verweis auf deren viel größere Arsenale ab. Erst wenn beide stark abgerüstet hätten, wären Transparenz und Limitierungen denkbar, lautet die offizielle Sprachregelung. Angesichts der gegenwärtigen geopolitischen Rivalitäten, die eher zu einem Ausbau der Arsenale führen, ist dies derzeit kaum realistisch. Selbst Gespräche zu niedrigschwelligen Themen, etwa über Rahmenregeln für einen kooperativen Umgang beim Einsatz neuer Technologien, zur menschlichen Kontrolle bei nuklearen Entscheidungsprozessen oder Selbstverpflichtungen bezüglich militärischer Aktivitäten im Weltraum lehnt China bisher weitestgehend ab.
Offener zeigte sich China im Rahmen des regelmäßigen Dialogs zwischen den offiziellen Nuklearmächten, den P5, wo es wichtige Arbeiten auch definitorischer Art und gemeinsame Erklärungen unterstützt hat. Dort wird aber nicht über Beschränkungen verhandelt. Substanzielleren Gesprächsangeboten der Biden-Regierung zu strategischen und rüstungskontrollpolitischen Fragen hat China nach anfänglich hoffnungsvollen Ansätzen inzwischen mit Verweis auf US-Waffenverkäufe an Taiwan eine Absage erteilt. Im November 2023 hatten noch offizielle Konsultationen beider Länder zu Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung stattgefunden, gefolgt von informellen Gesprächen zwischen Experten im März 2024.
Positiv stimmt immerhin, dass seit diesem Zeitpunkt wieder militärische Kanäle zwischen den USA und China bestehen, die im Ernstfall zur Krisenkommunikation genutzt werden könnten. Auch kann mehr chinesisches Vertrauen in sein eigenes Nukleararsenal die Grundlage für mehr Transparenz bilden. Ein vorsichtiges Beispiel könnte der jüngste Test einer chinesischen Interkontinentalrakete im September 2024 sein. China wählte hier eine Flugbahn, die nicht wie bisher innerhalb der eigenen Grenzen stattfand, sondern in den Pazifik zielte. Der Test mit voller Reichweite gewährte so aber auch amerikanischen Sensoren einen besseren Einblick in das System. Der Start war zudem u.a. Frankreich und den USA gegenüber angekündigt, um Missverständnisse zu vermeiden. All das zusammen ähnelt stark der etablierten Praxis amerikanischer und russischer Raketentests, die mehrmals jährlich abgehalten werden.
Was Deutschland tun kann
Die Möglichkeiten der Bundesregierung sind begrenzt, da China vor allem auf Augenhöhe mit den USA sprechen möchte. Gefragt sind daher in erster Linie die P5, in denen China aktuell den Vorsitz hat. Deutschland sollte aber Folgendes tun – zusammen mit europäischen Partnern, insbesondere Frankreich und Großbritannien:
- Erstens darauf hinwirken, dass China im Dialog mit den USA und in den einschlägigen multilateralen Foren den Umfang und die Motive seiner Nuklearpolitik transparenter macht. Peking kann so auch helfen, Zweifel an einer Doktrin-Änderung auszuräumen.
- Zweitens im Dialog mit China betonen, dass Berlin ein eigenes Sicherheitsinteresse daran hat, dass Peking an Rüstungskontrollinitiativen teilnimmt, um einem nuklearen Wettrüsten entgegenzuwirken, das Auswirkungen auf russische und europäische Arsenale hat.
- Drittens sollte es China (mit den europäischen Partnern und den USA) an den eigenen Anspruch als „verantwortliche Nuklearmacht“ erinnern, der auch erhöhte Erwartung an Transparenz und Risikominimierung mit sich bringt.
- Viertens, im Rahmen der China-Strategie der Bundesregierung nachhaltige Expertise zur chinesischen Sicherheitspolitik bei Forschungseinrichtungen und im Auswärtigen Amt ausbauen. Wo offizielle Kontakte nicht möglich sind, sollten vorbereitende Expertentreffen unterstützt werden.
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Fünftens, vermehrt in konventionelle Sicherheit in Europa investieren und die USA aufrufen, in ihren nuklearen Reaktionen auf den Aufbau Chinas so weit wie möglich Besonnenheit und Zurückhaltung zu wahren.
Die Autoren vertreten hier ausschließlich ihre persönliche Meinung.
Internationale Politik 2, März/April 2025, S. 91-96